Dass in Las Vegas das US-Open abgehalten wurde, schien im Hotel Mariposa niemanden zu kümmern. Die Roulette-, Blackjack- und Würfelspieler im Hauptsaal trugen farbenfrohe Doppelstricksachen und Hemden. Auf der anderen Seite des Casinos lag der Cof‌fee-Shop des Hotels. Am Tag vor Turnierbeginn ging Beth einen Gang zwischen Spieltischen entlang und hörte das dumpfe Klacken der Jetons und der Würfel auf dem Filz. Im Cof‌fee-Shop setzte sie sich auf einen Barhocker am Tresen und ließ den Blick über die vorwiegend leeren Sitznischen schweifen. Da sah sie einen gutaussehenden jungen Mann, allein über eine Tasse Kaffee gebeugt. Es war Townes, aus Lexington.

Sie stand auf und ging zu ihm hinüber. »Hallo«, sagte sie.

Er blickte auf und blinzelte sie fragend an. Dann sagte er: »Mensch, Harmon!«

»Darf ich mich setzen?«

»Na klar. Ich hätte dich erkennen müssen, du stehst ja auf der Liste.«

»Auf welcher Liste?«

»Der Teilnehmerliste. Ich spiele hier gar nicht, ich soll für die Chess Review berichten.« Er sah sie an. »Ich könnte auch über dich berichten. Für den Herald-Leader

»In Lexington?«

Beth wurde ganz verlegen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Alles in Las Vegas war seltsam. Auf jedem Tisch stand eine Lampe mit pinkfarbenem Lampenschirm und einem Glassockel, in dem eine violette Flüssigkeit blubberte. Die Kellnerin, die ihnen die Speisekarte reichte, trug einen schwarzen Minirock und Netzstrümpfe, hatte aber ein Gesicht wie eine Geometrielehrerin. Townes sah gut aus, strahlend, und er trug einen dunklen Pullover über einem gestreif‌ten Hemd mit offenem Kragen. Sie wählte das Mariposa Special: Pfannkuchen, Rührei und Pfefferschoten sowie Kaffee nach Belieben.

»Ich könnte in der Sonntagsausgabe eine halbe Seite über dich bringen«, sagte Townes.

Die Pfannkuchen und die Eier kamen, und Beth trank zwei Tassen Kaffee dazu.

»In meinem Zimmer habe ich einen Fotoapparat«, sagte Townes. Und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Und Schachbretter habe ich auch. Hast du Lust zu spielen?«

Sie zuckte die Schultern. »Meinetwegen. Gehen wir rauf.«

»Super!« Sein Lächeln war umwerfend.

Durch die offenen Gardinen sah man auf einen Parkplatz hinunter. Das Bett war riesig und ungemacht, es schien das ganze Zimmer einzunehmen. Drei Schachbretter waren aufgestellt: eins auf einem Tisch am Fenster, eins auf dem Schreibtisch und das dritte im Badezimmer neben dem Waschbecken. Er ließ sie am Fenster Platz nehmen und

Er drückte ein letztes Mal auf den Auslöser, dann spulte er den Film zurück. »Eins davon wird schon was werden.« Er legte den Fotoapparat auf dem Nachtkästchen ab. »So, spielen wir.«

Sie sah ihn an. »Ich weiß nicht mal, wie du mit Vornamen heißt.«

»Alle nennen mich Townes. Wahrscheinlich sage ich deswegen auch Harmon zu dir. Und nicht Elizabeth.«

Sie begann die Figuren aufzustellen. »Sag Beth.«

»Harmon ist mir eigentlich lieber.«

»Sollen wir blitzen? Du kriegst Weiß.«

Beim Blitzschach war keine Zeit für Komplexität. Er nahm seine Schachuhr vom Schreibtisch und stellte sie auf fünf Minuten ein. »Eigentlich solltest du nur drei kriegen«, sagte er.

»Bitte«, erwiderte sie, ohne ihn anzublicken. Wäre er doch nur näher gekommen und hätte sie berührt, am Arm vielleicht, oder ihr die Hand auf die Wange gelegt. Er wirkte wahnsinnig weltgewandt und lächelte so ungezwungen. Bestimmt dachte er nicht so an sie wie sie an ihn. Doch Jolene hatte gesagt: »Daran denken die alle, Schätzchen. Die denken sogar an nichts anderes.« Und sie waren allein in seinem Zimmer mit dem riesigen Bett. In Las Vegas.

***

Als Beth zurück in ihr Zimmer kam, saß Mrs. Wheatley schwermütig rauchend im Bett. »Wo warst du, Schatz?«, fragte sie, mit einem angespannten Klang in der Stimme, wie wenn sie über Mr. Wheatley redete.

»Schachspielen«, sagte Beth. »Vorbereitung.«

Auf dem Fernseher lag ein Exemplar der Chess Review. Beth schlug im Impressum nach. Unter den Redakteuren war sein Name nicht verzeichnet, aber darunter, bei »Korrespondenten«, standen drei Namen; der dritte war D.L. Townes. Seinen Vornamen wusste sie immer noch nicht.

Nach einer Weile sagte Mrs. Wheatley: »Kannst du mir mal eine Dose Bier reichen? Auf der Kommode.«

Beth stand auf. Auf einem braunen Tablett des Zimmerservice waren fünf Pabst-Dosen und eine halbvolle Tüte Kartoffelchips. »Nimm dir doch selber auch eine«, sagte Mrs. Wheatley.

Beth nahm zwei Dosen, die sich kühl und metallen anfühlten. »Okay.« Sie reichte sie Mrs. Wheatley und holte sich aus dem Bad ein sauberes Glas.

Als Beth ihr das Glas gab, sagte Mrs. Wheatley: »Ich nehme an, du hast noch nie Bier getrunken.«

»Nun ja …«, sagte Mrs. Wheatley. Es machte plopp, als sie die Lasche hochzog, dann schenkte sie gekonnt Beths Glas voll, bis es eine perfekte Schaumkrone hatte. »Da«, sagte sie, als würde sie ihr ein Medikament reichen.

Beth nippte an dem Bier. Obwohl sie nie welches getrunken hatte, schmeckte es in etwa so wie erwartet, als hätte sie schon immer gewusst, wie Bier schmecken würde. Sie versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, und trank das Glas fast zur Hälfte aus. Mrs. Wheatley beugte sich herüber und schenkte ihr den Rest ein. Beth nahm wieder einen großen Schluck. Das Bier brannte ein bisschen in der Kehle, aber dann machte sich in ihrem Magen eine Wärme breit, und Hitze stieg ihr ins Gesicht, als würde sie erröten. Als sie das Glas leertrank, sagte Mrs. Wheatley: »Meine Güte, nicht so schnell.«

»Ich möchte noch eins«, sagte Beth. Sie dachte an Townes, wie er sie angesehen hatte, als sie nach ihren Partien aufstand, um zu gehen. Er hatte gelächelt und sie an der Hand genommen. Diese kurze Berührung hatte auf ihre Wangen dieselbe Wirkung gehabt wie das Bier. Sieben Blitzpartien hatte sie gegen ihn gewonnen. Sie hielt das Glas ganz fest, und auf einmal hätte sie es am liebsten mit aller Kraft auf den Boden geworfen, wollte es in Stücke zerspringen sehen. Stattdessen holte sie sich noch eine Dose, steckte den Finger durch den Ring und zog daran.

»Das solltest du jetzt aber nicht …«, sagte Mrs. Wheatley. Beth schenkte ihr Glas voll. »Na ja«, sagte Mrs. Wheatley, »wenn du schon dabei bist, dann gib mir auch eins. Ich will nur nicht, dass dir schlecht wird …«

»Kein Bier mehr, Schatz«, sagte Mrs. Wheatley, als Beth wieder ins Zimmer kam. »Erst wieder, wenn du achtzehn bist.«

***

Der Ballsaal war für siebzig Schachspieler eingerichtet, und Beth begann an Brett neun gegen einen kleinen Mann aus Oklahoma. Sie besiegte ihn wie in einem Traum, in zwei Dutzend Zügen. Am Nachmittag zerschlug sie die Verteidigung eines ernsten jungen Mannes aus New York mit dem Königsgambit und einem Läuferopfer à la Paul Morphy.

Benny Watts war Mitte zwanzig, wirkte aber fast so jung wie Beth, auch war er kaum größer als sie. Während des Turniers sah Beth ihn immer wieder. Er fing an Brett eins an und blieb dort auch. Es hieß, er sei der beste amerikanische Spieler seit Morphy. Einmal stand Beth neben ihm am Cola-Automaten, doch sie sprachen nicht miteinander. Er unterhielt sich mit einem anderen Spieler und lachte dabei

Watts trug ein weißes Hemd, mit aufgeknöpf‌tem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln. Sein Gesicht wirkte zugleich fröhlich und durchtrieben. Mit seinen strohfarbenen Haaren sah er so uramerikanisch aus wie Huckleberry Finn, und doch hatte er einen irgendwie unehrlichen Zug um die Augen. Auch er war ein Wunderkind gewesen, was Beth nicht weniger irritierte als die Tatsache, dass er amerikanischer Meister war. In einer Partiensammlung von Watts hatte sie mal ein Remis von ihm gegen Borstmann gesehen, mit der Überschrift: »Kopenhagen 1948«. Also war er damals acht gewesen, genauso alt wie sie, als sie im Keller mit Mr. Shaibel spielte. In der Buchmitte war ein Foto von ihm mit dreizehn, wie er würdevoll vor einer langen Tischreihe stand, an der uniformierte Seekadetten an Schachbrettern saßen; in Annapolis hatte er es gegen eine dreiundzwanzigköpfige Mannschaft aufgenommen, ohne ein einziges Spiel zu verlieren.

Als sie mit ihrer leeren Cola-Flasche zurückkam, stand er noch immer am Automaten. Er sah sie an. »He«, sagte er freundlich, »du bist doch Beth Harmon.«

Sie stellte die Flasche in den Kasten. »Ja.«

»Ich habe den Artikel in Life gesehen. Die Partie darin

»Danke.«

»Ich bin Benny Watts.«

»Ich weiß.«

»Du hättest aber nicht rochieren sollen«, sagte er lächelnd.

Sie starrte ihn an. »Ich musste doch den Turm herausbringen.«

»Das hätte dich den Königsbauern kosten können.«

Sie wusste nicht, was er damit meinte. An die Partie erinnerte sie sich genau, die war sie immer wieder im Kopf durchgegangen, ohne einen Fehler zu entdecken. Konnte es sein, dass er sich die Züge in Life gemerkt und darin eine Schwäche gefunden hatte? Oder war das nur Angeberei? Sie erinnerte sich an die Stellung nach der Rochade, der König schien ihr da gut zu stehen.

»Glaube ich nicht.«

»Er spielt Läufer c4, dann musst du die Fesselung loswerden.«

»Warte mal«, sagte sie.

»Kann ich leider nicht, ich muss noch eine Hängepartie zu Ende spielen. Stell die Figuren auf und denk darüber nach. Dein Problem ist sein Damenspringer.«

Sie wurde wütend. »Die brauche ich dafür nicht aufzustellen.«

»Ist ja schon gut!«, sagte er und ging davon.

Sie blieb noch ein paar Minuten am Cola-Automaten stehen und ging die Partie durch, und auf einmal sah sie es. Nicht weit vom Automaten stand auf einem Tisch ein freies

Sie saß vor den weißen Steinen an Brett eins, als Watts hereinkam. Als er ihr die Hand schüttelte, sagte er leise: »Springer auf g5, stimmt’s?«

»Ja«, knurrte sie. Ein Blitzlicht flammte auf. Beth zog den Damenbauern auf d4.

Sie spielte gegen ihn das Damengambit und erkannte im Mittelspiel bestürzt, dass das ein Fehler gewesen war. Das Damengambit konnte zu komplizierten Stellungen führen, und diese hier war extrem kompliziert. Auf beiden Seiten stand je ein halbes Dutzend Drohungen im Raum, Beth war nervös, griff mehrmals schon fast nach einer Figur, hielt im letzten Moment inne und zog die Hand zurück, und das alles, weil sie kein Selbstvertrauen hatte. Sie traute sich nicht

Um den extrabreiten Holztisch drängten sich an die vierzig Leute. Hinter ihnen, an einem braunen Samtvorhang, prangten die Namen HARMON und WATTS. Ihrer Wut und ihrer Angst lag ein schreckliches Gefühl zugrunde, nämlich dass sie die schwächere Spielerin war – dass Benny Watts mehr über Schach wusste als sie und das Spiel besser beherrschte. Dieses Gefühl war neu für sie, und es hemmte und lähmte sie, wie nichts sie seit ihrem letzten Aufenthalt in Mrs. Deardorf‌fs Büro gehemmt und gelähmt hatte. Sie blickte auf und suchte unter den Umstehenden nach Mrs. Wheatley, doch die war nicht da. Ehe sie sich wieder dem Brett zuwandte, sah sie kurz zu Benny hinüber. Der lächelte sie gelassen an, als würde er ihr einen Drink anbieten und nicht eine kniff‌lige Schachstellung. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und die Wangen auf die geballten Fäuste und begann sich zu konzentrieren.

Nach einer Weile kam ihr ein simpler Gedanke: Ich spiele nicht gegen Benny Watts, ich spiele ganz einfach Schach. Wieder sah sie ihn an, diesmal war sein Blick auf das Brett gesenkt. Er kann erst wieder ziehen, wenn ich gezogen habe. Und auch nur mit einer Figur auf einmal. Sie sah wieder aufs Brett und stellte sich vor, wo nach einem

Mit einem Seufzer richtete sie sich auf. Als sie die Fäuste vom Gesicht nahm, schmerzten ihre Wangen, und ihre Schultern waren steif. Sie blickte auf die Uhr. Vierzig Minuten waren vergangen. Watts gähnte. Sie griff nach ihrem Springer und tat den Zug, der den ersten Abtausch auslösen würde. Er sollte harmlos wirken. Dann drückte sie energisch auf die Uhr.

Watts studierte eine halbe Minute lang das Brett, dann leitete er den Abtausch ein. Kurz zog sich Beths Bauch in Panik zusammen. Sah er etwa schon, was sie vorhatte? So schnell? Sie versuchte den Gedanken abzuschütteln und

Aber nein. Er tauschte auch die nächste Figur ab, genau nach ihrem Plan. Beinahe ungläubig sah sie ihn an. Nun war es zu spät für ihn. Er drückte auf den Knopf, und ihre Uhr ging los.

Sie zog den Bauern auf h5. Augenblicklich straffte er sich auf seinem Stuhl, fast unmerklich zwar, doch Beth sah es. Konzentriert studierte er die Stellung. Er musste schon gemerkt haben, dass er sich einen Doppelbauern einhandeln würde, doch achselzuckend tat er den gebotenen Zug. Beth spielte die Fortsetzung, und nach dem nächsten Zug hatte er den Doppelbauern am Hals, und Beths Wut und Aufregung schwanden allmählich. Jetzt spielte sie auf Sieg. Sie würde auf seine Schwäche einprügeln. So liebte sie das. Sie liebte den Angriff.

Teilnahmslos blickte Benny sie kurz an. Dann griff er nach seiner Dame und tat etwas ganz Erstaunliches. In aller Seelenruhe schlug er ihren Zentrumsbauern. Ihren gedeckten Bauern. Der die meiste Zeit über dafür gesorgt hatte, dass seine Dame nicht aus ihrer Ecke herauskam. Jetzt opferte er die Dame. Sie konnte es nicht fassen.

Sie musste die Dame nicht nehmen. Was passierte, wenn sie sie nicht nahm? Dann verlor sie den Bauern, den er gerade genommen hatte. Seine Dame würde in der Brettmitte stehen. Schlimmer noch, sie konnte auf die h-Linie rücken und Druck auf ihre Rochadestellung ausüben. Je länger sie sich das anschaute, umso schlimmer wurde es. Sie war überrumpelt worden. Sie stützte die Ellbogen auf das Brett und starrte auf die Stellung. Was sie brauchte, war eine Gegendrohung, ein Zug, der Benny aufhielt.

So einen gab es nicht. Sie analysierte die Stellung eine halbe Stunde lang und stellte dabei nur fest, dass Bennys Zug sogar noch solider war, als sie zunächst gedacht hatte.

Vielleicht kam sie durch einen Abtausch noch aus der Sache heraus, falls er überstürzt angriff. Sie zog mit ihrem Turm. Wenn er nun sofort mit der Dame hinüberrückte, gab es noch eine Chance auf einen Tausch.

Aber das ließ er bleiben und entwickelte seinen zweiten Läufer. Sie zog ihren Turm in die siebte Reihe. Jetzt erst

»Zäher Kampf«, sagte Benny. Er streckte die Hand aus, und Beth musste sich überwinden, sie zu schütteln. Es wurde geklatscht. Nicht für sie, sondern für Benny Watts.

Am Abend schmerzte es noch immer, aber etwas weniger. Mrs. Wheatley versuchte sie zu trösten. Benny und sie mussten sich Meisterschaftstitel und Preisgeld teilen und bekamen jeder einen kleineren Pokal. »Das kommt immer wieder vor«, sagte Mrs. Wheatley. »Ich habe mich erkundigt, das US-Open wird oft geteilt.«

»Ich habe überhaupt nicht gesehen, was er vorhatte«, sagte Beth und stellte sich wieder den Zug vor, in dem er mit der Dame ihren Bauern schlug. So wie man mit der Zunge an einen schmerzenden Zahn fährt.

»Du kannst nicht immer die Oberhand behalten«, sagte Mrs. Wheatley. »Niemand kann das.«

»Aber ich weiß, wie es ist, zu verlieren.«

»Das glaube ich dir«, sagte Beth so giftig, wie sie nur konnte. »Das glaube ich dir gerne.«

Mrs. Wheatley blickte sie nachdenklich an, dann sagte sie sanft: »Und du weißt es jetzt auch.«

***

In jenem Winter drehten sich in Lexington manchmal Leute auf der Straße nach ihr um. Sie war einmal Gast bei der Morning Show auf WLEX. Die Moderatorin, mit Betonfrisur und buntem Brillengestell, fragte Beth, ob sie Bridge spiele; Beth verneinte. Ob sie stolz darauf sei, amerikanische Schachmeisterin zu sein? Beth erwiderte, sie sei nicht alleinige Meisterin. Sie saß auf einem Regiestuhl im grellen Scheinwerferlicht. Über Schach wollte sie gern reden, doch diese Frau mit ihrem vorgespielten Interesse machte ihr das schwer. Schließlich fragte die Moderatorin, was sie zur Behauptung sage, dass Schach nichts als Zeitverschwendung sei. Beth blickte sie an und sagte: »Nicht mehr als Basketball.« Doch ehe sie das ausführen konnte, war das Interview schon vorbei. Sechs Minuten war Beth auf Sendung gewesen.

Der ganzseitige Artikel, den Townes über sie geschrieben hatte, erschien in der Sonntagsbeilage des Herald-Leader mit einem der Fotos, die er am Fenster des Hotelzimmers in Las Vegas aufgenommen hatte. Sie gefiel sich auf dem Bild, wie sie mit der rechten Hand nach der weißen Dame griff und dabei ernst und klug dreinschaute.

Beth ging nun auf die Highschool. Es gab dort einen Schachklub, dem sie aber nicht angehörte. Die Jungs dort konnten es kaum fassen, dass in den Schulgängen eine Schachmeisterin herumlief, und gafften ehrfürchtig, wenn sie vorbeikam. Einmal sprach ein Junge aus der zwölf‌ten Klasse sie an und fragte aufgeregt, ob sie nicht im Schachklub einmal eine Simultanpartie spielen wolle, gegen dreißig Schüler. Ihr fiel wieder die Highschool in der Nähe des Methuen-Heims ein, und wie man sie nach der Simultanpartie angestarrt hatte. »Tut mir leid, ich habe keine Zeit«, sagte sie. Der Junge war unattraktiv und irgendwie gruselig, und nur schon nach ein paar Worten mit ihm fühlte sie sich selbst unattraktiv und gruselig.

Sie machte jeden Abend eine Stunde Hausaufgaben und hatte überall Bestnoten. Doch das war ihr nicht wichtig. Im Mittelpunkt ihres Lebens standen die fünf, sechs Stunden, in denen sie sich mit Schach beschäftigte. An der Universität durf‌te sie als Gaststudentin einen Russischkurs besuchen, der einmal die Woche stattfand. Das war der einzige Unterricht, der ihr wirklich etwas bedeutete.