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ANTARKTIS, 10. APRIL 2013

Im Handumdrehen waren alle im Freien. Golitzin, Eileen und Lamont holten Klappspaten und begannen, die hüfthohen Schneeverwehungen rund um das Zelt fortzuschaufeln. Henry wollte helfen, aber Professor Albrecht hielt ihn nach kurzer Rücksprache mit Golitzin zurück. Zunächst verstand Henry nicht warum, dann wurde ihm klar, dass die beiden es aus irgendeinem Grund für besser hielten, sich zunächst persönlich davon zu überzeugen, was sich im Innern des Zelts befand.

Ein Wirbel grässlicher Befürchtungen vernebelte Henrys Gedanken. Was erwartete Golitzin zu finden? Etwas, dessen Anblick Henry schockieren könnte? Rechnete er etwa damit, sein Vater könnte …

Nein, das war absurd. Niemand ließ einen Toten einfach in einem Zelt zurück, nicht einmal in der Antarktis.

Andererseits … Was tat ein Forscherteam am Ende der Welt eigentlich, wenn es zu einem unvorhergesehenen Todesfall kam? Hackten die Mitglieder ein Loch ins Eis und verscharrten ihren Kollegen im kalten Bauch der Antarktis? Oder sammelten sie ihn auf dem Rückweg wieder ein? Wie ein Abfalldepot?

Schlagartig war sich Henry sicher, dass sein Vater tot im Innern des gelben Zeltes liegen musste. Ihm wurde schwindelig. Er spürte, wie seine Beine unter ihm nachzugeben drohten.

Da ertönte ein Ruf Golitzins. Er hatte die Eingangsschleuse des Zelts geöffnet und war eingetreten. »Alles in Ordnung. Professor, würden Sie nachkommen? Und du natürlich auch, Henry.«

Hektisch drängte sich Henry an den anderen vorbei durch die Öffnung in der Kunststoffplane.

Es handelte sich um ein Zweimannzelt, die Bauweise ähnelte der ihrer eigenen Unterkünfte. Im Innern standen zwei große graue Alucontainer, beide mit dem S-Logo der Spyker Corporation versehen. Auf dem Boden, teilweise bedeckt von einer Schneeschicht, lag ein klappbarer Rolltisch aus Stahl. Dahinter klaffte ein langer Riss in Innen- wie auch Außenplane des Zelts. Der Kunststoff hing in Fetzen. Schnee war durch die Öffnung gedrungen und bedeckte einen Großteil der Innenfläche.

»Was denken Sie?« Golitzin ließ den Lichtkegel seiner MagLite über die quadratischen Kisten gleiten.

»Eindeutig eine Hinterlassenschaft des Spyker-Teams«, erwiderte der Professor durch seinen bis unter die Nase hochgezogenen Schal. »Möglicherweise ein Materialdepot.«

»Materialdepot?« Henry stieg über den umgekippten Rolltisch und betrachtete die Container mit großen Augen.

»Wenn feststeht, dass eine Expedition auf derselben Route zurückkehren wird, kann es sinnvoll sein, Material zurückzulassen, das man auf dem nächsten Abschnitt der Reise nicht benötigt. Das spart Kraftstoff, und man gewinnt Platz an Bord seines Fahrzeugs.« Golitzin trat an die Rückseite des Zelts und betrachtete die zerfetzte Plane. »Merkwürdig. Das sieht beinahe so aus, als hätte sich ein Tier Zutritt verschafft …«

»Die Kisten sind abgeschlossen.« Henry deutete auf die Vorhängeschlösser, die an den stählernen Deckeln der Container hingen.

»Das dürfte kein Problem sein. Sag Lincoln, er soll den Bolzenschneider aus dem Hägglund holen.«

Minuten später lagen beide Schlösser zerstört am Boden. Die erste Kiste enthielt Zubehör, das zu einer ferngelenkten Kameraausrüstung gehörte: einen Stromgenerator, zwei Monitore sowie mehrere Ballen aufgerollten Übertragungskabels.

In der zweiten Kiste fand sich neben einigen zerrissenen, hoffnungslos ölverschmierten Kleidungsstücken ein mindestens hundert Meter langes, bleistiftdünnes Stahlseil. Darunter kamen eine flache Metallkassette voller Computerausdrucke und anderer Dokumente zum Vorschein, außerdem ein schwarzer IBM-Laptop, dessen Oberschale durch einen langen, gezackten Riss verunziert wurde.

Als Henry das Gerät in die Hand nahm, spürte er, wie ihm trotz der eisigen Kälte ein Hitzeschwall ins Gesicht schoss.

»Dieses ThinkPad gehört meinem Vater!«