Kapitel 7

R ussische Truppen in Tallinn. Riga unter Artilleriebeschuss. Warschau in Flammen. Panzerbrigaden, die in die Suwalki-Lücke vorstießen. Piloten, die versuchten, ihre Maschinen in die Luft zu kriegen, bevor sie von Marschflugkörpern zerstört wurden. NATO-Stellungen, die von Massen und Massen an Infanterie überrannt wurden. Generalmobilmachung in allen europäischen Ländern, die USA auf DEFCON 1. Bilder, kaum auszuhalten. Was in diesen Sekunden geschah, war ein Fanal. Eine Katastrophe.

Der Weltenbrand.

Keyes war unfähig, ihre Augen vom Tablet zu lösen, das sie in ihren zitternden Händen hielt. Gebannt, fasziniert, erschüttert und verstört starrte sie auf den entfesselten Schrecken, auf Realität gewordene Albträume. Was hier geschah, war kein bloßer Krieg. Nein, es war der Auftakt des Dritten Weltkriegs. Das nächste und vermutlich letzte große Schlachten der Menschheit. Der Krieg, auf den kein Krieg mehr folgen würde. Auf den keiner folgen konnte. Oder, um mit Einstein zu sprechen, einer, den man mit Keulen führen würde.

»Wo sind unsere Jungs?«, hauchte sie so leise, dass sie ihre eigenen Worte durch das Dröhnen des Hubschraubermotors hindurch kaum hören konnte. »Wo … Wo …«

Sie hielt inne. Die Worte verließen sie. Plötzlich war da nichts mehr in ihr. Keine Angst, keine Furcht, kein Entsetzen. Nur noch nackte, grenzenlose Fassungslosigkeit. Wie konnte das sein? Wie konnte das nur geschehen? Wieso hatte das niemand kommen sehen? Verdammt, wo waren ihre Leute? Wo waren die schnellen Eingreiftruppen der NATO?

Hilfesuchend sah sie zur Seite, sah zu Jackson, der neben ihr saß und mit ausdruckslosem Blick vor sich hin starrte. Doch entweder wollte er sie nicht bemerken oder aber er war nicht mehr dazu in der Lage. So oder so reagierte er nicht auf sie, auch dann nicht, als sie die Hand nach ihm ausstreckte und ihn an der Schulter berührte.

Vor weniger als einer Stunde erst hatte man sie über die Ereignisse in Europa informiert und ihnen den sofortigen Abbruch ihrer Mission und die Rückkehr in ihre jeweiligen Basen befohlen. Das Op-Com hatte sogar einen Hubschrauber geschickt, um sie aufzusammeln. Aktuell brauchte man jeden verfügbaren Agent auf Position und nicht im Hinterland Amerikas auf der Jagd nach irgendwelchen Artefaktsammlern. Zumindest war das Keyes’ Schlussfolgerung. Genauere Informationen besaß sie nicht.

Sie seufzte leise, legte das Tablet beiseite und sah zu der kreidebleichen jungen Frau, die mit Handschellen gefesselt ihr gegenübersaß. Anne Bloom. Kurz bevor man sie zurückbeordert hatte, hatten sie sie bei der Teton Range aufgesammelt. Eine Prospektorin, aber trotzdem nur der Trostpreis. Mit Hilfe der Highway-Überwachung waren sie in der Lage gewesen, Hargraves bis zu der Gebirgskette in den Rocky Mountains zu folgen, doch als sie dort angekommen waren, hatten sie nicht ihn, sondern die Frau gefunden. Polizisten waren gerade dabei gewesen, sie zu befragen. Anscheinend hatten sie Hargraves um weniger als eine Stunde verpasst. Sie waren so unfassbar kurz davor gewesen, ihn zu schnappen. Und jetzt mussten sie sich zurückziehen. Mit nichts in den Händen außer Bloom.

Zusammengesunken saß die junge Frau da, ein Häufchen Elend, ein Schatten von einem Menschen. Sie knetete ihre Hände, ruhelos und hektisch, schnappte immer wieder nach Luft und sah sich um, als hoffte sie, etwas zu erblicken, das alles rückgängig machte.

Keyes konnte sie nur zu gut verstehen.

»ETA 20 Minuten!«, rauschte auf einmal die Stimme des Hubschrauberpiloten durch ihren Helm. »Agent Keyes, ich setze Sie bei der Schriever Space Force Base ab. Das SPACECOM erbittet Ihre Anwesenheit!«

»Verstanden«, antwortete sie tonlos. »Was ist mit Jackson und Bloom?«

»Ich gehe zurück nach Chantilly«, antwortete Jackson an seiner statt. »Das NRO hat mich ins Hauptquartier zurückbeordert.«

»Also ist die Taskforce jetzt Geschichte?! Das war alles umsonst? Verdammt, wir waren so kurz davor, Hargraves zu schnappen!«

»Keyes, ich kann dir nur sagen, was mir gesagt wurde.«

Sie schwieg.

»Was ist mit Bloom?«, wiederholte Jackson ihre Frage an den Piloten gewandt.

»Dazu habe ich keine Informationen.«

»Gottverdammt.« Jackson seufzte und griff nach seinem Handy. »Wahrscheinlich ist das im Informationsgewirr untergegangen. Ich kümmere mich darum.«

Keyes nickte, antwortete jedoch nichts. Mit einem Mal fühlte sie sich, als würde sich ihre Kehle zuschnüren. Nein, nicht nur ihre Kehle. Ihre gesamte Brust. Ihr Herz raste, sie konnte kaum atmen. Ihr gesamter Leib begann zu zittern und wäre sie nicht schon längst gesessen, hätte sie keine Sekunde länger stehen können. Ausbildung, ihre Disziplin und Erfahrung – weg. Nichtig. Vernichtet. Nutzlos und lächerlich. Was spielte das alles schon für eine Rolle im Angesicht eines solch entfesselten Wahnsinns?

»Im Pazifik sieht es übrigens nicht besser aus«, sagte Jackson einige Zeit später, während er noch immer auf seinem Handy tippte. Mit seiner freien Hand zog er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jacke und hielt sie ihr hin. »Hier.«

»Ich rauche nicht.«

»Jetzt nimm schon. Es beruhigt die Nerven.«

Keyes schluckte schwer, zog eine Zigarette hervor und nahm das Feuerzeug aus seiner Hand. »Danke.«

»Keine Ursache.«

»Was passiert im Pazifik?«

»China hat mit der Invasion von Taiwan begonnen und gleichzeitig einen massiven Erstschlag gegen die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte geführt. Der Kontakt zu unseren Truppen in Japan ist abgebrochen. Nordkorea hat die demilitarisierte Zone überschritten, allerdings hat sich die Offensive knapp drei Kilometer hinter der demilitarisierten Zone festgefahren.«

»Wann?«, flüsterte Keyes. »Wann zum Teufel ist das alles passiert? Wie konnte das nur so schnell eskalieren?!«

»Während wir Hargraves gesucht haben, nehme ich an«, murmelte er und nickte zu der nach wie vor in ihrem Sitz zusammengekauerten Frau. »Ich habe das letzte Mal mit dem Operation Command gesprochen, als wir auf dem Weg zur Teton Range getankt haben. Seither sind ein paar Stunden vergangen.«

»Weißt du schon was?«, fragte sie und deutete auf sein Handy, während die Zigarette in ihrer Hand vor sich hin glomm. Sie hatte nicht vor, sie zu rauchen.

»Das NRO will Bloom schon einmal nicht, so viel ist sicher«, brummte er. »Und bei der Taskforce erreiche ich niemanden. Vermutlich wurden alle abgezogen und zu ihren Behörden zurückbeordert. Verdammt, wenn ich wenigstens persönlich mit jemandem reden könnte, aber das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sämtliche Leitungen sind dicht und die wenigen, die noch offen sind, werden wegen DEFCON 1 nicht mehr abgenommen. Die Maschinerie muss jetzt funktionieren. Die Taskforce hat keinen Platz darin.«

»Wenn du nichts hast, nehme ich sie vorerst mit zur Schriever Base«, sagte Keyes. »Ich habe einen direkten Draht nach Langley. Früher oder später kann ich sicher herausfinden, was mit ihr geschieht. Und es ist besser, als sie den ganzen Weg zur Ostküste zu fliegen.«

»In Ordnung. Keyes?«

»Ja?«

Jackson nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, bevor er sie an einem Metallbügel neben sich ausdrückte. »Denkst du, das ist Zufall?«

»Was?«

»Denkst du, das ist Zufall?«, wiederholte er. »Dass das ausgerechnet jetzt passiert? Dass dieses außerirdische Schiff auftaucht und nur wenige Wochen später schlagen die Russen und Chinesen in einer koordinierten Aktion gegen den Rest der Welt los?«

Keyes starrte ihn an. »Weißt du mehr als ich?«

»Nein, weiß ich nicht. Ich frage dich nach deiner Meinung. Als Analystin solltest du wissen, dass das kaum ein Zufall sein kann. Gerade jetzt muss die Menschheit zusammenstehen. Wenn sich Russland und China also befähigt sehen, gegen die NATO und Asien loszuschlagen, muss es einen verdammt guten Grund geben, und …«

»Und das kann nur bedeuten, dass sie einen Vorteil besitzen, der in ihren Augen die Risiken aufwiegt«, vervollständigte sie seinen Satz. »Dass sie etwas wissen, das wir nicht wissen.«

»Oder dass sie etwas haben, das wir nicht haben.«

»Die Artefakte«, murmelte Bloom auf einmal. »Russland und China sind riesig. Stellen Sie sich vor, wie viele Artefakte sie gefunden haben müssen.«

»Die Artefakte können nicht militärisch eingesetzt werden!«, erwiderte Jackson. »Sie …«

»Sind Sie sich sicher?«, unterbrach sie ihn und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Wer sagt, dass die Russen keinen Weg gefunden haben?«

»Bloom«, knurrte Keyes und drehte sich zu ihr um. »Wissen Sie etwas, das wir nicht wissen?«

»Nein«, flüsterte sie und sah zu Boden, offensichtlich überrascht davon, dass sie gerade den Mut gefunden hatte, etwas zu sagen. »Nein, das weiß ich nicht. Tut mir leid. Ich bin wieder still.«

»Reden Sie ruhig.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kaum, was hier passiert. Ich wollte das alles nie! Gott, Sie müssen mir glauben! Ich wurde erpresst und …«

»Ganz ruhig«, beschwichtigte sie Keyes. »Wir sind nicht Ihre Feinde und können Ihnen vielleicht helfen. Wichtig ist, dass Sie mit uns reden. Die Cops bei der Teton Range sagten, Sie haben sich freiwillig gestellt?«

»Ich bin vor ein paar Tagen beim Wandern auf ein Artefakt gestoßen«, antwortete Bloom tonlos. »Ich habe es aufgehoben und mitgenommen und …«

»Sie haben es berührt?«

»Ja.«

»Mit bloßen Händen?!«

»Ja.« Mit einem Mal weiteten sich ihre Augen. »War das schlimm?«

»Nein, ich denke nicht. Verzeihen Sie, ich war nur überrascht. Fahren Sie fort. Was ist geschehen?«

»Ich habe versucht, übers Internet herauszufinden, was es ist. Eine Stunde später standen zwei Männer vor meiner Tür. Sie haben mir gesagt, dass ich das Artefakt nicht haben darf. Dass es gefährlich ist. Und dass sie mich ans FBI melden, wenn ich nicht tue, was sie sagen. Dann hat mich eine Frau angerufen. Jennifer Deer.«

»Unsere Hehlerin«, knurrte Jackson. »Was ist dann passiert?«

»Sie hat gesagt, ich soll zur Teton Range fahren und dort auf einen Nick Hargraves warten. Das ist knapp eine Stunde Fahrt von meinem Zuhause aus. Deer hat mir gesagt, was ich sagen soll, und … ich … ich …«

Sie brach in Tränen aus.

»Jackson, haben wir die Möglichkeit, jemanden zu ihrem Haus zu schicken?«, fragte Keyes. »Vielleicht gibt es Spuren.«

»Ich bezweifle es, aber ich sehe, was ich tun kann.«

»Bloom?«, fragte Keyes und streckte die Hand nach ihr aus. »Bloom, hören Sie mich? Wie kommen Sie darauf, dass diese Artefakte militärisch eingesetzt werden können? Haben Hargraves oder Deer etwas in der Hinsicht gesagt?«

»Warum sonst sollte man so viel Geld dafür bezahlen?«, erwiderte Bloom bitter. »Gott, Menschen sind dafür gestorben! Und als ich auf Hargraves gewartet habe …«

Sie hielt inne.

»Was?!«, verlangte Keyes sofort zu wissen. »Was ist geschehen?!«

»Da war ein violetter Schimmer in der Luft«, flüsterte sie. »Überall. Und es hat ganz komisch gerochen. Dann ist Hargraves zurückgekommen. Mit dem Artefakt. Tut mir leid. Ich habe nur laut nachgedacht.«

Keyes öffnete schon den Mund, um weiter nachzuhaken, schloss ihn dann jedoch sofort wieder. Aus Bloom würde sie nicht mehr herausbekommen, das war ihr klar. Aber sie hatte ohnehin schon mehr als genug gesagt: Die Artefakte waren die einzige Erklärung für die russische Aggression; sie waren alles, was die heutige Welt von der unterschied, die bis vor ein paar Wochen existiert hatte. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass niemand etwas über diejenigen wusste, die die Artefakte von den Hehlern kauften – und wofür sie sie einsetzten. Sicher, Sammler waren eine Erklärung, aber womöglich kauften auch russische Agenten alles auf, was sie in die Finger bekamen?

Leise fluchend strich sich Keyes übers Gesicht und massierte sich die Schläfen. Ihr war vollkommen bewusst, wie miserabel ihre eigene Aufklärung funktionierte, schließlich gab es einen guten Grund, warum sich die Taskforce darauf konzentrierte, die Prospektoren und Hehler ausfindig zu machen, und nicht darauf, die Artefakte einfach vor ihnen zu finden. Bislang hatte sie das jedoch mit schlichter Überforderung durch Masse und mangelnde Ressourcen erklärt. Was aber, wenn sie sich darin getäuscht hatte? Wenn NORAD die Artefakte schlicht und ergreifend gar nicht ausfindig machen konnte?

»Jackson?«, fragte sie schließlich und sah zur Seite. »Ich brauche Input. Wissen wir etwas über dieses … Schimmern und den Geruch?«

»Nein«, knurrte er. »Wir wissen nichts. NORAD bemerkt bestenfalls ein Flimmern, wenn eines dieser Gewitter auftritt, und nein, das NRO weiß auch nicht mehr. Das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Keyes schwieg. Jackson hatte gerade mehr gesagt, als ihm vermutlich selbst bewusst war. NORAD, die Luft- und Weltraumüberwachung nicht nur über den USA, sondern über ganz Nordamerika und den angrenzenden Meeresgebieten, galt als die beste der Welt. Man konnte ohne Sarkasmus behaupten, dass sie in der Lage war, einen Spatz zu verfolgen, der in einen geschlossenen Luftraum eindrang. Und das bedeutete, dass auch ein Objekt von der Größe eines Artefakts von den zuständigen Stellen hätte bemerkt werden müssen. Selbst Interferenzen in der Abtastung durch Gewitter oder Stürme konnten das bestenfalls teilweise relativieren.

Was also, wenn NORAD gar nicht in der Lage war, sie zu bemerken? Wenn das Schimmern und der Geruch in der Luft keine Begleiterscheinungen des Auftauchens der Artefakte war, sondern genau der Mechanismus, der sie überhaupt erst erscheinen ließ? Eine Art Materialisierung aus Gas oder einer anderen Substanz, eine Zusammensetzung erst vor Ort?

Was aber bedeutete das? Wenn sich die Artefakte tatsächlich erst auf der Erde materialisierten? Es wäre auf jeden Fall ein Kinderspiel gewesen, ein wie auch immer geartetes Gas durch die Luftraumüberwachung nicht nur der USA, sondern auch jeder anderen Nation zu schleusen. Kein System des Planeten war in der Lage, das zu bemerken. Aber wie gelang es den Außerirdischen, es so zielgerichtet an einen Punkt zu bringen? Reicherten sie die Atmosphäre womöglich damit an und dieses Materialisieren geschah anschließend als eine Art natürlicher Vorgang? Wahrscheinlich nicht. Dafür tauchten sie zu regelmäßig auf. Es musste eine technische Erklärung geben, die sich ihrem Horizont entzog.

Keyes seufzte leise, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ihr Horizont. Bisher hatte sie stets geglaubt, besonders aufgeschlossen und weitsichtig zu sein, besonders scharfsinnig. Aber das war sie nicht. Was gerade geschah, überforderte sie. Es sprengte ihren Horizont. Die Fragen türmten sich in ihrem Kopf, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, sie zu beantworten. Der Grund dafür war denkbar simpel: Ihr fehlte ein Vergleichspunkt; ein Ansatz, der eine Interpretation ermöglicht hätte. Die Fremdartigkeit des Schiffs und aller Aktionen, die es unternahm, führten ihr diese Hilflosigkeit gnadenlos vor Augen.

Russland musste es gelungen sein, das Nichtwissen zu überwinden, diese Schranke der Interpretation, diese eine riesige Hürde. Nur wie? Hatten sie es tatsächlich geschafft, schnellere und bessere Erkenntnisse zu erlangen als die kombinierten Kräfte der Vereinigten Staaten? Offensichtlich, andernfalls hätten sie kaum diesen wahnwitzigen Krieg vom Zaun gebrochen. Die Frage war nun, ob ihre Erkenntnisse offensiver oder defensiver Natur waren, oder anders ausgedrückt: Nutzten sie die Alien-Artefakte, um die westliche Welt anzugreifen, oder waren sie ihretwegen in der Lage, mögliche Gegenschläge oder gar nukleare Optionen zu verhindern? Beide Optionen waren in ihren Folgen gleichermaßen verheerend.

*****

Noch nie zuvor hatte Keyes eine amerikanische Militärbasis im Alarmzustand gesehen. Die letzte DEFCON -Stufe außerhalb der Friedenszeit war nach 9/11 ausgerufen worden. Seither hatten sich sämtliche Streitkräfte der Vereinigten Staaten durchgehend auf DEFCON 5 oder 4 befunden; selbst die russische Invasion der Ukraine letztes Jahr und die damit einhergehenden Drohungen eines Atomschlags hatten daran nichts geändert.

Und jetzt plötzlich befand sich das ganze Land auf DEFCON 1 .

Die Schriever Space Force Base besaß zwar nur sehr eingeschränkte operative Kapazitäten, da ihr in erster Linie eine strategische Rolle zufiel, doch nichtsdestotrotz glich das gesamte Areal einem Wespennest, als der Hubschrauber zur Landung ansetzte. Voll bewaffnete und ausgerüstete Soldaten patrouillierten auf dem Gelände, Lastwagen voller Material standen an jeder Ecke und immer wieder starteten und landeten Transporthubschrauber.

Als der Helikopter schließlich auf dem Boden aufsetzte und sich Keyes mit ein paar wenigen Worten von Jackson verabschiedete, überkam sie ein mulmiges und geradezu surreales Gefühl. Ein Teil von ihr wollte schlichtweg nicht wahrhaben, was hier geschah, konnte nicht fassen, dass sie das erlebte. Natürlich war ihr als Agentin der CIA stets bewusst gewesen, wie groß die Gefahren waren, denen sich die USA jederzeit gegenübersahen, aber trotzdem hätte sie sich nie vorstellen können, dass es zu einem solchen Szenario kam. Zu einem Krieg, wie man ihn vor dem Kollaps der UdSSR konzipiert hatte.

Aber er war gekommen. Der Krieg war hier.

Wie? Wie um alles in der Welt konnten Russland und China nur so unfassbar dumm sein? Nicht nur wegen des Schiffs im Orbit der Erde, dem sich nur eine vereinte Menschheit stellen konnte, sondern auch wegen der simplen strategischen Ausgangslage. Die beiden Nationen mochten zwar über Massen an Gerät und Infanterie verfügen, aber ihre Waffen waren veraltet und vollkommen chancenlos gegen das, was die NATO ins Feld führte – ganz davon abgesehen, dass jederzeit die nukleare Option auf dem Tisch lag. Und selbst die wahnsinnigsten Feldherren konnten keinen Atomkrieg wollen.

»Agent Keyes?«

Plötzlich Colonel Roberts Stimme unmittelbar vor ihr. Keyes zuckte zusammen, als sie so unvermittelt aus ihren Gedanken gerissen wurde. Sie hatte gerade den Eingang zu jenem Gebäude erreicht, in dem sich ihr Büro befand, konnte sich jedoch nicht entsinnen, bewusst hergekommen zu sein. Vielmehr hatten sie ihre Beine unbewusst hierhergetragen, während sie tief in ihren Überlegungen versunken war.

»Colonel?«

»Wer ist diese Frau?« Der Colonel fixierte Bloom, deren rechte Hand mit Handschellen an Keyes’ linke gefesselt war, mit undefinierbarem Blick. »Man hat mir angekündigt, dass nur Sie zurückkommen.«

»Das ist Anne Bloom«, antwortete sie. »Colonel, ich …«

»Man hat mich umfassend informiert«, unterbrach er sie. »Über die Artefakte, die Taskforce und Ihren Einsatz in Rumänien. Sie können frei sprechen.«

»Bloom ist eine Zeugin«, erklärte sie. »Wir waren auf der Suche nach einem Mann namens Nick Hargraves. Er ist ein Prospektor; das bedeutet, er sucht nach Alien-Artefakten. Wir wollten ihn bei der Teton Range festnehmen, sind aber nur auf Bloom getroffen. Stand jetzt gehen wir davon aus, dass sie von Hargraves’ Hehlerin gezwungen wurde, ihn abzufangen und einzuschüchtern. Leider kam der Befehl zum Abbruch unserer Mission, bevor wir mehr in Erfahrung bringen konnten. Und da uns das Operation Command keine Instruktionen gegeben hat, wie mit ihr zu verfahren ist, habe ich sie mitgebracht.«

»Ich verstehe.« Roberts winkte zwei bewaffnete Soldaten her. »Bloom steht vorerst unter Arrest. Bringen Sie sie …«

»Colonel«, unterbrach ihn Keyes. »Ich denke nicht, dass das nötig ist. Bloom könnte eine wichtige Zeugin sein – und unsere beste Chance, die Hehlerin aufzuspüren. Überstellen Sie sie wenigstens an die zuständige Behörde, bevor sie hier sinnlos festgehalten wird!«

»Das sind wir.«

»Was?!«

»Wir sind die zuständige Behörde, Agent Keyes.« Der Anflug eines Lächelns zuckte über Colonel Roberts Mundwinkel, doch sie konnte nicht sagen, ob es ehrlich gemeint war oder nicht vielmehr ein Ausdruck seiner Verzweiflung angesichts der titanischen Natur dieser Situation. »Die Zuständigkeiten und Befugnisse, die die jüngst gegründete Taskforce besessen hat, sind vorerst auf diese Basis und die hier stationierten Einheiten übergegangen. Unser orbital-strategisches Konzept wird durch Ressourcen von NORAD und NASA unterstützt – was nicht zuletzt Sie in eine Schlüsselrolle versetzt, Agent Keyes.«

»Ich verstehe.«

»Sind Sie sich sicher?« Er lachte bitter. »Dann sind Sie schon mal weiter als ich. Jedenfalls – Bloom wird vorerst auf der Basis untergebracht und …«

»Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten!«, wimmerte Bloom plötzlich und warf dem Colonel einen verzweifelten Blick zu. »Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun! Bitte, Sie müssen mir …«

»Ihr Einspruch wird vermerkt, Miss Bloom«, unterbrach sie Roberts kühl. »Sehen Sie diese Umstände als Zeichen unseres guten Willens. Meine Männer werden Sie in Sicherheit eskortieren und vor dem unberechtigten Zugriff der CIA und anderer Behörden beschützen, bis wir Sie ausführlich befragt haben und an Agents des FBI überstellen.«

Mit diesen Worten nickte er den beiden Soldaten zu, die Bloom augenblicklich an den Armen packten, während Keyes die Handschellen löste. Im Stechschritt zerrten sie sie mit sich ins Gebäude.

»Keyes«, sagte Roberts nun mit leiser Stimme und bedeutete ihr mit einer kurzen Handbewegung, ihm zu folgen. Allerdings führte er sie nicht zu seinem Büro oder in einen Besprechungsraum, sondern in Richtung jener Freifläche, auf der gerade eben der Helikopter gelandet war. »Es gibt etwas, das Sie wissen sollten.«

»Und was?«

»Unser Atomwaffenarsenal ist funktionsunfähig.«

»Was?!«

»Kein einziger unserer taktischen oder strategischen Sprengköpfe ist einsatzbereit«, fuhr er fort. »Weder raketengestützte Waffen noch klassische Bomben. Totalausfall bei sämtlichen Systemen.«

»Das …«, setzte Keyes an, hielt dann jedoch sofort wieder inne. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.

»Unsere Kernkraftwerke hingegen sind weiterhin funktionstüchtig.« Roberts räusperte sich. »Und zwar auf voller Leistung. Wir gehen davon aus, dass das der Grund für den Überfall Russlands auf Europa und den Angriff Chinas auf Taiwan darstellt. Sie müssen keinen atomaren Gegenschlag fürchten.«

»Sie denken, dass es ihnen gelungen ist, die Artefakte zu nutzen, um unsere Atomstreitkräfte außer Gefecht zu setzen?«

»Nein.« Der Colonel blieb stehen. »Nein, das glauben wir nicht. Vielmehr sind wir davon überzeugt, dass das außerirdische Schiff der Grund dafür ist.«

»Das würde dann aber bedeuten, dass die Atomwaffen von Russland und China ebenfalls nicht mehr funktionieren.«

»Exakt. Das deckt sich mit unseren bisherigen Geheimdienstinformationen. Ihre Atomstreitkräfte wurden zwar offiziell in Alarmbereitschaft versetzt, aber Aktivitäten, die auf einen Einsatz oder auch nur ein Vorbereiten der Waffen hindeuten, lassen sich nicht feststellen. Sämtliche Angriffe, die bisher auf NATO-Gebiet verzeichnet wurden, sind konventioneller Natur.«

»Sie denken, sie können uns überraschen und überwältigen«, flüsterte Keyes mehr zu sich als zu ihm. »Wir besitzen aktuell kein ausreichendes Drohpotenzial, um unsere Verbündeten in Europa zu schützen. Bis unsere Streitkräfte in Position sind …«

»Unser optimistischstes Szenario geht aktuell davon aus, dass es uns gelingt, Russland vor Berlin zu stoppen. Die baltischen Staaten und vor allem Polen leisten zwar erbitterten Widerstand, aber aktuell können sie uns nur Zeit erkaufen. Frankreich, Großbritannien und Deutschland stellen die zweite Verteidigungslinie an der Oder. Sie werden vorerst die Hauptlast der Kämpfe schultern. Die Russen liegen vermutlich im Atlantik mit U-Booten auf der Lauer. Wir rechnen mit einem Verlust von bis zu 40 Prozent unserer Streitkräfte, die wir auf dem Seeweg verlegen.«

»Colonel.« Keyes holte tief Luft. »Warum erzählen Sie mir das alles? Ich bin kein Militär.«

»Ich möchte, dass Sie die Wichtigkeit der Mission verstehen, auf die wir Sie schicken.«

Sie schwieg.

»Lassen Sie mich ehrlich sein«, fuhr Roberts fort. Seine Stimme war so leise, dass es ihr kaum gelang, die Geräuschkulisse der Basis zu übertönen. »Niemand hat mit einer solchen Entwicklung gerechnet. Wir haben den Großteil unserer Truppen in Europa verloren. Bis wir in der Lage sind, wirkungsvolle Gegenschläge durchzuführen, werden wir weite Teile des Kontinents verlieren – und die Gebiete, die wir halten, werden uns immensen Blutzoll abverlangen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es keine Hinweise auf diese Offensive gab oder sie nicht ernstgenommen worden sind, aber …«

»Meine Mission, Colonel«, unterbrach ihn Keyes tonlos. »Wie lautet sie?«

»Wir schicken Sie nach Russland.«

»Und was soll ich dort tun?«

Roberts sah zu Boden.

»Colonel?«

»Sie müssen herausfinden, was die Russen wissen – über die Artefakte, das Schiff, egal was.«

»Das ist nicht sehr präzise.«

»Das ist mir bewusst.« Er sah wieder auf. »Mir gefällt die Sache auch nicht, glauben Sie mir. Leider sind unsere Ressourcen durch die Lage in Europa und im Pazifikraum eng begrenzt. Für den Moment rangiert das fremde Schiff bei den potenziellen Bedrohungen für die USA auf einem der hinteren Plätze. Russland und China haben absoluten Vorrang. Uns stehen zwar die Ressourcen von NORAD und NASA zur Verfügung, aber Sie wissen selbst, dass das nur Tropfen auf dem heißen Stein sind. Damit werden wir nicht mehr herausfinden als bisher. Fakt ist, dass diese Artefakte auftauchen und das Schiff die Atomwaffen des Planeten lahmgelegt hat. Wir müssen wissen, wie und wieso – und warum zum Teufel die Russen das als Anlass für einen Angriff sehen. Dafür brauchen wir Kapazitäten am Boden; wir müssen die Initiative zurückerlangen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu noch so einer … Überraschung kommt. Andernfalls bleiben die Russen im Vorteil.«

»Bei allem Respekt, Colonel, aber das sind sehr vage Anweisungen«, erwiderte Keyes nur. »Wäre das nicht die Zuständigkeit der Militärgeheimdienste?«

»Die Militärgeheimdienste arbeiten im Rahmen ihrer Möglichkeiten.«

»Wunderbar.« Keyes schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ganz wunderbar! Colonel, darf ich frei sprechen?«

»Natürlich.«

»Das ist Wahnsinn.« Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu schreien. »Roberts, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber wie stellen Sie sich das vor? Ich komme zwar aus dem Außendienst der CIA, aber ich bin keine Filmheldin! Ich kann nicht einfach über Russland aus einem Transportflugzeug springen und irgendwelche Geheimlabore infiltrieren, selbst wenn ich wüsste, dass es sie gibt! Jedem Außeneinsatz gehen Monate und oft genug Jahre der Planung voraus! Wir müssen Informationen sammeln, Kontakte aufbauen, ein Netzwerk herstellen! Ich brauche Safehouses, Notfallpläne und so weiter! Gottverdammt, selbst in Friedenszeiten wäre das eine unglaubliche Herausforderung! Wissen Sie eigentlich, wie paranoid die Russen sind? In jedem Provinzkaff rennen ein paar Jungs rum, die früher mal beim KGB waren und nur zu gerne jeden Amerikaner an die Wand stellen!«

»Sind Sie fertig?«

Keyes atmete tief durch und nickte. »Ja.«

»Wir nutzen die Kontakte, die Sie bereits etabliert haben.« Roberts versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, doch es gelang ihm nicht. »Pavel Morosow stellt uns einen Kontaktmann zur Verfügung.«

»Morosow?«, wiederholte sie. »Ich habe ihn ein einziges Mal getroffen und das für kaum mehr als ein paar Minuten! Das ist kein Netzwerk!«

»Es muss genügen.«

»Sie gehen ja auch nicht da raus«, schnaubte Keyes. »Ich würde das auch sagen, müsste ich keine Angst davor haben, dass man mich in irgendeinem SWR-Keller bei lebendigem Leib häutet.«

»Wir haben Morosow bereits kontaktiert und …«

»Weil er sich mit Geheimdienstarbeit so gut auskennt?«

»Sparen Sie sich den Sarkasmus, Keyes!«, bellte Roberts plötzlich mit einer derartigen Wut in der Stimme, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. »Verdammt, mir gefällt das ja auch nicht! Denken Sie allen Ernstes, ich schicke Sie gerne in den Schlund der Hölle?! Sie sind eine ausgezeichnete Analystin und ich würde eine Hand für eine Alternative geben, aber es gibt keine! Ich … Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht anschreien. In Ihrem Büro finden Sie ein ausführliches Einsatzbriefing. Wegtreten.«

Mit diesen Worten wirbelte er herum und marschierte in Richtung einiger Soldaten in der Nähe, die gerade dabei waren, ein paar größere Maschinen aus einem Laster zu entladen. Keyes starrte ihm mit ungläubig offen stehendem Mund nach, unfähig, etwas zu sagen oder auf andere Weise zu reagieren. Das konnte – durfte – nicht sein Ernst sein.

Oder?

Sie wusste nicht, wie lange sie einfach nur dastand und versuchte, die Fassung zurückzuerlangen, doch schließlich machte sie sich tatsächlich auf den Weg zu ihrem Büro. Allerdings nicht, um das Briefing zu lesen. Nein, sie würde sich unter keinen Umständen ohne expliziten Befehl aus Langley auf eine derartige Selbstmordmission begeben. Schlimm genug, dass die Umstände keine Zeit für ausreichende Vorbereitungen ließen, aber das? Nein. Das war Wahnsinn.

Als sie sich schließlich auf ihren Stuhl fallen ließ und nach dem Telefonhörer griff, bemerkte sie, dass einmal mehr ihre Finger zitterten. Wie damals, als das fremde Schiff aufgetaucht und mit einem Mal klar geworden war, dass es tatsächlich außerirdischer Herkunft war. Doch anders als damals war es nun keine abstrakte, instinktive Furcht, sondern das präzise Wissen um die Gefahr dessen, was von ihr verlangt wurde, die sie zittern ließ.

»Mike«, sagte sie schließlich, kaum hörte sie, dass ihr Anruf entgegengenommen wurde. »Ich bin’s, Veronica. Hör zu, ich …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie nur.

»Was weißt du?!«, fauchte sie.

»Dein Einsatzbefehl. Ich weiß Bescheid. Die Agency hat ihn abgezeichnet.«

»Aber …«

»Veronica, ich möchte, dass du mir jetzt gut zuhörst.« Mike machte eine kurze Pause. »Und das meine ich nicht nur rhetorisch. Wir befinden uns am Beginn des Dritten Weltkrieges. Das alleinige Ziel der Vereinigten Staaten ist, unseren Verbündeten in Europa und im Pazifik beizustehen und den Fall der freien Welt zu verhindern. Der Präsident hat dem fremden Schiff keine Priorität zugeordnet. Das bedeutet, uns stehen keine Ressourcen zur Verfügung, um in dieser Hinsicht tätig zu werden. Die einzige Ausnahme bist du. Durch deine Abordnung zum SPACECOM und deine Kontakte aus Rumänien haben wir die Chance, in dieser Sache nach wie vor aktiv zu bleiben, wenn auch auf einem niedrigen Level. Der Agency ist bewusst, wie riskant dieser Einsatz ist, aber er ist notwendig.«

Keyes schwieg.

»Es tut mir leid, Veronica. Wir tun, was wir können, um dich vor Ort zu unterstützen. Aber …«

»Aber was, Mike?«

»Vergiss es.«

»Jetzt sag schon, verdammt!«

Er seufzte. »Falls du hier noch irgendwelche offenen Angelegenheiten hast, wäre jetzt der Zeitpunkt, dich darum zu kümmern.«

Kapitel 8

E s war eine seltsame Szenerie, die sich Nick bot, als er aus dem Flughafengebäude in die schwüle Nachtluft Rumäniens trat. Neben ihm strömten Touristen in die Straßen Jassys, fuhren mit Bussen zu ihren Hotels oder ließen sich gleich von Taxis zu den nächstbesten Nachtclubs bringen. Singles, junge Pärchen, Familien. Die ganze Bandbreite. Daneben aber auch junge Männer mit kahlgeschorenen Köpfen und in fabrikneuen Armeeuniformen, die ob der provisorischen Natur dieser Mobilmachung in zivile Flüge gesteckt worden waren und nun in die dutzenden Militärlaster verschwanden, die überall auf den Straßen zu sehen waren und sie vermutlich direkt an die Front brachten.

Mitten in diesem Wirrwarr aus Realität und Albtraum fand sich Nick wieder – und mit einem Mal fühlte er sich unvorstellbar deplatziert. Was zum Teufel machte er hier? Er, der Fremde, der zur falschen Zeit am falschen Ort war? Er sollte nicht hier sein. Verdammt, er hätte sich daheim in den Staaten beim nächstbesten Rekrutierungsbüro melden und für die Army einschreiben sollen. Selbst wenn er den Krieg nicht an der Front, sondern beim Putzdienst einer Kaserne verbracht hätte, wäre das eine tausendmal sinnvollere Tätigkeit gewesen als das, weswegen er hergekommen war.

Aber er war hier. Auch wenn er sich gerade fühlte wie ein Alien, nicht unähnlich zu denen, die nicht weit von hier entfernt irgendwo am Nachthimmel schwebten und die Erde durch ihre bloße Anwesenheit zum Teufel jagten.

Ein paar Minuten lang verharrte er vor dem Flughafen, unentschlossen, ob er sich gleich auf den Weg machen oder den Rest der Nacht in einem Hotel vor Ort verbringen sollte. Hier in Rumänien war es noch nicht allzu spät, genug Zeit also, eine ganze Strecke hinter sich zu bringen, doch die Mischung aus Jetlag, Erschöpfung und der Tatsache, dass er zwischen den Anschlussflügen teils mehrere Stunden auf irgendwelchen europäischen Flughäfen hatte ausharren müssen, forderte ihren Tribut.

Schließlich entschloss er sich, ein paar Stunden zu schlafen, stieg in das nächstbeste Taxi und gab dem Fahrer zu verstehen, dass er ihn in ein Hotel bringen sollte. Einer der wenigen Vorteile, Amerikaner zu sein, war, dass die allermeisten Menschen auf diesem Planeten gerade genug Englisch sprachen oder verstanden, um zu kapieren, was man von ihnen wollte. Wenn man dann noch mit ein paar Dollar vor ihrer Nase herumwedelte, bekam man sehr schnell alles, was man sich vorstellen konnte.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass er gut 20 Minuten später beim Einchecken ins Hotel weder Ausweis noch sonst eine Form der Identifikation vorzeigen musste – und das, obwohl im Deer extra falsche Dokumente hatte zukommen lassen, damit ihn diese Taskforce bei der Ausreise nicht sofort aufspürte. Vermutlich wollten die Mitarbeiter des Hotels keine Fragen stellen, weil sie dachten, dass ein Amerikaner so nah an der Front nur ein Agent sein konnte. Oder zumindest ein Verbündeter.

Ihm war es nur recht.

Nachdem er sich zwei Flaschen Bier aus einem Getränkeautomaten gezogen, sich abgeduscht und aufs Bett fallen lassen hatte, schloss er die Augen und atmete zum ersten Mal seit Stunden durch. Der Aufbruch aus den Staaten war überstürzt gewesen, ungeplant und waghalsig. Genau genommen hatte er auch mehr mit einer Flucht gemein als mit sonst etwas, schließlich gab es Menschen, die explizit nach ihm suchten.

Trotzdem war es überraschend leicht gewesen, das Land zu verlassen. Nachdem er sich zur weiteren Zusammenarbeit mit Deer entschlossen hatte, hatte sie ihm neue Ausweisdokumente und ein Flugticket nach London zukommen lassen. Von dort aus war es erst nach Mailand und anschließend mit Zwischenlandung in Zagreb nach Jassy in Rumänien gegangen. Es war geradezu erschreckend, wie leicht man trotz des Krieges zwischen Ländern hin und her reisen konnte. Eigentlich war er fest davon ausgegangen, dass man den Flugverkehr einstellen und die Grenzen dichtmachen würde, aber offensichtlich funktionierte die Welt anders.

Teilweise lag das sicher daran, dass der Krieg Rumänien bislang nur in Form von Raketenangriffen auf militärische Einrichtungen im Nordosten des Landes erreicht hatte. Glaubte man den aktuellen Nachrichtenberichten, konzentrierte sich die russische Bodenoffensive in Europa bislang aufs Baltikum und Polen. Da die Ukraine mittlerweile seit über einem Jahr wie ein Löwe gegen die Russen kämpfte und die fast völlige Hoheit auf dem Schwarzen Meer besaß, verschaffte das der Südostflanke der NATO in Europa eine Verschnaufpause. Oder eine Galgenfrist. Je nachdem, wie man es sehen wollte.

Plötzlich ein schnelles Klopfen an seiner Zimmertür. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Wer zum Teufel …

»Mr. Hargraves, bitte öffnen Sie die Tür«, erklang plötzlich eine Stimme, die ihm viel zu bekannt vorkam. Konnte es sein?

»Deer?«, fragte er, als er zur Tür trat. »Sind Sie das?«

»Ja. Wären Sie so freundlich? Zeit ist gewissermaßen ein Faktor.«

Nick seufzte und entriegelte die Tür. Keine Sekunde später drückte auch schon jemand von außen die Klinke durch. Eine junge Frau schob sich ins Zimmer, nassgeschwitzt und mit hochrotem Kopf. Bis vor kurzem hatte sie wohl einen Pferdeschwanz getragen, doch davon waren nur noch Reste zu erkennen. Überhaupt sah sie vollkommen abgekämpft und übel zugerichtet aus. War sie angegriffen worden?

Nick warf einen schnellen Blick auf den Korridor, konnte jedoch niemanden erkennen. Und als er nun die Tür schloss, sie abermals verriegelte und sich zu Deer umdrehen wollte, war sie auf einmal verschwunden. Bevor er allerdings nach ihr rufen konnte, erklang auch schon das leise Prasseln von Wasser aus dem Badezimmer. Jetzt erkannte er auch ihre Kleidung, die sie in Rekordgeschwindigkeit ausgezogen haben musste.

»Deer?«, fragte er vorsichtig, trat zum Badezimmer und klopfte gegen die Tür. »Ich brauche etwas Input.«

»Gleich«, antwortete sie. »Muss durchatmen. Muss meine Gedanken sammeln.«

»Aber …«

»Gleich!«, fauchte sie und drehte das Wasser so stark auf, wie sie nur konnte. Zwar kein Garant dafür, sich nicht unterhalten zu müssen, aber ein Wink mit dem Zaunpfahl, sie in Ruhe zu lassen.

Nick seufzte abermals, ließ sich auf sein Bett sinken und öffnete beide Flaschen Bier, die er sich vorhin gekauft hatte. Er musste zugeben, dass er mit dieser Entwicklung nicht gerechnet hatte – um es einmal sachlich auszudrücken. Wenn er ganz ehrlich war, war er sogar davon überzeugt gewesen, Deer niemals persönlich zu Gesicht zu bekommen. Verdammt, manchmal hatte er sogar bezweifelt, ob es sie wirklich gab und sie nicht vielmehr bloß eine Computerstimme war, gesteuert von irgendwelchen Hintermännern.

Dass er sie jetzt auf einmal nicht nur in persona zu Gesicht bekommen hatte, sondern sie sogar unangekündigt in ein Hotelzimmer gestürmt war, von dem er bis gerade geglaubt hatte, dass nur er davon Bescheid wusste, war eine recht … unvorhergesehene Entwicklung.

»Sie hätten mich vorwarnen können, dass keine Handtücher mehr übrig sind«, drang auf einmal Deers Stimme aus dem Badezimmer, bevor sie die Tür öffnete und heraustrat, ein kleines Handtuch notdürftig um die Hüfte gebunden und einen Arm vor ihren Brüsten. »Na los, geben Sie mir eines!«

»Und Sie hätten mich vorwarnen können, dass Sie in mein Hotelzimmer walzen«, erwiderte Nick und warf ihr eines seiner Handtücher zu, doch anders als erwartet ging sie nicht zurück ins Bad, sondern trocknete sich vor seinen Augen ab, nur um anschließend nach einer der beiden Bierflaschen zu greifen.

»Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich kein Interesse an dieser Entwicklung hatte.« Sie leerte die halbe Flasche in wenigen Zügen. »Meine Anwesenheit ist nur eine Folge unvorhergesehener Entwicklungen.«

»Warten Sie.« Nick stellte seine eigene Flasche auf den Nachttisch und hob beschwichtigend die Hände. »Sagen Sie mir gerade etwa, dass Sie nicht hergekommen sind, um im Schutz der Anonymität unbeschreibliche Dinge mit mir zu tun? Bitte entschuldigen Sie, ich hatte die Umstände, dass Sie nackt vor mir stehen, falsch interpretiert!«

»Sparen Sie sich den Sarkasmus, Hargraves!«, knurrte sie. »Ich wäre nicht hier, gäbe es eine andere Möglichkeit. Ich gebe es zwar nicht gerne zu, aber ich war fahrlässig und habe die Kontrolle verloren.«

»Was ist passiert?«

»Die Taskforce, von denen ich Ihnen erzählt habe, hat in den letzten 24 Stunden vier meiner Prospektoren erwischt. Drei davon haben geredet. Durch eine Verkettung von Umständen außerhalb meines Einflussbereichs wurden zwei meiner Distributionsnetzwerke entdeckt. Die Mitarbeiter dort wissen zwar nicht, wer ich bin, aber genug, um mich in Gefahr zu bringen. Ich musste evakuieren.«

»Und deshalb sind Sie mir gefolgt?«

»Mr. Hargraves, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sie nicht zu meiner klassischen Klientel gehören. Sie sind kein Auftragsschläger und kein Krimineller, sondern ein mehr oder weniger aufrichtiger Kerl, der in eine Sache reingeraten ist, die er selbst niemals wollte.«

»Und das ruft in Ihnen ausreichendes Vertrauen hervor, um sich mitten in der Nacht nackt in mein Hotelzimmer zu stellen?«

»Ich würde diesen Umstand nicht von meiner Nacktheit abhängig machen.« Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Glauben Sie mir: Ich bin selbstbewusst genug, um zu wissen, was ich habe, und von falscher Scham halte ich nichts. Wenn Sie auch nur daran denken, mich anzufassen, reiße ich Ihnen die Weichteile ab und stopfe sie in Ihren Rachen. Verstehen wir uns?«

»Gottverdammt«, brummte Nick und hob abermals beschwichtigend die Hände, diesmal jedoch im Ernst. »Das war ein Witz. Vergessen Sie es.«

»Mr. Hargraves – Nick – lassen Sie mich ehrlich sein.«

Deer setzte sich auf den alten, klapprigen Sessel gegenüber vom Bett, den Nick bislang aus zweierlei Gründen gemieden hatte: Zum einen, weil er ihm nicht zutraute, das Gewicht eines ausgewachsenen Amerikaners zu stemmen, und zum anderen, weil unmittelbar darüber ein mindestens genauso alter Fernseher an einer Wandhalterung montiert war, die aussah, als wäre sie im Mittelalter geschmiedet worden.

»Gerade gibt es nicht mehr viel, was ich Ihnen bieten kann«, murmelte sie nach einer kurzen Pause. »Ich habe zwar nicht alles verloren, aber genug, um aus dem Spiel zu verschwinden. Mir ist bewusst, wie ich Sie behandelt habe, und ich würde lügen, würde ich behaupten, es zu bereuen. In meinem Beruf werden Menschen sehr schnell zu Werkzeugen. Allerdings sind Sie hier. Sie haben meine Hilfe angenommen, um das Land zu verlassen. Das zeigt mir, dass Sie an einer weiteren Zusammenarbeit interessiert sind.«

»In erster Linie bin ich daran interessiert, nicht in einem FBI-Kerker zu verschwinden«, erwiderte Nick. »Wie stellen Sie sich diese Zusammenarbeit vor?«

»Sprechen Sie russisch, Nick?«

»Nein.«

»Ukrainisch?«

»Nein.«

»Sonst eine osteuropäische Sprache?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Bitte, Nick«, schnaubte sie. »Stellen Sie sich nicht dumm.«

Nick biss sich auf die Lippe, erwiderte aber nichts. Ihm war selbst vollkommen klar, was sie sagen wollte: Ohne sie war er aufgeschmissen, ganz gleich, was er von ihrem bisherigen Verhalten denken mochte. Er sprach kein Wort einer Fremdsprache, wenn man einmal von ein paar Fetzen Spanisch absah, die er von Jungs aus Mexiko aufgeschnappt hatte, und er bezweifelte, dass er damit besonders weit kommen würde. Und wenn er nicht gerade den Plan fasste, einfach herumzufragen, ob jemand einen Weg kannte, außerirdische Artefakte zu verkaufen, blieben ihm nicht besonders viele Optionen.

»Was schlagen Sie vor?«, fragte er schließlich.

Deer leerte den Rest ihrer Flasche. »Wir fangen von vorne an. Gleichberechtigte Partner. Sie übernehmen das Aufspüren der Artefakte, ich kümmere mich um den Weiterverkauf und halte die Behörden von uns fern. Fifty-Fifty. Haben wir einen Deal?«

Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich habe Bedingungen«, antwortete Nick nach kurzem Zögern und sah ihr direkt in die Augen. »Sie wissen, dass ich das anfangs nicht wollte. Dass mich Chester in die Sache reingezogen hat. Mittlerweile macht es mir zwar Spaß, aber das bedeutet nicht, dass ich sehenden Auges in den Bau wandern will, vor allem jetzt nicht, da uns Bundesagenten verfolgen.«

»Das sind keine Bedingungen, Nick. Was wollen Sie? Ganz konkret?«

»Einen Ausweg.«

»Einen Ausweg?«

»Genau. Eine Möglichkeit, abzuspringen und ganz konkret unsere Ärsche zu retten, wenn es sein muss.«

Deer erwiderte seinen Blick. Mit einem Mal schien ihre bis gerade noch so gefasste und beherrschte Fassade zu bröckeln. Eine Art Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben, auch wenn sich Nick nicht sicher war, ob sie tatsächlich da war oder er sie sich nicht nur einbildete. War es ihm am Telefon bereits schwergefallen, ihren Tonfall zu deuten, setzte ihre Mimik noch eins drauf.

»Abgemacht«, sagte sie schließlich nach einer viel zu langen Pause und nickte kaum merklich. »Ich überlege mir etwas.«

Nick setzte schon an, etwas zu erwidern, ließ es dann jedoch sein und bedeutete ihr stattdessen mit einer kurzen Handbewegung, sich ins Bett zu legen, während er selbst aufstand und sich auf den Boden setzte. Zwar hätte er viel dafür gegeben, eine Nacht in einem Bett schlafen zu können, doch nachdem er den absoluten Großteil der letzten Monate auf der Ladefläche seines Trucks verbracht hatte, schreckte ihn der Boden nicht ab, auch wenn er vermutlich bedeutend schmutziger war, als sein Truck je werden konnte.

Deer sah geradezu überrascht aus, dass er ihr das Bett einfach so überließ, und zögerte, dieses Angebot anzunehmen, legte sich dann jedoch hin. Und während sie bereits wenige Minuten später einschlief, saß Nick weiter da und sah aus dem weit offen stehenden Fenster hinaus in den Nachthimmel.

Wann hatte er eigentlich die Kontrolle über sein Leben verloren? Welcher Entscheidung war es geschuldet, dass es endgültig den Bach runtergegangen war? Bereits damals, als Chester in der Kneipe aufgetaucht war und er sich entschlossen hatte, ihn anzuhören? Erst am darauffolgenden Morgen, als er tatsächlich beim General Store aufgetaucht war? Oder war es eine der unzähligen anderen, dummen Entscheidungen gewesen, die er seither getroffen hatte?

Er wusste es nicht, doch so oder so fiel es ihm auf einmal unglaublich schwer, das alles zu akzeptieren. Nicht nur, dass er die Wüste Arizonas, die so lange sein Zuhause gewesen war, verlassen hatte, sondern dass er jetzt auf einmal hier war, in Europa, nicht weit von den Frontlinien des Dritten Weltkriegs entfernt. Und das auch nicht allein, sondern plötzlich zusammen mit der Hehlerin, die für so vieles, was ihm zugestoßen war, verantwortlich war.

Deer … Ohne sie wäre es nie so weit gekommen. Ohne sie hätte er das Artefakt, das er Chester abgenommen hatte, irgendwo in der Wüste verscharrt und wäre zu seinem alten Leben zurückgekehrt, hoffend, niemals für das belangt zu werden, was er bei Gleeson getan hatte. Doch sie hatte ihn zum Weitermachen gezwungen. Und er hatte sich viel zu bereitwillig zwingen lassen.

Nein. Er konnte ihr nicht böse sein, konnte nicht wütend auf sie sein, auch wenn er es gerne gewesen wäre, denn allem zum Trotz, was sie an Schlechtem verursacht hatte, war sie doch der Grund, warum er das alles erleben durfte. Er stand am Anbeginn einer neuen Zeit, jagte außerirdische Artefakte und schien wichtig genug zu sein, damit die Regierung der Vereinigten Staaten Agenten auf ihn ansetzte. Ohne sie wäre das alles nie geschehen. Vielleicht lebte er jetzt kein verhältnismäßig sicheres Leben mehr, aber dafür war es auch nicht mehr langweilig. Das war seine Chance im Leben, etwas Großes zu schaffen. Etwas aus sich zu machen. Und ein Mann, der ein Leben wie das seine gelebt hatte, würde sich diese Chance nicht entgehen lassen.

*****

Irgendetwas stimmte nicht. Nick konnte nicht sagen, was es war, doch jede Faser seines Leibes schrie ihm zu, dass er sich in diesen Sekunden in unvorstellbarer Gefahr befand. Langsam hob er eine Hand und bedeutete Deer, sofort stehenzubleiben. Sie tat, wie geheißen, und gab keinen Laut von sich. Auch er selbst versuchte, möglichst leise zu sein, und hielt sogar den Atem an. Doch es gab nichts, was er hätte hören können. Keine Vögel, keine fernen Echos, keine Insekten und nicht einmal das Rauschen des Windes.

Und genau das war es, was ihm Sorgen bereitete.

Es war, als würde die Natur diesen Ort meiden; als wüssten sämtliche Lebewesen instinktiv, dass hier nur Gefahr auf sie lauerte. Lebewesen, die in dieser Hinsicht so viel klüger waren als alle Menschen, und vor allem so viel klüger als er und Deer. Doch sie waren hier. Einen anderen Weg gab es nicht. Zumindest nicht in vertretbarer Zeit. Sie mussten weiter, allen Gefahren zum Trotz.

Noch vor Sonnenaufgang hatten sie das Hotel verlassen und sich auf den Weg in Richtung Norden gemacht, zur Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine. Hier, nur wenige Kilometer von dem Punkt entfernt, an dem der Fluss Pruth nicht mehr die Grenze zwischen den beiden Nationen markierte, hofften sie, diese zu überqueren und unbemerkt ins Nachbarland zu schlüpfen. In der seit so langer Zeit von Krieg erschütterten Ukraine würden sie vorerst Schutz finden. So ihre Rechnung. Nur setzte das voraus, dass sie die nächsten Stunden oder auch nur Minuten überlebten.

Nick schaute sich um. Die Büsche und Bäume in ihrer Umgebung trugen zwar sattes Grün und ab und zu blitzten sogar die Blüten von Blumen durch das dichte Blattwerk, aber dieses Bild wirkte unglaublich surreal auf ihn. Das Grün der Pflanzen bedeutete eigentlich Leben, einen gesunden Wald und für viele Menschen ein Sinnbild des Friedens, doch hier wirkte alles einfach nur leblos und tot.

War das womöglich nur Einbildung? Seine Nerven, die nach tagelanger Flucht und einer praktisch durchwachten Nacht im Angesicht des herannahenden Krieges blank lagen und ihn Dinge sehen ließen, die gar nicht da waren? Möglich war es, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Sein Instinkt ließ ihn selten im Stich und hier schrie ihm buchstäblich jeder Muskel seines Körpers zu, dass er auf der Stelle umdrehen und verschwinden sollte.

»Nick?«, drang plötzlich Deers leise Stimme zu ihm. »Was ist los?!«

»Ich bin mir nicht sicher«, raunte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Etwas stimmt nicht. Spüren Sie es nicht?«

Deer schwieg, doch sie musste ohnehin nichts sagen, denn die schiere Wucht, mit der ihre beiden Stimmen durch die Stille gedrungen waren, bestätigte ihn augenblicklich in seinen Befürchtungen. Sie mussten sofort von hier verschwinden – und das bedeutete eine Flucht nach vorne.

»Weiter!«, befahl er und marschierte los, achtete dabei jedoch penibel auf jede noch so kleine Bewegung und jedes noch so leise Geräusch. Auf alles, was ihm irgendeinen Hinweis auf das liefern konnte, was er nicht sah.

Es war surreal, sich durch diesen Wald zu bewegen, ganz und gar unwirklich und fremd. Nick wusste längst, dass das irgendetwas mit den Außerirdischen zu tun haben musste, die nur wenige hundert Kilometer von hier entfernt über der Erde schwebten. Mit ihnen oder ihren Artefakten. Kein Mensch wusste, wie sich die Nähe des Schiffs auf Flora und Fauna der Erde auswirkte. In den USA bekam man davon womöglich nicht viel mit, aber unter Umständen entfalteten die Artefakte in der näheren Umgebung des Schiffs ja ihre wahre … Bestimmung.

Weiter und immer weiter suchten sie sich einen Weg durch den Wald. Mit jedem Schritt fühlte sich Nick mehr wie ein gehetztes Tier. Wie Beute. Wie ein Blinder, der geradewegs in sein Verderben marschierte. Längst schlug sein Herz so schnell und hart, dass er es kaum noch aushielt. Verdammt, sie mussten von hier verschwinden, und zwar schnell!

Plötzlich zuckte Deer zusammen und wich einen Schritt vor irgendetwas zurück, das er noch nicht sehen konnte. Auf der Stelle wirbelte er herum und griff schon nach seinem Messer, hielt dann jedoch inne, als er erkannte, was sie gesehen haben musste: Links von ihnen, ein paar Meter entfernt, lag ein Artefakt auf einem Baumstumpf – umgeben von den halb verwesten Leichen dreier Männer und dem Kadaver eines Hundes.

»Großer Gott«, entfuhr es ihm. Vorsichtig trat er näher heran, doch kaum hatte er einen Schritt gemacht, spürte er bereits Deers Hand auf seinem Arm. Sie wollte ihn zurückhalten. »Was ist?«

»Es gibt einen Grund, warum die drei tot sind«, hauchte sie mit bebender Stimme. »Tun wir es ihnen besser nicht gleich.«

»Das ist nicht mein erstes Artefakt, Deer«, entgegnete er tonlos und entzog sich ihrem Griff. »Ich fasse nichts an, versprochen.«

Deer setzte zwar zu einer Erwiderung an, sagte jedoch nichts und sah stattdessen mit hängenden Schultern in Richtung der drei Toten.

Nick trat vorsichtig näher. Einer der drei trug eine Armeeuniform mit Hoheitsabzeichen der Ukraine an den Ärmeln, während ein anderer vermutlich ein Jäger gewesen war. Der dritte trug zivile Kleidung. Seine Leiche war die am stärksten verweste. Vermutlich hatte er das Artefakt als Erster gefunden und war entsprechend dessen erstes Opfer gewesen. Ob die anderen nach ihm gesucht hatten?

Nick biss die Zähne zusammen und wollte sich schon hinknien, um den Rucksack des Soldaten zu durchsuchen, als er hinter sich auf einmal ein leises, dafür aber umso erbärmlicheres Wimmern hörte. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie Deer zu Boden sank und sich dabei beide Hände an die Schläfen presste. Ihr Gesicht war kreidebleich und ihre Lippen liefen blau an. War das etwa das erste Mal, dass sie einem Artefakt so nahe kam?

»Es geht gleich vorbei«, flüsterte er, hockte sich zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ein paar Sekunden, dann haben Sie es hinter sich.«

»Das …«, hauchte sie. »Was … Ich …«

Sie schnappte nach Luft – nur um sich dann plötzlich zur Seite zu beugen und sich zu übergeben. Nick gelang es gerade noch rechtzeitig, sich in Sicherheit zu bringen.

»Geht’s wieder?«

»Was war das?«, wimmerte sie und sah ihn mit tränengeröteten Augen an. Blanke Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Was …«

»Sie haben noch kein Artefakt aus der Nähe gesehen, oder?«

»Nein! Ist das etwa normal?«

»Jup. Allerdings passiert das nur beim ersten Mal. Hat Ihnen niemand davon erzählt?«

»Nein. Sie übrigens auch nicht.«

»Stimmt wohl.«

»Und was war das? Was ist gerade passiert?«

»Keine Ahnung.«

»Sie wissen es nicht und setzen sich dem trotzdem aus?«

»Ach?« Nick schnaubte. »Erkennt da etwa jemand das Dilemma, in das er seine Mitarbeiter zwingt?«

Deer schwieg und starrte mit ausdruckslosem Blick zu Boden, doch Nick war das nur recht. Wenn er eines nicht brauchen konnte, dann war es eine Diskussion um nichts und wieder nichts, auch wenn es mehr als genug gab, was er ihr gerne an den Kopf geworfen hätte. Aber das konnte warten.

Schließlich bückte er sich nach dem Rucksack des Soldaten und zog ihn von seinen Schultern. Der Gestank seines verwesenden Leibes war kaum auszuhalten, vor allem jetzt, als er seine toten Glieder bewegte, doch es musste sein. Als er den Rucksack schließlich zu sich gezogen hatte, kostete es ihn alle Kraft, sich nicht zu übergeben. Gott, das war kaum auszuhalten! Aber er musste sich zusammenreißen. Die Toten waren tot und es gab nichts, was er für sie tun konnte. Daran würde es auch nichts ändern, wenn er sich übergab.

Im Rucksack fand er das, was man vom Rucksack eines Soldaten erwartete: Verbandszeug, zwei Einmannpackungen, eine Feldflasche Wasser, Zigaretten, ein Feuerzeug und ein paar lose herumliegende Patronen, allerdings führte der Tote keine Magazine oder gar Waffen mit sich und auch sonst keinerlei Ausrüstung wie etwa ein Funkgerät, ein GPS oder Karten. Das deutete auf einen einfachen Infanteristen hin, Teil einer größeren Einheit. War er von seinen Kameraden getrennt worden? Aber warum war er überhaupt hier, hunderte Kilometer von der Front entfernt?

»Er wurde erschossen«, flüsterte Deer mit hörbarem Ekel in der Stimme. »Sehen Sie.«

Sie deutete auf den Kopf des Soldaten. Tatsächlich klaffte knapp unterhalb seines linken Auges ein nicht unansehnliches Loch im blankliegenden Knochen. Nick hatte es zwar bereits bemerkt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt. Er hatte es als Folge des Verwesungsprozesses angesehen – doch bei näherer Betrachtung bemerkte er, dass es tatsächlich ein unübersehbares Einschussloch war. Und nur wenige Meter von den Toten entfernt sah er sogar die Hülse des Projektils im Laub schimmern.

»308er«, murmelte er, als er sich danach bückte. »Jagdmunition.«

»Dann hat ihn der Jäger erschossen?«

»Mhm. Und zwar aus nächster Nähe. So nah lässt man niemanden mit einer Flinte an sich rankommen, den man nicht kennt.«

»Großer Gott.«

»Was?«

»Das alles wegen des Artefakts?«

Nick blinzelte. Er konnte geradezu spüren, wie ihre Frage einen Schalter in seinem Kopf umlegte. Einen Schalter, der eine unbeschreibliche Welle aus Wut und Zorn über ihn hereinbrechen ließ. Viel zu bereitwillig gab er sich ihr hin.

»Ist das dein Ernst?!«, hauchte er und packte sie am Arm. Er drückte fest zu. Viel zu fest. Aber das war ihm in diesem Augenblick egal. »Ist das dein gottverdammter Ernst?!«

»Nick …«

»Halt die Fresse!«, brüllte er und deutete auf die Toten. »Willst du mich verarschen?! War dir nicht klar, was passiert, wenn sich Menschen um die Artefakte streiten?! Was dachtest du eigentlich, was da draußen passiert? Was dachtest du, ist bei Gleeson passiert? Vier Männer sind dort gestorben! Und wie hast du gesagt, als ich dir von Chester erzählt habe? Du nanntest seinen Tod unerwartet! Kapierst du überhaupt, was hier passiert?! Das passiert wegen Leuten wie dir!«

Sie versuchte, sich loszureißen, aber er ließ es nicht zu. »Du tust mir weh!«

»Schau hin!«

»Ich will nicht!«

»Schau hin!«

»Ich …«

»Ich habe Chester Williams erschossen!«, schrie Nick. Jetzt endlich ließ er sie los. »Er hat ein Artefakt gefunden und wollte nach seiner Pistole greifen! Ich habe ihn erschossen, bevor er es tun konnte! Und er hat davor einen jungen Mann umgebracht, der ebenfalls jemanden erschossen hat, um an das Artefakt zu kommen! Ich … Ich …«

Seine Beine wurden schwach. Er sank zu Boden.

»Ich werde zur Hölle fahren«, flüsterte er. Mit einem Mal bebte seine Stimme. »Jeder von uns wird zur Hölle fahren. Mit jedem Atemzug machen wir es nur noch schlimmer. Meine Seele gehört dem Teufel. Weil ich schwach war. Weil ich gierig war. Ich hätte es in Tombstone beenden sollen. Hätte mich den Behörden stellen und für mein Verbrechen zumindest in dieser Welt bezahlen sollen. Aber ich habe es nicht getan. Weil ich feige war. Und du hast mich weitergetrieben. Weiter und immer weiter. Die Hölle wird mich verschlingen, genau wie dich.«

Deer schwieg. Und obwohl sie einen Moment lang aussah, als wollte sie nichts lieber, als sich umzudrehen und zu fliehen, blieb sie stehen und setzte sich wenig später sogar zu ihm. Ihre Lippen bebten und Tränen glänzten in ihren Augen.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Nick, ich weiß nicht, ob es dir etwas bedeutet, aber es tut mir leid. Ich … wollte das alles nicht.«

»Warum hast du es dann zugelassen?«, hauchte er. »Warum hast du so viele in den Tod geschickt? Warum hast du mich nicht einfach gehen lassen, als ich dir ausgeliefert war?«

»Ich hatte die Chance und habe sie ergriffen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Sie schluckte schwer und räusperte sich ein paarmal, doch es gelang ihr nicht, ihre Stimme zu festigen.

»Ich hatte nichts«, wisperte sie in die dröhnende Stille hinein, die sich einmal mehr über sie gelegt hatte und drohte, sie beide unter sich zu ersticken. »Als ich acht war, starb mein Dad. Ein Jahr später meine Mom. Danach war ich fünf Jahre bei meiner Tante. Seither bin ich auf mich allein gestellt. Ich habe unter Brücken geschlafen und mich aus Mülltonnen ernährt. Die Menschen haben auf mich gespuckt, wenn ich gebettelt habe. Ich habe mir geschworen, dass ich alles tun würde, um dieses Leben hinter mir zu lassen. Dass ich es eines Tages zu etwas bringen würde. Bis ich 21 war, habe ich mich prostituiert. Dann … hat ein Mann versucht, mich zu vergewaltigen. In einem Motelzimmer bei Vegas. Ich habe ihn mit einem Klappmesser erstochen, mir seinen Wagen geschnappt und bin geflohen. Im Kofferraum habe ich ein Bild gefunden und im Handschuhfach die Adresse eines Kunsthändlers. So habe ich meine erste Million gemacht.«

»Und das soll eine Rechtfertigung sein?«

»Nein.« Sie stand auf und schüttelte den Kopf. »Keine Rechtfertigung. Eine Erklärung. Du hast recht. Wir werden beide zur Hölle fahren. Aber das heißt nicht, dass wir hier sitzen müssen, bis wir draufgehen. Komm. Wir sollten weiter.«

Mit diesen Worten trat sie an den Toten vorbei und suchte sich einen Weg durch den Wald. Nick stand nun ebenfalls auf, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, einfach so zu gehen. Nicht etwa wegen der Toten oder dem, was Deer ihm erzählt hatte, sondern wegen des Artefakts. Er war ehrlich genug, sich das einzugestehen. Vor ihm lagen 50.000 Dollar. Geld, dass er angesichts der Tatsache, dass er nichts am Leib trug außer seiner Kleidung, einem Messer, seinem Smartphone und ein paar eilig gekauften Vorräten, gut gebrauchen konnte.

Nur wie sollte er es mitnehmen?

Hektisch schaute er sich nach einer Möglichkeit um, es irgendwie zu transportieren. Vermutlich brauchte es nicht einmal einen Metallcontainer, sondern nur etwas, das es ausreichend von ihm und insbesondere seiner Haut abschirmte. Gummihandschuhe gab es beim Verbandszeug des Soldaten. Wenn er sie als Basis benutzte, Stoff drumherum wickelte und das Artefakt in die Rettungsdecke verpackte …

»Nick, kommst du?«

»Gleich, Deer. Gleich.«

Kapitel 9

W ie ein Flächenbrand war die russische Kriegsmaschinerie über Osteuropa gewalzt. Verbrannte Erde, verheerte Felder, verwüstete Ruinen und vernichtete Existenzen pflasterten ihren Weg. Und dort, wo sich die NATO-Truppen eingegraben hatten, fraß sich die Front wie eine Axt in die Erde. Wie eine Axt, die den Planeten selbst spalten wollte. Die Zerstörung kannte keine Grenzen.

Keyes nahm das Fernglas runter, mit dem sie die Front beobachtet hatte, und schloss einen Moment lang die Augen. Es war unwirklich. Der konstante Schein der Feuer, die die Nacht erhellten, die immer wieder wie Blitze durch die Dunkelheit zuckenden Explosionen, das ferne und nahe Donnern, mal dumpf, mal kreischend intensiv. Dazwischen immer wieder die Schreie der Verwundeten und Sterbenden, das Kreischen der Raketen.

Unentwegt trafen Verstärkungen bei der Front ein. Infanteristen, die so schnell wie möglich die Schützengräben bemannten, Panzer, die sich in befestigten Stellungen in Position brachten, Artillerie, die sich nach kurzen Attacken zurückzog, und Drohnen, die durch die Luft schwirrten. Streitkräfte aus allen europäischen Ländern waren auf diesem Schlachtfeld vertreten. Hatten in den ersten Stunden noch Balten und Polen die Hauptlast der Kämpfe geschultert, waren mittlerweile endlich Verstärkungen und schnelle Eingreiftruppen eingetroffen.

Soldaten aus Deutschland und Frankreich, aus dem Vereinigten Königreich, Skandinavien und Südeuropa – sie alle standen hier Seite an Seite, kämpften und starben gemeinsam. Die Front verlief hier, der Feind war klar. Es galt, ihn für jeden Millimeter Land bluten zu lassen und lange genug aufzuhalten, bis die Generalmobilmachungen angelaufen waren und die wenigen amerikanischen Truppen vor Ort endlich von der geballten Macht der Vereinigten Staaten unterstützt wurden.

Doch bis das geschah, war es noch ein weiter Weg. Ein weiter, blutiger Weg. Anders als erwartet, war es den Russen nicht gelungen, hunderte Kilometer tief in NATO-Territorium vorzustoßen, und stattdessen hatte sich ihre Offensive hier, etwa zehn Kilometern von den östlichen Vororten Warschaus entfernt, festgefahren. Nichtsdestotrotz hatte der Krieg schon jetzt zigtausende Leben gekostet. Soldaten beider Seiten und Zivilisten gleichermaßen. Aktuell schätzte die NATO ihre täglichen Verluste auf dem europäischen Kriegstheater auf fast 3000 Mann.

»Es wird ein langer Krieg werden.« Plötzlich eine Stimme hinter ihr. Ein polnischer General trat aus dem Kommandozelt neben sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein paar Sekunden lang sah er mit ausdruckslosem Blick in Richtung der nicht weit entfernt liegenden Frontlinie, bevor er sich eine Zigarette ansteckte. »Ein verdammt langer Krieg.«

»Denken Sie?«

Er nickte. »Das hier bleibt die Front. Ein paar Kilometer weiter östlich, ein bisschen weiter westlich. Es spielt keine Rolle. Sehen Sie das?«

Er deutete auf die Kolonnen an Lastwagen, die im Schutz der Dunkelheit Unmengen an Soldaten und Ausrüstung an die Front brachten.

»Allein an diesem Frontabschnitt haben wir 50.000 Soldaten aus zehn europäischen Ländern. Jeder von ihnen weiß, was die Russen während des Kalten Kriegs jenseits des Eisernen Vorhangs angerichtet haben, und ein guter Teil von ihnen kennt die Geschichten ihrer Eltern nur zu gut. Keiner von ihnen wird sich auch nur einen Millimeter zurückziehen, solange er ein Gewehr halten kann. Die Russen haben sich verschätzt.«

»Das glaube ich auch.« Keyes nickte. »Es ist trotzdem furchtbar.«

»Es muss sein.« Er nahm einen ausgiebigen Zug von seiner Zigarette. »Aber wir werden gewinnen. Als uns die Russen das letzte Mal angegriffen haben, haben sie uns den Dolch in den Rücken gestoßen, als wir versucht haben, die Deutschen aufzuhalten. Jetzt müssen sie uns in die Augen schauen – und die Deutschen stehen diesmal an unserer Seite. In zwei Stunden trifft eine Artilleriebatterie der Bundeswehr hier ein. Dann jagen wir sie alle zur Hölle. Das ist Ihr Zeitfenster.«

»Verstanden.«

»Darf ich fragen, was Sie vorhaben?«

Keyes schwieg.

»So geheim also?« Er lachte leise. »Na, wenn Sie meinen.«

»Ich muss hinter die Front«, knurrte sie. »Mein Kontakt erwartet mich in Pinsk, Weißrussland. Danach geht es weiter nach Smolensk.«

»Mit dem Kopf durch die Wand, hm?«

»Jup. Wir hoffen, dass die Russen so sehr mit ihrer Offensive beschäftigt sind, dass ich durch die Front schlüpfen und mich halbwegs ungehindert durchs Hinterland bewegen kann. Es ist zwar gefährlicher, aber unterm Strich risikoärmer, als wenn ich mir einen Weg über die Ukraine gesucht hätte.«

»Ich habe eine Einheit, die einen ähnlichen Befehl hat«, raunte der General. »Die Jungs sollen ebenfalls durch die Front schlüpfen und Ziele im Hinterland sabotieren. Eine Zusammenarbeit würde sich anbieten. Soll ich ihren Kommandanten herholen?«

»Ich bin für jede Unterstützung dankbar.«

»In Ordnung. Warten Sie hier.«

Kaum hatte er sich umgedreht und ging zurück zum Kommandozelt, setzte Keyes das Fernglas wieder an und sah zur Front. Das Artilleriefeuer der Russen, das bislang so konstant auf die NATO-Stellungen niedergeregnet war, war mittlerweile verstummt. Nachtruhe, wenn man so wollte; die Erkenntnis, dass sich heute kein Durchbruch mehr erzielen lassen würde. Wie sehr sie sich täuschten.

Keyes holte tief Luft. Die Russen mochten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt haben und unfassbare Mengen an Infanterie und Panzern ins Feld führen, doch der Technik der NATO waren sie in jeder Hinsicht unterlegen. Und wenn bald das Artilleriesperrfeuer ihre Stellungen zerfetzte und 200 Panzer und Truppentransporter ihre Linien durchstoßen würden, würden sie diesen Nachteil mit all seinen Konsequenzen zu spüren bekommen.

Trotzdem bezweifelte sie, dass sich heute Nacht eine größere Entscheidung herbeiführen lassen würde. An der europäischen Front standen sich Millionen von Soldaten gegenüber und längst waren Schützengräben ausgehoben worden, die den Befestigungen des ersten Weltkriegs in nichts nachstanden. Es würde ein langer Abnutzungskrieg werden, eine Blutmühle, die vermutlich erst am Verhandlungstisch gestoppt werden konnte.

Die völlige Wirkungslosigkeit jeder Atomwaffe auf dem Planeten hatte ein Szenario geschaffen, das kein Analyst oder Stratege je für möglich gehalten hatte. Abschreckung bedeutete auf einmal nichts mehr, verheerende Gegenschläge waren nicht mehr zu befürchten, genauso wenig wie die flächendeckende Vernichtung von eigenen Städten. Kriege wurden nicht von Stellvertretern geführt, wie während der letzten Jahrzehnte üblich, sondern direkt von den Großmächten des Planeten – und das nach Strategien, die man seit dem Beginn des Atomzeitalters für obsolet gehalten hatte. Schlachten wurden durch Panzer und Artillerie entschieden, durch großangelegte Infanterieangriffe. Selbst Flugzeuge und Hubschrauber wurden durch moderne Luftabwehrsysteme zu einer bestenfalls marginalen Gefahr.

Keyes schluckte schwer und wendete sich ihrer Ausrüstung zu, überprüfte Gewehr, Pistole und Nachtsichtgerät. Die Dinge, auf die sie sich während der nächsten Stunden und vielleicht auch Tage verlassen musste. Ausrüstung, an der sie ausgebildet worden war, mit der sie umgehen konnte. Aber trotzdem auch Ausrüstung, die sie noch nie hatte einsetzen müssen. Ihre bisherigen Außeneinsätze hatten mehr im Rahmen der Informationsbeschaffung und Observierung stattgefunden und nicht unbedingt in der direkten Konfrontation.

»Agent?« Irgendwann trat der polnische General wieder zu ihr, begleitet von einem hageren Mann mit Glatze. »Das ist …«

»Walther?«, hauchte Keyes ungläubig und starrte ihn an. »Was zum Teufel tun Sie denn hier?«

»Meinen Job«, antwortete der Deutsche mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen. »Allerdings hätte ich nicht erwartet, Sie hier zu treffen.«

»Sie kennen sich?«, fragte der General.

»Das wäre zu viel behauptet«, antwortete Keyes. »Danke, General.«

Walther nickte ihr zu und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu einem Tisch zu folgen, wo er mit einer gedimmten Taschenlampe eine Karte ausleuchtete.

»Wir sind hier«, sagte er und deutete auf einen Punkt östlich von Warschau. »Die Russen sind hier und hier. Aktuell ist ihre Front durch die Offensive überdehnt. Sicherungskräfte im Hinterland erwarten wir nicht, aber Konvois mit Verstärkungen. Vermutlich bewegen sie sich primär auf den Straßen. Meine Einheit wird eine Brücke bei Tonkiele sprengen und anschließend die Eisenbahnbrücke bei Brest. Von dort aus sind es gut 150 Kilometer Luftlinie nach Pinsk. Wenn Sie wollen, können Sie sich uns anschließen.«

»Gerne.« Keyes nickte. »Aber ich bin keine Soldatin und nicht ausgebildet, um …«

Walther lachte.

»Was?!«

»Denken Sie, ich bin Soldat?«

»Ehrlich gesagt, ja, davon bin ich ausgegangen.«

»Das ist ja putzig.« Er grinste. »Keine Sorge, ich denke, Sie werden sich gut in meine Einheit einfinden. Wenn alles gutgeht, müssen Sie uns auch nicht allzu lange erdulden. Sobald wir die weißrussische Grenze erreichen, können Sie tun, was auch immer CIA-Agenten so tun.«

Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, sagte jedoch nichts mehr. Auch Keyes schwieg nun. Es gefiel ihr zwar nicht unbedingt, sich einer Sabotageeinheit anzuschließen, aber angesichts der Umstände schien ihr das der einfachste Weg zu sein, Weißrussland zu erreichen.

Eine seltsame Stille legte sich über den gesamten Frontabschnitt. Zwar hallten nach wie vor die Echos vereinzelter Schüsse durch die Nacht und hier und da peitschte auch eine ferne Explosion durch die Dunkelheit, doch abgesehen davon blieb es ruhig. Die unausgesprochene Übereinkunft, nachts nicht zu kämpfen; Soldaten, von den Ereignissen des Tages erschöpft und ermattet. Doch schon bald drangen das immer lauter werdende Rasseln von Ketten und das tiefe Brummen mächtiger Motoren zu Keyes. Die deutsche Artilleriebatterie, die sich in Position brachte. Panzerhaubitzen und Mehrfachraketenwerfer. Genug, um die Hölle zu entfesseln.

»Kommen Sie, Keyes«, befahl Walther und nickte ihr zu. »Machen wir uns bereit. Wir gehen gleich mit der ersten Welle rein.«

»Mit der ersten Welle?«

»Es bringt nichts, wenn wir darauf warten, dass die Russen die Front festigen oder sich anderswo in Stellung bringen. Wir nutzen das anfängliche Chaos.«

Noch bevor Keyes etwas erwidern konnte, drehte er sich um und marschierte dermaßen schnell davon, dass sie rennen musste, um zu ihm aufzuholen. Er führte sie vorbei an Zelten, Radaranlagen und Maschinen der Fernaufklärung, bis sie schließlich fünf ältere Männer in unterschiedlichen Uniformen erreichten. Genau wie Walther selbst trugen sie allesamt eine Glatze und mehr oder weniger mächtige Bärte. Das waren Jungs, die in ihrem Leben schon mehr als genug gesehen und vor allem getan hatten. Genau die Art von Mensch, die man für eine solche Mission brauchte. Sie waren verhältnismäßig leicht ausgerüstet. Kurze Sturmgewehre, ein Präzisionsgewehr, Maschinenpistolen, eine Panzerfaust, Granaten.

»Das ist Keyes«, stellte Walther sie vor. »CIA. Wir bringen sie an die Grenze.«

Die Männer nickten.

»Einsatzbereitschaft herstellen. Wir bewegen uns in südöstliche Richtung. In fünf Minuten geht es los.«

Irgendwo heulten Motoren auf und ein durchdringendes Surren, das aus der Ferne zu ihnen hallte, verriet Keyes, dass sich die Artilleriesysteme in diesen Sekunden bereitmachten. Jetzt ging es also los. Seltsam. Sie hatte es sich anders vorgestellt. Nicht so … willkürlich.

»Keyes, Sie fahren mit mir.«

»Ich dachte, wir …«, setzte Keyes an, hielt dann jedoch inne, als ihr Blick auf vier pechschwarze Quads fiel, die ein paar Meter neben ihnen geparkt waren.

»Elektromotor«, sagte Walther. »Nicht lauter als das Rascheln von Blättern. Zeit ist ein Faktor.«

»Ich verstehe.«

Während Keyes hinter Walther auf das Quad stieg und ihren Rucksack so gut wie möglich festschnallte, fühlte sie sich mit einem Mal unvorstellbar verloren. Es war keine Angst, die sie empfand, und sie bezweifelte auch, dass sie überhaupt noch in der Lage gewesen wäre, Angst zu empfinden, aber das Gefühl des Verlorenseins fraß sich dafür umso intensiver durch ihren Verstand. Wenn gleich die ersten Raketen und Granaten abgefeuert wurden, würde sie kein Mensch mehr sein. Niemand hier würde das noch sein. Walther und seine Leute, die Soldaten und sie selbst – sie alle waren ab sofort nur noch Werkzeuge. Zahlen auf einem Papier, Teile einer Gleichung, an deren Ende eine russische Niederlage stehen musste. Wer in den nächsten Stunden starb, war eine Nummer auf einer Verlustliste, eine Zahl, die weitergereicht werden würde, bis sie irgendwann in einen Brief umgewandelt und verzweifelten Angehörigen übergeben wurde.

Ein Zustand, der für Keyes tage- und womöglich sogar wochenlang weitergehen würde. Ab sofort war sie nur noch eine CIA-Agentin auf Mission. Alles andere wurde zweitrangig. Es galt, Morosows Kontakt ausfindig zu machen und irgendwie mehr über die außerirdischen Artefakte herauszufinden. Und zwar so schnell wie möglich.

Dann ging es los. Die Panzerhaubitzen jagten donnernd Granate um Granate in Richtung der russischen Stellungen und die Raketenwerfer entfesselten das kreischende Zischen, mit dem ihre Geschosse die Luft zerfetzten. Nur Sekunden später blitzten bereits die Feuerbälle der Explosionen durch die Dunkelheit. Jetzt setzten sich auch die Truppentransporter und Panzer in Bewegung. Geschützfeuer und das Rattern von Gewehren drangen durch die Nacht.

Walthers Männer fuhren los. Sie hielten sich relativ dicht hinter den vorrückenden NATO-Fahrzeugen. Dicht genug, damit Keyes das Prasseln von Kugeln gegen die Panzerung hören konnte, aber nicht so nah, dass die Querschläger sie erwischt hätten. Das Nachtsichtgerät zog sie sich bereits nach wenigen Sekunden von den Augen. Durch das Blitzen der Explosionen war es fast unmöglich, etwas zu erkennen.

Sie umklammerte ihr Gewehr, während sie sich gleichzeitig mit den Beinen so fest wie möglich am Quad festhielt. Sie wusste mit jeder Faser ihres Körpers, dass sie während der Fahrt unmöglich etwas treffen würde, doch die Waffe in ihren Fingern, ihr Gewicht, gab ihr Sicherheit. Sicherheit, die in diesen Sekunden mehr wert war als alles andere. Hier draußen war sie ein weiches Ziel. Ein Querschläger, ein gezielter Schuss, ein Schrapnell – ihr Leben konnte jede Sekunde enden. Ganz gleich, wie leise und unerkannt sich Walthers Leute auch bewegten, den Zufall konnten selbst sie nicht beherrschen.

*****

Plötzlich ein Schuss. Keyes wusste, dass es unmöglich war, dieses eine Projektil inmitten des höllischen Infernos auszumachen, das rings um sie herum tobte, genauso wenig wie das dumpfe Pochen, mit dem es Kleidung und Fleisch durchdrang, doch sie hörte es. Sie hörte es und sah, wie einer von Walthers Männern links neben ihr vom Quad fiel. Sein Sozius versuchte noch, das unkontrolliert schlingernde Fahrzeug unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Es prallte gegen das Wrack eines Autos, überschlug sich.

»Weiter!«, brüllte Walter. »Aufteilen! Los, los, los!«

»Was, wenn …«, setzte Keyes an, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Wir bergen kein totes Fleisch! Die Mission geht vor! Deckungsfeuer, zehn Uhr, sofort!«

Keyes biss die Zähne zusammen und tat wie geheißen. Obwohl sie nichts und absolut gar nichts erkennen konnte außer vereinzelten Mündungsblitzen in der Dunkelheit, legte sie ihr Gewehr an und jagte ein paar kurze Salven in Richtung einiger Bäume zu ihrer Linken. Ob sie etwas traf, wusste sie nicht, aber das spielte auch keine Rolle. Selbst wenn sie nur einen einzigen Soldaten in Deckung zwang, war das bereits ein Gewehr weniger, das auf sie feuerte.

Es gelang ihr kaum noch, sich am Quad festzuhalten. Walther fuhr derart schnell über das Feld, dass das winzige Fahrzeug immer wieder kurzzeitig abhob und kräftig durchgeschüttelt wurde. Aber das musste sein, denn irgendeine russische Einheit musste sie bemerkt haben. Links und rechts von ihnen zischten Kugeln durch die Luft und immer wieder prallten sie auch gegen die Maschinerie. Ein einziger glücklicher Treffer, sei es an einem von ihnen oder am Motor, und sie waren geliefert.

Keyes fluchte stumm, griff an ihre Weste, zog ein neues Magazin hervor und lud nach, nur um sogleich wieder anzulegen und weiterzuschießen. Mittlerweile hatte sie ausgemacht, von wo sie unter Beschuss genommen wurden: Eine kleine Baumgruppe, etwa 200 Meter von ihnen entfernt. Nicht das unmittelbare Angriffsziel der NATO-Einheiten und damit auch von der Artillerie verschont. Allerdings schien es sich nur um ein paar Infanteristen zu handeln. Sieben oder acht.

»Gleich geschafft! Festhalten!«

Noch bevor Keyes auch nur reagieren konnte, riss Walther das Steuer herum – und das mit einer solchen Wucht, dass sie um ein Haar vom Quad gerissen wurde. Instinktiv ließ sie ihr Gewehr los, das zum Glück jedoch an einem Gurt um ihre Schulter hing, und klammerte sich an Walther fest, der sie in diesen Sekunden in eine kleine Senke und damit raus aus dem Beschuss brachte.

Von den anderen beiden Quads war nichts zu sehen, doch das schien ihn nicht weiter zu kümmern. Zwar verlangsamte er das Fahrzeug für ein paar Sekunden und sah sich um, fuhr dann jedoch sofort weiter.

»Wollen Sie nicht auf sie warten?«

»Die Jungs wissen, was sie tun müssen. Wenn sie überlebt haben, treffen wir sie bei Tonkiele. Gottverdammt, wieso zum Teufel haben die Russen uns bemerkt?!«

»Nachtsichtgeräte?«

»Bei irgendwelchen Gopniks im Schützengraben? Sicher nicht. Die Frontschweine sind froh, wenn sie ein eigenes Gewehr kriegen. Egal. Sind Sie in Ordnung?«

»Ich glaube schon. Sie?«

»Streifschuss am Bein, nichts Ernstes. Das Quad ist auch okay. Jetzt wäre es ein guter Zeitpunkt, Ihr Nachtsichtgerät wieder aufzusetzen. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas sehen.«

»Mache ich. Unsere Umgebung sieht gut aus.«

»Sie sind hinter Morosow her, oder?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich bin ein Menschenkenner.«

»Es wäre schön, wenn ich Morosow finde, aber ich bin für alles froh, was hilft, diesen Wahnsinn zu beenden«, gab sie zurück.

»Was dagegen, wenn ich laut nachdenke?«

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein, ich mag meine Stimme.« Er lachte leise. »Ein paar Tage nach der Sache in Rumänien greifen uns die Russen plötzlich an. Das haben sie selbst damals nicht getan, als wir die Ukraine bis an die Zähne bewaffnet haben. Also hängt das mit dem fremden Schiff über dem Schwarzen Meer zusammen – oder mit den Artefakten. Sehe ich das richtig?«

»Kommt hin, ja.«

»Mein Tipp wäre, sich nicht zu sehr auf Morosow zu verlassen, wenn es Ihre Einsatzparameter hergeben«, brummte er. »Morosow mag womöglich an einer kommunikativen Lösung gelegen sein, aber in Russland kommt man nicht an eine Position wie seine, wenn man nicht grundsätzlich auf Linie ist. Und da sein Primärziel die Vermeidung eines Atomkriegs war, denke ich, dass er aktuell ziemlich beruhigt auf die Ereignisse blickt.«

»Sie wissen Bescheid?«

»Es gibt wenige Dinge, über die ich nicht Bescheid weiß. Ich mache diesen Job jetzt schon einige Zeit. Wegen der fehlenden Atomwaffen konnte es überhaupt so weit kommen. Aber die Russen wissen ganz genau, dass sie der NATO mittel- und langfristig unterlegen sind. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sie ein Ass in der Hinterhand haben oder davon ausgehen, bald eines zu haben.«

»Die Artefakte.«

»Ganz genau. Ich war viele Jahre lang in Russland tätig. Unterschätzen Sie nicht, wie gigantisch die Ressourcen sind, auf die man dort zugreifen kann. Alte Labore und Forschungseinrichtungen aus der Sowjetzeit kann man innerhalb von Tagen wieder in Betrieb nehmen. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass in dieser Hinsicht etwas läuft.«

Keyes erwiderte nichts. Dass Walther mit seiner Einschätzung vermutlich goldrichtig lag, war kein großes Geheimnis. Etwas Ähnliches hatte sie sich ebenfalls längst zusammengereimt, und auch wenn es weder Colonel Roberts noch sonst jemand explizit ausgesprochen hatte, lief alles auf ein- und dasselbe hinaus: Wenn die Russen diese Artefakte waffenfähig machten, würden sie diesen Krieg auf ein ganz neues Level heben. Und ihn vermutlich schnell entscheiden.

Eigentlich gehörte es zu ihren festen Überzeugungen, dass Russland nur sehr eingeschränkt zu eigenständigen Forschungen in der Lage war. Ihre kurzzeitige Vorherrschaft im All nach dem Zweiten Weltkrieg und das darauffolgende Gleichziehen mit den Staaten war eine Folge des Umstands, dass sie nach dem Krieg tausende deutsche Wissenschaftler und Ingenieure entführt hatten. Genau wie die USA. Aber dass sie jetzt plötzlich in der Lage sein sollten, nach jahrelangem Niedergang außerirdische Artefakte zu verstehen? Das hielt sie nach wie vor für unwahrscheinlich. Allerdings verfügten die Chinesen mittlerweile über ein nicht unerhebliches Forschungspotenzial. Eine Kooperation war nicht ausgeschlossen.

So oder so musste ein Durchbruch bereits erfolgt sein oder zumindest in absehbarer Zeit bevorstehen. Andernfalls hätten sich die russischen Generale niemals zu einem solch tollkühnen Angriff hinreißen lassen. Der größte strategische Vorteil Russlands war die totale Verachtung des Lebens der eigenen Soldaten, kombiniert mit großen Reserven und der Möglichkeit, sich bei Bedarf immer weiter ins Hinterland zurückzuziehen und auf den Winter zu warten.

»Für wen arbeiten Sie, Walther?«, fragte Keyes schließlich, um sich selbst aus der Spirale ihrer eigenen Gedanken zu befreien, von denen sie genau wusste, dass sie sie nirgendwohin führen würden. »BND?«

Er antwortete nicht.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Anders als ihr Amerikaner legen wir in Europa etwas mehr Wert auf Diskretion.«

»Na dann.«

»Wichtig ist, dass ich hier bin«, fuhr er fort. »Wenn die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, spielt es keine Rolle, für wen sie arbeiten oder warum sie tun, was sie tun.«

»Das ist eine sehr nihilistische Lebenseinstellung.«

»Mag sein. Agent Keyes, wie lange sind Sie jetzt bei der CIA?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Beantworten Sie mir einfach meine Frage.«

»Inklusive Ausbildung neun Jahre.«

»Davon im Außendienst?«

»Vier.«

»Ich bin jetzt seit etwas mehr als 30 Jahren im Außeneinsatz«, erwiderte er. »Und ich habe dabei einen Großteil der Welt gesehen. Mit all dem Guten, was sie zu bieten hat, und auch mit all dem Schlechten. Irgendwann versteht man, dass es kein Schwarz oder Weiß gibt, sondern nur Grau. Alles ist Grau. Selbst mit den besten Absichten kann Schreckliches folgen und aus den schlimmsten Taten kann Gutes erwachsen. Das war schon immer so und wird auch immer so sein. Menschen wie Sie und ich erleben das näher und unmittelbarer als alle anderen. Irgendwann werden auch Sie verstehen, dass das Wie und Warum irrelevant sind. Das Ergebnis zählt – und seine Folgen.«

Gerne hätte Keyes etwas geantwortet. Etwas, von dem sie selbst nicht so genau wusste, was es sein sollte. Als Amerikanerin war sie im Glauben an die richtige Sache aufgewachsen. Daran, dass es eindeutig Gutes und eindeutig Böses auf der Welt gab. Dass es gute und schlechte Menschen gab. Ein Glauben, der sich – wie ihr jetzt endgültig bewusst wurde – in der Neuen Welt besser aufrechterhalten ließ als hier. Europa führte die Last vieler Jahrhunderte mit sich; jeder auf diesem Kontinent war gegen die anderen schon irgendwann einmal in irgendeinen Krieg gezogen, und das aus allen nur vorstellbaren Gründen. Vielleicht zog man daraus andere Lehren.

Die nächste Zeit verging praktisch ereignislos. Während sich Keyes mit Hilfe ihres Nachtsichtgeräts immer wieder umschaute und versuchte, mögliche Bedrohungen frühzeitig zu erkennen, lenkte Walther das Quad fast geräuschlos durch die Nacht. Nur vereinzelt erkannte sie russische Militärfahrzeuge, und obwohl nach wie vor das infernalische Tosen der hinter ihnen tobenden Schlacht zu ihnen drang, schienen die Soldaten im Feld keine Verstärkung zu erhalten. Sie waren sich selbst überlassen. Eine Tragödie im Kleinen.

Doch was an russischen Reserven nicht zu sehen war, machten polnische Zivilisten wett. In Autos, auf Fahrrädern und oft genug zu Fuß versuchten sie, nach Westen zu gelangen. Manche schleppten Koffer mit sich, andere trugen außer ihrer Kleidung nichts am Leib. Von Säuglingen bis zu Greisen war alles dabei. Die Gräueltaten, die die russischen Besatzungstruppen seit Kriegsbeginn in der Ukraine anrichteten, ließen keinen Raum für Illusionen.

»Keyes.« Irgendwann hob Walther plötzlich die Hand und deutete auf ein Straßenschild. »Was steht da?«

»Nowomodna.«

»Wunderbar, dann sind wir fast da.« Er beschleunigte. »Etwa vier Kilometer östlich von uns verläuft der Bug. Wir folgen ihm flussaufwärts bis nach Tonkiele. Haben Sie schon einmal auf einen Menschen geschossen?«

»Was?«

»Ob Sie schon einmal auf einen Menschen geschossen haben, will ich wissen. Das Deckungsfeuer vorhin zählt nicht.«

»Ich …«

»Das ist eine Ja-oder-Nein-Frage.«

»Nein. Nein, habe ich nicht.«

»Dann versuchen Sie gleich, die Soldaten nicht als Menschen zu sehen. Sonst gehen Sie daran kaputt.«

»Als was soll ich sie sonst sehen?«

»Als Soldaten. Als der Feind. Einfache Psychologie. Je weiter Sie sie von sich wegschieben, desto leichter wird es. Was fremd ist, tötet man leichter.«

»Ich glaube nicht, dass es so funktioniert.«

»Wirklich nicht?« Er schnaubte amüsiert und lenkte das Quad über ein Feld in Richtung einer Baumreihe, die sich vermutlich am Flusslauf entlang zog. »Japsen, Kraut, Ivan, Charlie? Klingelt da was?«

»Hoffen wir einfach, dass wir niemanden töten müssen.«

»Dann hoffen Sie. Ich handle.«

Mit diesen Worten brachte er das Quad zum Stehen, stieg ab und nahm seine Ausrüstung, ehe er ihr mit einer schnellen Handbewegung bedeutete, ihm zu folgen. Keyes stieg nun ebenfalls ab, doch kaum berührten ihre Stiefel den Boden, fühlten sich ihre Beine mit einem Mal bleischwer an.

»Moment«, flüsterte sie.

»Das ist Boden wie jeder andere.«

»Ja, das weiß ich!«

»Nein, das wissen Sie nicht.« Walther marschierte auf sie zu, trat ihr ruckartig in die Kniekehle und zwang sie zu Boden, nur um dann plötzlich ihre Hand zu packen und sie in den Dreck zu drücken. »Fühlen Sie. Riechen Sie die Luft. Das ist die Erde. Das ist real. Jetzt kommen Sie.«

Er drehte sich um. Und obwohl ihm Keyes mit ungläubig offen stehendem Mund nachstarrte und ihn schon anschreien wollte, spürte sie auf einmal, wie die kurzzeitige Lähmung aus ihren Beinen verschwand. Er hatte recht. Das hier war nicht anders als überall sonst auf der Erde. Sie atmete dieselbe Luft. Alles andere war nur in ihrem Kopf. Und solange man nicht auf sie schoss, gab es nichts, wovor sie sich fürchten musste.

Ein paar Minuten lang folgte sie ihm halb geduckt und von Baum zu Baum huschend, bis sie schließlich die Brücke erreichten, von der er gesprochen hatte. Von seinen Leuten war nichts zu sehen, dafür erkannte Keyes allerdings einen russischen Kontrollposten bei der Brücke, sowie eine große Zahl Zivilisten, die sich dort versammelt hatten und versuchten, weiter nach Westen durchgelassen zu werden.

»Wir können die Brücke nicht sprengen, solange sich noch Zivilisten darauf befinden!«

»Wir müssen.«

»Walther, das kann nicht Ihr Ernst sein!«

»Dann kümmerst du dich darum«, knurrte er. »Ich bringe die Sprengladungen an. Du hast fünf Minuten.«

»Aber …«

Zu mehr kam sie nicht. Walther rannte zu einem der Brückenpfeiler und begann sofort, den Plastiksprengstoff an einer Schwachstelle anzubringen und zu verkabeln. Gottverdammt! Das durfte nicht wahr sein!

Einen winzigen Augenblick lang überlegte sich Keyes, zu ihm zu rennen und ihn aufzuhalten, doch sie wusste längst, dass das keinen Sinn hatte. Wahrscheinlich würde er ihr ins Bein schießen, wenn sie versuchte, ihn zu stoppen. Das bedeutete, sie musste die Zivilisten von der Brücke schaffen. Und zwar schnell.

Vorsichtig huschte sie hinter das ausgebrannte Wrack eines polnischen Militärlasters und sah in Richtung des Kontrollpostens. Etwa 40 Zivilisten standen dort bei drei russischen Soldaten, von denen einer auf sie einredete, während die anderen beiden ihre Gewehre bereithielten. Blutjunge Kerle, vermutlich keine 20 Jahre alt, keine 30 Meter von ihr entfernt. Scheiße, verdammt! Von hier aus hatte sie freies Schussfeld auf sie, aber sie konnte unmöglich …

Plötzlich drei Schüsse in schneller Reihenfolge. Die drei brachen auf der Stelle zusammen. Keyes wirbelte herum. Walther kniete neben ihr, das Gewehr im Anschlag und mit ausdruckslosem Gesicht.

»Schaff die Zivilisten da weg. Vier Minuten.«

»Gottverdammt!« Keyes stand auf und rannte auf die Zivilisten zu. »Weg da! Sofort weg! Ihr … Scheiße! Amerykanski! Amerykanski! Eksplozija!«

Die Zivilisten schienen zu verstehen, was sie ihnen sagen wollte, denn sie verließen sofort die Brücke und brachten sich so schnell wie möglich in Sicherheit. Nur einer von ihnen blieb bei den toten Soldaten stehen und sah ihr entgegen.

»Eksplozija!«, wiederholte Keyes und versuchte vehement winkend, ihn zum Abhauen zu bewegen. »Natychmiast!«

»Soldaten.« Der Kerl deutete auf die andere Seite der Brücke. »Viele Soldaten.«

»Wir sprengen die Brücke. Sie werden nicht …«

»Nein!« Er schüttelte den Kopf und bildete mit Daumen und Zeigefingern ein Dreieck. »Ding. Viele Dinge. Sammeln auf und bringen weg.«

Er deutete in den Nachthimmel.

»Alien-Dinge! Sammelstelle!«

Keyes biss die Zähne zusammen. Im Augenwinkel sah sie, wie Walther auf sie zu trat, den Zünder in der Hand. Wenn der Junge die Wahrheit sagte und die russischen Soldaten auf der anderen Seite des Flusses die Artefakte der Umgebung zusammentrugen, war das vielleicht ihre Chance, herauszufinden, wohin sie sie brachten. Allerdings würde das bedeuten, ihren Kontakt in Pinsk zu ignorieren und die Missionsparameter zu verlassen.

»Deine Entscheidung, Keyes«, raunte Walther. »Aber wenn du gehen willst, dann jetzt.«

Kapitel 10

»I ch habe gerade mit einem meiner Kontakte telefoniert.« Deer setzte sich zu Nick in das kleine Bushäuschen unweit von Kiew und steckte ihr Smartphone in die Tasche. Um diese Uhrzeit fuhr kein Bus mehr und das würde auch die nächsten Stunden so bleiben, weswegen dieser Ort ihr Unterschlupf für die Nacht sein würde. »Ich glaube, ich weiß, wie wir weitermachen.«

»Und wie?«

»Tschernobyl.«

»Tschernobyl?«

»Tschernobyl.« Sie nickte. »Ich habe dort …«

»Ich kriege gerade ein Mega-Déjà-vu«, brummte Nick. »Alien-Artefakte in der Sperrzone. Gab es da nicht mal ein Videospiel?«

»Ich spiele keine Spiele, Nick. Keine Ahnung. Aber ich verspreche dir, dass wir nicht hingehen, um irgendetwas aufzusammeln. Auf eine Strahlenkrankheit kann ich verzichten.«

»Was tun wir dann?«

»Du wüsstest es längst, hättest du mich aussprechen lassen.«

Nick seufzte und hob beschwichtigend die Hände. »Sorry. Also?«

»Seit die Grenzen nach Weißrussland dicht sind, laufen die Rattenlinien über die Sperrzone. Mein Kontakt sagt, dass er uns jemanden vermitteln kann, der uns wiederum in Kontakt mit Abnehmern in Weißrussland bringt. Wir müssen vermutlich einen Teil des Gewinns an Schmiergeldern abtreten, aber unterm Strich dürfte trotzdem genug bei uns hängenbleiben.«

»Das klingt nicht gerade nach einem guten Plan, Deer.«

»Es ist auch keiner.« Sie schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Wasserflasche. »Zu direkt, zu viele Variablen, zu viele Faktoren. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in einem ukrainischen Gefängnis landen oder uns eine Kugel einfangen, ist groß. Trotzdem ist es für den Moment unsere beste und leider auch einzige Chance.«

Sie lehnte sich zurück und legte den Kopf in den Nacken.

»Nick, ich sehe keinen anderen Weg«, fuhr sie mit leiser Stimme fort. »In den NATO-Ländern können wir nicht bleiben. Die Situation ist zu heiß; man wird uns früher oder später erwischen. Russland ist auch keine Option. Aber hier, im Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Weißrussland, können wir das Chaos der letzten Monate und das Sperrgebiet zu unserem Vorteil nutzen. Es ist auch nicht für lange. Das Artefakt, das du aus dem Wald mitgenommen hast, bringt uns eine Starthilfe und …«

»Du hast gesagt, uns eröffnen sich neue Möglichkeiten«, unterbrach er sie tonlos. »Und für mich klingt das nicht so. Deer, hör mir zu. Es geht mir nicht mehr um Geld. Ich will nur noch heil aus der Sache rauskommen – und nach Möglichkeit nicht den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen.«

»Da sind wir schon zwei.«

»Das bezweifle ich, wenn ich ehrlich bin.«

»Ob du es glaubst oder nicht: Ich arbeite bereits an einer Lösung. Ich habe exzellente Kontakte in Osteuropa. Gib ihnen etwas Zeit. Was denkst du, warum ich fließend Russisch spreche? Lass etwas Zeit vergehen und ich kann auch einen Deal mit den USA aushandeln. Du und ich, wir sind verhältnismäßig kleine Fische. Wenn ich sage, an wen ich die Artefakte verkauft habe, kriegen wir vielleicht Immunität.«

»Das ist Wunschdenken, Deer.«

Sie lachte bitter. »Gut. Was schlägst du vor?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich …«

»Das ist mir egal!«, fauchte sie. »Meine Pläne sind anscheinend Schrott, also musst du eine Alternative haben! Ich will wissen, welche!«

»Vergiss es einfach, okay? Es tut mir leid.«

Deer sah aus, als hätte sie nichts lieber getan, als ihm sprichwörtlich an die Kehle zu gehen, doch nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, ließ sie es tatsächlich sein und rückte in eine einigermaßen bequeme Schlafposition auf der abgewrackten Holzbank im Bushäuschen. Keine Chance, darauf zu zweit zu schlafen, aber da Nick sowieso nichts dergleichen vorhatte, stand er auf, sodass zumindest sie ein paar Stunden schlafen konnte.

Er trat nach draußen und sah sich um. Nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt lag Nehrashi, ein kleiner Ort, wie man ihn oft in der Ukraine sah. Nichts Besonderes. Vermutlich hätten sie sogar irgendwo unterkommen können, doch angesichts ihrer mehr als nur ungewissen Zukunft wollte er ihr verbliebenes Geld nicht leichtfertig verschwenden.

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Deers Plan gefiel ihm nicht. Das Problem war noch nicht einmal die Sperrzone von Tschernobyl. Er wusste, dass man sich dort eine Zeit lang verhältnismäßig gefahrlos aufhalten konnte und viele Gebiete mittlerweile nicht mehr extrem verstrahlt waren. Nein, das Problem war vielmehr, dass sie sich in die mehr als nur gefährliche Gemengelage begeben würden, die im gesetzlosen Grenzland zweier Nationen herrschte, die sich de facto seit über einem Jahr in einem nicht erklärten Krieg befanden. Im Hinterland der Vereinigten Staaten herumzurennen und Artefakte zu suchen, war eine Sache und sicher nicht ungefährlich, aber trotzdem etwas ganz anderes als die geballte Macht der osteuropäischen Unterwelt. Vor allem, wenn man wie er kein Wort Russisch oder Ukrainisch sprach.

Allerdings gab es auch etwas anderes, das ihm Kopfzerbrechen bereitete. Seit er die Toten im Wald gesehen hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass hier etwas nicht stimmte. Er konnte zwar nicht sagen, was genau das sein sollte oder wieso er so empfand, aber das Gefühl war trotzdem da. Eine latente, allgegenwärtige Gefahr; die Gänsehaut, die man bekam, wenn man fürchtete, beobachtet zu werden. Das Überbleibsel der Evolution, das jedem Menschen innewohnte, um ihn vor dem zu warnen, was er nicht sah.

Das ganze Land wirkte seltsam … tot. Tot und verlassen, trotz der Menschen und Tiere, die er sah. Dort vorne lag Nehrashi. Als sie vorhin durchgekommen waren, hatte er Männer, Frauen und Kinder gesehen und gehört. Kühe auf den Weiden, das Gackern von Hühnern aus Hinterhöfen. Vögel, die über den Himmel flogen. Alles war, wie es sein sollte, und angesichts des tobenden Krieges beinahe unglaubwürdig friedlich. War das vielleicht der Grund? Die Anspannung des Krieges, das Gefühl, das er selbst nicht kannte und nun zum ersten Mal am eigenen Leib erfuhr?

Nein. Er war sich sicher, dass es einen anderen Grund gab. Einen Grund, der mit dem außerirdischen Schiff zusammenhing, das ganz in seiner Nähe im Orbit der Erde schwebte. Gewundert hätte es ihn nicht. Dieses Schiff und die Artefakte, die es auf die Erde schickte, waren fremd, genau wie die Wesen, die vielleicht mit ihnen gekommen waren. Womöglich nahmen sie ja einen Einfluss auf diesen Teil der Erde, den er zwar bemerkte, aber wegen seiner Fremdartigkeit nicht richtig in Worte fassen konnte. Er wusste es nicht.

Eine ganze Zeit lang stand er vor dem Bushäuschen und ließ seine Gedanken schweifen, während immer mal wieder das leise Schnarchen Deers zu ihm drang. Sie war das nächste Rätsel, das ihn begleitete. Dass ihre gefasste und distanzierte Art am Bröckeln war und immer wieder vollends kollabierte, war kein Geheimnis mehr, genauso wenig wie der Umstand, dass sie vollkommen die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte. Sie mochte es zwar nicht zugeben, aber sie brauchte ihn. Vermutlich war er der letzte … Mitarbeiter, der ihr geblieben war. Vielleicht sogar der letzte Mensch. Er verstand, dass er sie ganz objektiv brauchte, genau wie sie ihn. Sie konnte mit den Menschen hier kommunizieren, sie besaß ein Netzwerk. Trotzdem. Warum ließ er sie nicht einfach zurück?

Plötzlich Scheinwerfer auf der Straße. Ein Lastwagen, der schnell näherkam. Nick sah ihm entgegen, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Das Licht fiel längst auf ihn und er wollte nicht den Eindruck erwecken, als wollte er sich verstecken. Nicht, dass man ihn für einen russischen Spion hielt. Aber ganz wie befürchtet, fuhr der Laster nicht am Bushäuschen vorbei, sondern hielt direkt davor an – und jetzt erkannte Nick, dass es sich um ein Militärfahrzeug handelte.

Scheiße.

»Pryvit, brat!« Ein Soldat stieg aus dem Führerhaus, ein älterer Kerl mit abgetragener, verdreckter Uniform und dermaßen mächtigem Bart, dass er in einem Wikingerfilm hätte mitspielen können. »Vse …«

»Äh … Ni ukrayins’ka?«, stammelte Nick und versuchte angestrengt, sich an die Wortfetzen zu erinnern, die er bei Deer aufgeschnappt hatte. Deer, die nach wie vor schnarchend hinter ihm schlief. Das konnte nicht ihr Ernst sein! »Äh … Amerikaner? Amerikanski? Verstehst du mich?«

»Amerikaner?«, raunte der Kerl mit einem breiten Grinsen. »Ich spreche. Nicht gut, aber ich spreche. Was machst du in der Nacht hier? Hast du kein Bett?«

»Nein. Wir sind auf dem Weg nach Norden.«

»Nach Norden? Seid ihr CIA?«

»Ja.« Plötzlich trat Deer zu ihm und streckte dem Soldaten die Hand hin. Dafür, dass sie buchstäblich erst in den letzten fünf Sekunden aufgewacht sein konnte, sah sie überraschend wach aus. Einzig ihre Augenringe zeugten von ihrer Müdigkeit. »Wir sind von der CIA. Wir müssen nach Norden. Nach Iwankiw. Leider ist unsere Mitfahrgelegenheit nicht gekommen. Könnt ihr uns aushelfen?«

Der Soldat hob die Hand und bedeutete ihnen, einen Moment zu warten, ehe er zurück in den Laster stieg und schnell ins Funkgerät redete. Deers Blick verriet Nick augenblicklich, dass sie konzentriert versuchte, so viel wie möglich zu verstehen.

»Und?«, raunte er.

»Er sagt gerade seinem Kommandanten, dass er zwei Amerikaner gefunden hat, und fragt, was er mit ihnen machen soll, aber ich verstehe nicht, was sein Boss antwortet.«

»Sollen wir abhauen?«

»Du weißt, dass der Kerl bewaffnet ist, oder? Wenn wir abhauen, hält er uns für russische Agenten und schießt uns in den Rücken. Wir …«

»Okay!« Der Soldat sprang wieder aus dem Führerhaus. »Kommandant sagt, ich bringe euch nach Norden. Iwankiw. Springt rein!«

Er deutete auf die von einer Plane bedeckte Ladefläche.

Deer zog ihren Geldbeutel aus ihrer Hose und drückte ihm ein paar hundert Hrywnja in die Hand. »Danke.«

Nur Sekunden später saßen sie bereits auf der Ladefläche des Lasters neben zwei gelangweilt dreinblickenden Soldaten und einigen Kisten voller Munition. Nick warf Deer einen vielsagenden Blick zu, den sie grinsend erwiderte. Er musste zugeben, dass das eine ordentliche Improvisation gewesen war. Vor allem ihr Tonfall war derart überzeugend gewesen, dass er selbst versucht gewesen war, ihr zu glauben, dass sie zur CIA gehörte. Wobei es ihn mittlerweile nicht einmal gewundert hätte, wenn das der Fall gewesen wäre.

Der Motor heulte auf und der Laster setzte sich in Bewegung. Es war eine alles andere als angenehme Fahrt, aber dafür, dass sie in einem mindestens 50 Jahre alten Laster saßen, der noch von den Sowjets gebaut worden war, ging es eigentlich. Der Fahrer nahm zwar jedes Schlagloch mit, was angesichts der Artilleriegranaten auf der Ladefläche eine optimistische Herangehensweise ans Leben war, aber abgesehen davon geschah nichts Bemerkenswertes.

»Amerikaner also?«, brummte irgendwann einer der beiden Soldaten neben ihnen mit starkem Akzent. »Was führt euch in ein Kriegsgebiet? Müsstet ihr nicht Europa verteidigen?«

»Du sprichst gut Englisch«, stellte Nick fest.

»Vor dem Krieg war ich Übersetzer«, antwortete er. »Also? Was habt ihr im Norden der Ukraine verloren?«

»Wir sind von der CIA und …«

»Ihr wisst genauso gut wie ich, dass das eine Lüge ist«, schnaubte er. »Dmytro da vorne ist ein Lamm. Er glaubt alles, was man ihm erzählt. Was meint ihr, warum er im Hinterland Laster fährt?«

Er entsicherte die Kalaschnikow in seinen Händen.

»Also?«

»Wir sitzen auf Tonnenweise Munition!«, fauchte Deer sofort.

»Ich jage lieber einen Laster in die Luft, als russischen Spionen dabei zu helfen …«

»Okay!«, sagte Nick, noch bevor Deer etwas erwidern konnte, und hob entwaffnend die Hände. »Ist gut! Wir sind nicht von der CIA. Wir versuchen nur, irgendwie am Leben zu bleiben.«

Der Soldat seufzte leise. »Ihr seid hinter den Artefakten her, oder? Von Iwankiw wollt ihr weiter nach Tschernobyl.«

»Woher …«

»Denkst du, wir wissen nicht, was los ist?«, unterbrach er ihn. »Seit dieses gottverdammte Schiff über dem Schwarzen Meer aufgetaucht ist, dreht die ganze Welt durch. Die Leute schlagen sich die Köpfe ein, um an die Artefakte zu gelangen. In der Sperrzone ist der größte Umschlagplatz für das Zeug. Zumindest erzählt man sich das.«

»Was soll das denn heißen?«

»Bisher ist keiner zurückgekommen, der dorthin wollte.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Ist das so? Weißt du was, Amerikaner? Das ist mir egal. Wir haben hier unsere Heimat zu verteidigen. Wenn wir eine Sache nicht gebrauchen können, dann sind es geldgeile Idioten, die versuchen, das Land auszuplündern. Geht nach Tschernobyl. Die Sperrzone ist schon für viele zum Grab geworden. Ihr werdet keine Ausnahme sein.«

»Also wirst du uns nicht …«

Er schnaubte. »Warum sollte ich mir die Hände schmutzig machen, wenn es die Zone für mich erledigt? Geht nach Norden, Amerikaner, und erstickt an euren Artefakten.«

*****

Da waren sie also. Am Rand der Sperrzone von Tschernobyl. An dem Ort, an dem vor ein paar Jahrzehnten beinahe die Welt geendet hätte. Der Ort, der selbst heute als einer der am schlimmsten verstrahlten Punkte des Planeten galt; der Ort, um den sich unzählige Mythen und Legenden rankten. Nicht nur war die Zone ein radioaktives Niemandsland, in dem nur wenige Dutzend Menschen lebten, nein, mittlerweile war sie auch ein Grenzland, über das der Krieg nicht nur einmal, sondern gleich zweimal hereingebrochen war: beim russischen Angriff 2022 und bei der ukrainischen Gegenoffensive wenig später.

Aus Gründen, die sich Nick selbst nicht erklären konnte, hatten die Soldaten sie nicht nur nach Iwankiw gefahren, sondern zum Rand der Sperrzone gebracht, direkt vor einen der alten Kontrollposten, die seit Beginn des Krieges nicht mehr bemannt wurden. Und als seine Stiefel nun den Boden dieses fremden, lebensfeindlichen Ortes berührten, fühlte er sich mit einem Mal unglaublich schäbig. Der Soldat hatte recht. Während die Ukraine seit über einem Jahr ums Überleben kämpfte und sich praktisch allein der geballten Kriegsmaschinerie Russlands entgegenstellte, die Männer des Landes bereitwillig an die Front zogen und ihre Leben gaben, kamen er und Deer, um Gewinn zu machen. Um Artefakte zu sammeln, die nicht ihnen gehörten, und das Chaos dieses geschundenen Landes zu nutzen, um ihre eigene Haut zu retten.

Der Lastwagen war längst verschwunden, als es ihm zum ersten Mal gelang, sich aus der gedankenverlorenen Trance zu befreien, die ihn überkommen hatte. Sie waren hier. Tatsächlich hier. Es fühlte sich an wie ein Albtraum, der einfach nicht enden wollte, obwohl er erst begann. Immer tiefer glitt er hinab in diesen Abgrund, umschlungen von Ereignissen, die er schon lange nicht mehr kontrollieren konnte. Eine Spirale der Eskalation, die immer schneller rotierte, je verzweifelter er versuchte, sich zu befreien. Es kam ihm vor wie gestern, als Chester in die Kneipe in Tombstone gekommen und sich zu ihm gesetzt hatte.

Sein Blick wanderte zu Deer, die ein paar Meter von ihm entfernt stand und hektisch in ihr Telefon redete. Da sie dabei Russisch sprach, verstand er selbstverständlich kein Wort, aber das musste er auch nicht, denn ihr Tonfall allein genügte, um ihm alles zu sagen, was er wissen musste. Irgendetwas stimmte nicht. Natürlich nicht. Dass endlich mal etwas nach Plan funktionierte, hätte ihn auch zu sehr gewundert.

Da Deer zumindest im Moment keine Anstalten machte, das Gespräch in absehbarer Zeit zu beenden, entfernte er sich ein paar Meter von ihr und sah sich um. Die Straße, an der sie standen, führte kerzengerade in Richtung Norden und wurde von einem dichten Wald eingerahmt. Von hier aus waren es gut 30 Kilometer bis zum havarierten Kernkraftwerk. Keine Chance, dass es in dieser Gegend allzu gefährliche Strahlungswerte gab. Trotzdem fühlte sich Nick, als würde ihm mit jedem einzelnen Atemzug schlecht werden. Einbildung, nichts weiter.

Wie zum Teufel sollte es nur weitergehen? Selbst wenn Deer am Telefon etwas erreichte – was dann? Würden sie sich von Tag zu Tag durchschlagen, niemals wissend, wo sie landeten, irgendwelchen Kriminellen und vermutlich sogar der russischen Mafia ausgeliefert? Verdammt, was sollten sie tun, wenn irgendwann der Krieg auch diesen Teil der Erde erreichte? Wenn Panzermassen auffuhren und Kampfflugzeuge den Himmel dominierten? Nein. Sie brauchten eine andere Lösung. Nicht zwangsläufig etwas Dauerhaftes, aber zumindest etwas anderes als jetzt.

Plötzlich bemerkte Nick ein schwaches Schimmern bei einem Baum, etwa 50 Meter von ihm entfernt. Etwas Metallisches. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen, hatte aber keine Chance. Vorsichtig trat er näher und achtete dabei konzentriert darauf, nicht aus Versehen auf irgendwelche Kampfmittel zu treten, die womöglich in diesem Gebiet zurückgeblieben waren.

Das war ein Artefakt. Obwohl er außer dem Schimmern nichts Genaueres erkennen konnte, war er mit jeder Faser seines Körpers davon überzeugt. Sein sechster Sinn, wenn man so wollte. Und tatsächlich: Als er den Baum erreichte, lag dort ein Alien-Artefakt unmittelbar an seinem Stamm. Aber etwas war anders. Nicht nur schimmerte es weißlich und nicht violett, sondern auch die Sonneneinstrahlung reichte nicht einmal ansatzweise aus, um eine so intensive Reflexion zu erklären. Beinahe schien es, als …

Plötzlich durchzuckte ein leises Geräusch die Luft, so plötzlich und unvermittelt, dass er auf der Stelle zusammenfuhr und herumwirbelte, nur um dann zu begreifen, dass es aus seinem Rucksack kam. Das andere Artefakt! So schnell er nur konnte, zog er ihn ab und trat ein paar Schritte zurück. Sein Herz raste; er erwartete bereits irgendeine Form von Reaktion, doch stattdessen ertönte einfach nur ein weiteres Mal das Geräusch. Es klang wie splitterndes Glas. Das leise Klirren, mit dem sich ein Riss in einer Fensterscheibe ausbreitete.

Nick schluckte schwer. Er wartete ein paar Sekunden ab, trat dann jedoch zum Rucksack und öffnete ihn vorsichtig. Eine sichtbare Reaktion seines Artefakts war nicht festzustellen, allerdings fühlte sich die Rettungsdecke, die er um es herum gewickelt hatte, seltsam warm und stellenweise sogar heiß an. Vorsichtig packte er es aus. Genau wie das Artefakt am Baum schimmerte es ebenfalls intensiv weiß.

Es gehörte nicht viel dazu, sich das zu erklären: Die Artefakte reagierten auf Strahlung. Die normale Hintergrundstrahlung, die man überall auf der Welt abbekam, reichte dafür anscheinend nicht aus, aber hier, am Rand der verstrahlten Sperrzone, musste das Niveau ausreichend hoch sein. Was aber geschah gerade? Was hatte das zu bedeuten?

Gebannt und fasziniert starrte er auf die beiden Artefakte. Immer wieder ertönte das leise Klirren, allerdings konnte er weder eine Regelmäßigkeit noch eine Erklärung dafür feststellen. Offensichtlich waren diese Objekte in der Lage, die Energie der Strahlung in Licht umzuwandeln. War das Geräusch womöglich ein Nebenprodukt dieses Vorgangs? Aber was, wenn sogar das Licht nur Nebenprodukt von etwas ganz anderem war? Von etwas, das er mit seinen Sinnen nicht erfahren konnte?

»Deer!«, rief er, ohne sich nach ihr umzusehen. »Deer! Komm her, das musst du sehen!«

Vorsichtig führte er das Artefakt aus seinem Rucksack näher an das andere heran, allerdings führte das zu keiner sichtbaren Reaktion. Anscheinend waren diese Dinger nicht miteinander verbunden und verstärkten gegenseitig auch nicht den Effekt der Strahlung. Nick fluchte leise. Viel hätte er gerade für einen Geigerzähler gegeben. Hier draußen konnte die Strahlung auf keinen Fall besonders hoch sein. Was aber war im Kern der Sperrzone? Im havarierten Reaktor? Wenn sich bereits hier eine solche Reaktion feststellen ließ …

»Deer?« Er sah sich nach ihr um, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Wo zum Teufel war sie? »Deer!«

Jetzt endlich sah er, wie sie hinter einem der Gebäude des Kontrollpostens hervortrat.

»Wo warst du?!«

»Auch ich muss mal aufs Klo«, knurrte sie und marschierte auf ihn zu. »Was hast du? Was … Großer Gott!«

»Jup.«

»Was … Wie …«

»Ich bin mir nicht sicher, was gerade passiert.« Nick schüttelte den Kopf. »Aber die radioaktive Strahlung ist garantiert der Grund dafür.«

»Das ist unglaublich.« Sie streckte die Hand aus. »Das …«

»Bist du bescheuert?!«, rief Nick und schlug ihr die Hand weg. »Wenn du das Artefakt berührst, könntest du sterben!«

»Ich glaube nicht, dass das passieren würde.«

»Und wie um alles in der Welt kommst du zu dieser Gewissheit?«

»Es ist nur ein Gefühl«, flüsterte sie. »Nenn es Intuition.«

»Ich werde nicht zulassen, dass du es berührst!«

»Ist ja schon gut.« Sie trat demonstrativ einen Schritt zurück und hob die Hände. »Zufrieden? Was tun wir jetzt?«

»Wir nehmen sie mit. Was sagen deine Kontakte?«

Sie schwieg.

»Deer?«

»Wir haben zwei Optionen«, knurrte sie zähneknirschend. »Mein Kontakt sagt, dass der einzige verbliebene Abnehmer für die Artefakte das russische Militär ist. Die Konditionen sind gut, aber …«

»Wenn wir an die Russen verkaufen, wird man sie früher oder später einsetzen, um die USA anzugreifen«, führte Nick ihre Aussage weiter. »Dabei werde ich nicht helfen.«

»Das dachte ich mir.«

»Was ist Option zwei?«

»Wir brechen ab. Unser verbliebenes Geld reicht für ein Busticket nach Kiew.«

»Und dann?«

»Naja.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das war’s dann. Wir gehen zur amerikanischen Botschaft und stellen uns. Nick, ich muss mich entschuldigen.«

Nick sagte nichts.

»Ich habe mit nichts hiervon gerechnet«, fuhr sie tonlos fort. »Nicht damit, dass ich auffliegen würde und fliehen muss, nicht damit, dass mein komplettes Netzwerk in Osteuropa kollabiert und unter die Kontrolle der Russen gerät. Als ich dir bei der Flucht geholfen habe, sah die Welt komplett anders aus. Aber jetzt … Jetzt weiß ich ganz ehrlich nicht weiter.«

»Du hast wirklich nichts? Bevor wir auf die Soldaten getroffen sind, hat sich das ganz anders angehört!«

»Ich nehme an, dass mich mein Kontakt belogen hat«, flüsterte sie.

»Belogen? Warum?«

»Damit wir herkommen.«

»Was?« Nick kniff die Augen zusammen. »Das macht doch überhaupt keinen Sinn!«

»Doch, macht es.« Sie holte tief Luft. »Nick, ich genieße einen gewissen Ruf in den Kreisen, in denen ich üblicherweise verkehre. Meine Stellung und Kontakte sind viel wert. Jetzt und hier wurde ich mattgesetzt. Kooperiere ich mit dem russischen Militär, bin ich am Arsch. Kehre ich um, bin ich genauso am Arsch. Ich kann eigentlich nur an die Russen verkaufen.«

Nick öffnete den Mund, doch kein Ton verließ seine Kehle. Was hätte er auch sagen sollen? Dass sie beide aus den USA geflohen waren, weil ihnen die gottverdammte CIA auf den Fersen war? Dass es Deer gewesen war, die ihn quer über den Atlantik mitten in ein Kriegsgebiet gescheucht hatte? Dass er ihretwegen überhaupt erst in diese ganze Scheiße reingeraten war? Dass es ihr Plan gewesen war, nach Tschernobyl zu fahren, dem lebensfeindlichsten Ort des Planeten? Oder dass es für ihn schwer vorstellbar war, dass er das alles umsonst auf sich genommen haben sollte?

Schließlich schüttelte er einfach nur den Kopf, sammelte beide Artefakte ein und verstaute sie in seinem Rucksack. Er war hier fertig. Es gab keinen Grund mehr, sich von Deer herumkommandieren zu lassen, auch wenn er das Gefühl nicht loswurde, dass er sie seit seiner Ankunft in Rumänien vielmehr mit sich herumschleppte. Es gab nichts mehr, was sie für ihn tun konnte, und er war es leid, von einer Notlösung in die nächste zu stolpern.

»Wohin gehst du?!«, rief Deer, kaum hatte er sich umgedreht und lief los. »Nick, was ist los?!«

»Ich bin fertig«, antwortete er nur.

»Fertig?! Womit?«

»Mit dir, Deer. Mit dir. Ich bin raus.«

»Du kannst nicht einfach …«

»Doch. Doch, das kann ich. Du hast keinen Plan. Du hast keine Ahnung, was wir tun sollen, bist aber zu eitel, es dir einzugestehen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es deine sogenannten Kontakte wirklich gibt oder du einfach nicht zugeben kannst, dass du am Arsch bist.«

»Was? Aber … Du … Willst du mich einfach hier zurücklassen?«

»Jup.«

»Das kannst du nicht tun!«

»Ich tue es gerade.«

»Nick!« Plötzlich ihre Hand an seinem Arm. Ihre Stimme zitterte. »Nick, bitte. Lass mich nicht allein!«

»Deer.« Er schloss einen winzigen Moment lang die Augen, versuchte, sich so gut wie möglich zu beruhigen, und drehte sich zu ihr um. Sie weinte. »Wir sind am Arsch. Und wir sind nur deswegen am Arsch, weil du uns den ganzen Weg hier raus hast machen lassen. Ohne dich wäre ich nach wie vor in den USA. Vielleicht im Gewahrsam irgendwelcher Geheimdienste, aber das wäre tausendmal besser als das hier! Und weißt du, warum? Weil ich ihnen sagen könnte, dass du mich zu diesem ganzen Wahnsinn gezwungen hast! Nenn mir einen Grund – einen einzigen Grund – warum ich auch nur eine weitere Sekunde bei dir bleiben sollte!«

Sie sah zu Boden.

»Es gab nie eine andere Option, als für die Russen zu arbeiten, oder?«, flüsterte er. »Das war von Anfang an dein Plan. Du hast mich belogen.«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich hatte keine andere Wahl.«

»Bullshit!«

»Zwei Tage, bevor du mich zum ersten Mal kontaktiert hast, wurde ich von einem russischen Agenten angesprochen. Er muss meine Nummer über einen meiner Klienten bekommen haben. Er hat mir viel Geld für die Artefakte geboten. Bedingung war, dass ich möglichst viele davon beschaffe. Für mich war das nichts weiter als ein gutes Geschäft. Ich habe es nicht hinterfragt. Was denkst du, woher ich die ganzen Insider-Informationen hatte? Er hat sie mir gegeben. Er war es auch, der mich vor dem Zugriff der CIA gewarnt hat; er hat dafür gesorgt, dass wir beide außer Landes kommen. Eigentlich sollten uns seine Leute in Rumänien abholen, aber sie sind nicht gekommen. Danach hat er mir gesagt, dass ich mich auf den Weg nach Tschernobyl machen soll.«

»Und warum bin ich hier? Wofür zum Teufel brauchst du mich?!«

»Ich wollte meine Fehler wiedergutmachen.«

»Bitte was?!«

»Du wurdest gegen deinen Willen in diese Sache hineingezogen. Ich habe dich gezwungen, weiterzumachen. Ich wusste, dass ich in den USA nicht mehr viel für dich tun könnte. Da du auf eigene Faust zur Teton Range gefahren bist, bist du den Agenten kurzzeitig entkommen, die dir auf den Fersen waren, aber früher oder später hätten sie dich erwischt. Das hier war nur mein Versuch, mich zu entschuldigen.«

»Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Doch, ist es.«

»Das hast du gehörig versaut.«

»Ich weiß.«

»Und was jetzt? Was willst du jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht, Nick. Wirklich nicht.«

Kapitel 11

D a vorne waren sie, nur wenige Dutzend Meter von Keyes entfernt. Vier Lastwagen alter sowjetischer Bauart, die mit laufenden Motoren am östlichen Ortsrand von Tonkiele warteten. Fünf Soldaten in Schutzanzügen verluden in diesen Augenblicken einige schwere Metallkisten. Artefakt-Behälter. Selbst auf die Entfernung erkannte Keyes, dass sie mit polnischen Hoheitszeichen versehen waren. Offensichtlich hatte die polnische Regierung sie bereits eingesammelt. Ob die Russen einen entsprechenden Konvoi gestoppt hatten, als dieser versucht hatte, sich nach Westen zurückzuziehen? Gewundert hätte sie es nicht.

Doch ganz gleich, auf welchem Weg die Soldaten die Artefakte auch erlangt hatten: Sie waren ihr Ticket, mehr über die russischen Forschungen herauszufinden. Schon jetzt bestätigte das, was sie sah, die Befürchtungen der amerikanischen Regierung. Die Russen forschten an den Artefakten – und dafür brauchten sie anscheinend große Mengen davon. Wenn sie sogar Einheiten aufboten, die eigens diesen Zweck zu erfüllen hatten, war die Situation ernst. Verdammt, was, wenn sie diesen Krieg nur begonnen hatten, um mehr Artefakte in die Finger zu kriegen?

Keyes fasste an ihre Weste und wollte schon ihr Satellitentelefon hervorziehen, hielt dann jedoch inne. Die Verbindung war zwar verschlüsselt, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr trotzdem, dass sie nichts riskieren sollte. Zumindest nicht jetzt. Wenn die Russen auch nur einen Funken Verstand besaßen, wussten sie, dass der Westen versuchen würde, ihnen die Artefakte nicht in die Hände fallen zu lassen oder über Gegenspionage etwas über ihre Forschungen herauszufinden. Das hier war eine Chance, die sie sich niemals erträumt hätte. Sie durfte das nicht durch einen Kontaktversuch zum Op-Com riskieren.

Vorsichtig huschte sie näher heran, das Gewehr im Anschlag und konzentriert auf ihre Umgebung achtend. Außer den fünf Soldaten konnte sie nichts erkennen, aber das musste nichts heißen. Im besten Fall waren sie tatsächlich allein, da die Front weiter westlich verlief, aber es war nicht unwahrscheinlich, dass sich ganz in der Nähe eine Sicherungseinheit aufhielt. Man durfte sie unter keinen Umständen bemerken.

Hinter einem zerschossenen Baum hielt sie inne und sah sich ein weiteres Mal um. Außer den fünf Soldaten schien tatsächlich niemand hier zu sein – und da diese gerade damit fertig geworden waren, die Kisten zu verladen, und entsprechend ihre Schutzausrüstung ablegten, war das ihre Chance, auf die Ladefläche eines Lasters zu gelangen!

So schnell und leise, wie sie nur konnte, huschte sie zu einem der Lastwagen. Ein uraltes Modell, wuchtig und grobschlächtig – und damit genau das, was sie brauchte. Während die Soldaten lauthals fluchend versuchten, aus ihren Anzügen zu kommen, kletterte sie über einen Reifen auf die Ladefläche, schlüpfte unter der Plane hindurch und kauerte sich hinter eine der Kisten, nur um sofort zwei Peilsender aus ihrer Tasche zu ziehen. Einen davon heftete sie neben die Verankerung der Plane und den anderen an eine der Kisten.

Kaum hatte sie sie aktiviert, donnerte auf einmal eine peitschende Explosion durch die Luft. Walther musste die Brücke gesprengt haben.

»Oi blyat!«, hörte sie einen der Soldaten rufen. »Dawai, dawai, dawai!«

Die Motoren der Laster heulten auf, doch der, auf dem sie sich befand, schien Startschwierigkeiten zu haben. Immer wieder versuchte der Fahrer, den Motor zu starten, nur um jedes Mal lauthals zu fluchen, wenn die Maschinerie mit einem erbärmlichen Gluckern absoff. Verdammt, das durfte nicht wahr sein! Wenn der Laster nicht ansprang und sie die Kisten verluden, war sie erledigt.

Plötzlich ein Geräusch unmittelbar neben ihr. Sie zog schon ihre Pistole, um sich zu verteidigen, doch dann spürte sie auch schon eine Hand an der Waffe und eine andere, die auf ihren Mund gedrückt wurde.

»Alles gut«, hauchte Walther und setzte sich neben sie. »Ich bin’s.«

»Walther?!«

»Ich habe den ganzen Sprengstoff gebraucht, um die Brücke in die Luft zu jagen«, wisperte er. Jetzt endlich gelang es dem Soldaten, den Laster zu starten, und keine Sekunde später setzten sie sich auch schon in Bewegung. »Ohne die anderen kann ich meinen Einsatz vergessen. Aber du siehst aus, als könntest du etwas Hilfe brauchen.«

»Du verstehst aber, dass wir tief hinter die feindlichen Linien fahren, oder?«, fragte Keyes leise. »Ich habe keine Ahnung, wohin uns diese Laster bringen, und weiß nicht, was uns erwartet. Es kann sein, dass wir nicht zurückkommen.«

»Es ist Krieg, Keyes«, erwiderte er. »Es gehört dazu, dass man vielleicht nicht zurückkommt. Wollten wir uns gegenseitig die Schädel einschlagen und abends nach Hause gehen, wären wir in einem Boxkampf.«

»Kein besonders guter Vergleich.«

»Gut genug.«

»Warum nennst du mich eigentlich Keyes, obwohl du mich duzt?«

»Veronica klingt so förmlich.«

»Aha.«

»Kennst du das nicht?« Er klang amüsiert. »Dass zu manchen ihr Nachname einfach besser passt? Ich hatte einen Freund in der Schule. Jeder hat ihn immer Schmidt genannt, sogar die Lehrer. Ich weiß nicht einmal mehr, wie er mit Vornamen hieß.«

Keyes überlegte sich, etwas zu erwidern, ließ es dann jedoch sein. Es schien ihr gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um über sowas zu sprechen, schließlich saßen sie auf der Ladefläche eines russischen Armeelasters, der vermutlich zu einer streng geheimen Forschungseinrichtung fuhr. Das war nicht der Ort, um über sowas zu reden – ganz davon abgesehen, dass um sie herum dutzende Artefakte lagen. Wenn nicht noch mehr.

Schließlich beugte sie sich über eine der Kisten und öffnete vorsichtig den Verschluss. Zum Vorschein kamen drei Artefakte, die in eigens dafür konstruierten Halterungen saßen. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Drei Artefakte pro Kiste. Allein auf diesem Laster lagen gut 20 Kisten. 60 Artefakte. Angenommen, die Soldaten hatten sie gleichmäßig auf die fünf Laster verteilt, machte das gut 300 Artefakte – und damit vermutlich so gut wie alle, die über Polen runtergekommen waren. Irgendwo ganz in der Nähe musste sich also ein polnisches Labor oder tatsächlich ein überfallener Militärkonvoi befinden.

»Walther, eine Frage«, sagte sie leise, während sie die Kiste wieder verschloss, und warf dem Deutschen einen kurzen Blick zu. »Als wir uns in Rumänien getroffen haben, hast du die Auswirkungen des Artefakts nicht gespürt. Das heißt, du warst schon einmal einem ausgesetzt.«

»Das ist richtig.«

»Wo?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Nicht unbedingt, aber es gefällt mir nicht, dass ich so gut wie nichts über dich weiß.«

»Falls du dich jemals gefragt hast, warum deine Leute mich beauftragt haben, dich nach Rumänien zu bringen, dann ist das die Antwort. Ich weiß, wie man den Mund hält. Aber um deine Seelenpein ein wenig zu lindern: Ich habe eine Bergungsoperation der Bundeswehr in der Nähe von Berlin begleitet, ganz am Anfang, als die ersten Artefakte aufgetaucht sind. Das war meine Feuertaufe, wenn du so willst.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Dich als Mensch. Ich verstehe dich nicht. In Rumänien dachte ich, du bist eine Art Söldner, vorhin war ich mir sicher, dass du zu einer Spezialeinheit gehörst, und jetzt bin ich mir nicht sicher, ob du nicht eher vom Geheimdienst bist.«

»Deine Vermutungen sind so richtig, wie sie falsch sind, Keyes. Aber du machst dich umsonst verrückt. Zum einen werde ich es dir ohnehin nicht sagen und zum anderen spielt es keine Rolle. Dich interessiert das nur, damit du mich in eine Schublade packen kannst. Du willst mich einschätzen und versuchen, meine nächsten Schritte herauszufinden. Das kannst du so oder so nicht. Wichtig ist nur, wo ich bin und was ich tue. Und gerade passe ich auf dich auf.«

»Du passt auf mich auf?«

»Vier Augen sehen mehr als zwei. Und wenn die Nacht Russisch spricht, sollte man vorsichtig sein.«

Keyes schwieg und überprüfte die Peilsender an der Kiste und am Laster, bevor sie sich schließlich zurücklehnte und versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Es gelang ihr nicht. Zu viele Gedanken schwirrten durch ihren Kopf und auch die Situation selbst machte es unmöglich, sich zu beruhigen. Die Laster fuhren tief ins russische Hinterland, vermutlich zu einer geheimen Forschungsanlage oder einer Militärbasis. Das bedeutete, sie durfte den richtigen Moment zum Absprung unter keinen Umständen verpassen. Denn wenn man sie erst einmal auf dem Gelände entdeckte, konnte sie sich nur den Weg freischießen – wenn überhaupt.

Doch zumindest bisher sah es nicht danach aus, als würden sie in absehbarer Zeit ankommen. Die Laster fuhren und fuhren, vorbei an zerstörten polnischen Dörfern, ausgebrannten Militärfahrzeugen und Leichen gefallener Soldaten. Alle paar Minuten warf Keyes einen Blick unter der Plane hindurch auf die Straße und den vor ihnen liegenden Weg. Immer wieder passierten sie auch Kontrollposten, die sie jedoch allesamt durchwinkten.

»Babrujsk«, sagte Walther irgendwann, nachdem er ebenfalls einen Blick aus dem Laster riskiert hatte. »Wir fahren nach Babrujsk.«

»Woher weißt du das?«

»Da hinten war das Ortsschild von Staryya Darohi.«

»Ich bezweifle, dass deine Ortskenntnis von Weißrussland so gut ist, dass du das einfach so weißt. Was ist in Babrujsk?«

»Ein Labor aus Sowjetzeiten, das nach dem Zerfall des Ostblocks weiterhin genutzt wurde. Offiziell natürlich von Weißrussland, aber de facto von Russland. Sobald sie befürchten, dass die Forschung irgendwie durchsickern könnte, oder sie aus anderen Gründen besondere Diskretion verlangt, verlagern sie sie nach Babrujsk. Man kann von Weißrussland halten, was man will, aber wenn man etwas geheim halten will, dann ist man hier an der richtigen Adresse.«

»Und hast du noch weitere Informationen?«

»Nicht viele. Ich weiß nur, dass es da eine Forschungseinrichtung gibt, aber das war’s auch schon. Verdammt, wenn ich meine Leute hier hätte, könnte ich jede Menge Schaden anrichten.«

»Wir werden nichts dergleichen tun!«, fauchte Keyes. »Ich brauche Informationen! Du …«

Plötzlich verlangsamte der Lastwagen seine Fahrt – und zwar so stark, dass das nur einen weiteren Stopp bedeuten konnte. Sofort beugte sich Keyes zur Seite und warf einen weiteren Blick unter der Plane hervor, nur um gut 20 Soldaten zu erblicken, die in voller Ausrüstung neben einem bunkerartigen Kontrollposten standen und mit dem Fahrer des Führungsfahrzeugs redeten. Hinter ihnen erkannte sie vor allem Wald. Irgendwo dahinter musste das Forschungslabor liegen, von dem Walther gesprochen hatte.

Auf einmal traten fünf der Soldaten um den ersten Laster herum, kletterten auf seine Ladefläche und begannen, die Kisten zu öffnen, während die Fahrer der anderen Fahrzeuge die Motoren ausschalteten und ausstiegen. Scheiße, verdammt!

»Wir müssen verschwinden!«, zischte Keyes. »Sie durchsuchen die Laster!«

Walther sagte nichts, sondern stand augenblicklich auf und trat ans hintere Ende der Ladefläche, wo er mit erhobener Waffe einen Blick nach draußen warf. Die Luft schien sauber zu sein, denn er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und sprang vom Laster. Keyes zögerte keine Sekunde und huschte geduckt die leicht abfallende Straße hinunter, über die sie gekommen waren, bis sie schließlich genug Distanz zwischen sich und den Kontrollposten gebracht hatten und sich nicht mehr im Sichtfeld der Soldaten befanden.

Sie schaute sich um. Abgesehen von ein paar brachliegenden Feldern gab es nichts in ihrer unmittelbaren Umgebung. Das war gut, senkte es doch die Wahrscheinlichkeit, dass man sie entdeckte. Jetzt mussten sie nur noch einen Weg ins Forschungslabor hineinfinden. Nur wie? Im Wald gab es mit Sicherheit einen Elektrozaun, der die Wachposten alarmieren würde, wenn sie versuchten, ihn zu überwinden und ihn dabei kurzschlossen. Vermutlich war auch der Wald selbst vermint. Und niemand konnte absehen, wie viele Wachen sich auf dem Gelände befanden.

»Wir brauchen eine Ablenkung«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu Walther. »Etwas Großes.«

»Mich.«

»Was?«

»Mich«, wiederholte er. »Ich werde das tun. Da vorne rechts ist eine kleine Anhöhe – von dort aus habe ich freie Sicht auf den Kontrollposten. Soweit ich gesehen habe, gibt es vier Kameras. Die Schalte ich aus. Anschließend eröffne ich das Feuer auf die Soldaten und löse so hoffentlich den Alarm aus. Sobald jeder Gopnik mit einem Gewehr draußen ist, gehst du rein.«

»Das ist kein besonders guter Plan. Was, wenn sie die Anlage abriegeln?«

»Es ist der beste Plan, den wir haben, wenn wir nicht darauf warten wollen, dass sie an Altersschwäche sterben.« Er räusperte sich. »Wenn du drin bist, bist du drin, selbst wenn sie erst mal dichtmachen. Keyes, ich weiß, dass die CIA gerne delikate Pläne ausarbeitet. Aber das funktioniert in der Realität selten – schon gar nicht in einer Situation wie dieser. Es herrscht Krieg, die Nerven liegen blank. Nutzen wir das zu unserem Vorteil. Die Jungs da am Tor haben genauso viel Angst vor ihren Offizieren wie vor uns. Die werden nicht riskieren, dass ich entkomme, und mit allem auf mich einstürmen, was sie haben. Das ist deine Chance.«

»Du wirst draufgehen!«

»Wieso?« Er grinste. »Ich habe mehr Munition, als es Wachen gibt.«

»Bist du … Ist das …«

Er deutete auf einen Punkt links der Straße. »Geh in Position, Keyes. Los jetzt!«

Sie biss sich auf die Lippe und befolgte seine Anweisung. Zeit war ein Faktor, das wusste sie. Gerade waren die Soldaten noch mit dem Durchsuchen der Lastwagen beschäftigt. Ein vulnerabler Zeitpunkt. Sie durfte nicht riskieren, diese Chance zu verpassen, auch wenn es für Walther bedeutete, sich in Lebensgefahr zu begeben.

Wenigstens würde er mit einer gewaltigen Ladung Selbstbewusstsein draufgehen.

So schnell wie möglich ging sie in Position und hielt sich dabei so dicht an der Straße, wie sie verantworten konnte, ohne gesehen zu werden. Halb geduckt und halb kriechend bewegte sie sich vorwärts und achtete unentwegt auf mögliche Minen oder andere Sprengfallen, aber es schien keine zu geben. Zumindest nicht so nah an der Straße.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis auf einmal vier gedämpfte Schüsse in schneller Abfolge ertönten, dicht gefolgt vom Geräusch zu Boden fallender Kameras. Einen winzigen Augenblick lang herrschte nun völlige Stille, bis schließlich einer der Soldaten etwas brüllte und ein Alarm zu heulen begann. Von ihrer Position aus konnte Keyes zwar nur teilweise sehen, was geschah, aber es schien, als würde Walthers Plan aufgehen: Die Soldaten am Tor stürmten sofort los – ein weiteres Zeichen dafür, dass es keine Minen gab – und bald erreichte Verstärkung den Kontrollposten. Die meisten der Männer warfen sich augenblicklich in Deckung oder suchten Schutz hinter den Lastern, denn Walther war in der Tat ein ausgezeichneter Schütze. Wer versuchte, die kleine Anhöhe zu erstürmen, fing sich sofort eine Kugel ein. Seit der Alarm losgegangen war, hatte er schon fünf Mann erwischt.

Nur leider war genau das ein Problem: Walther schoss dermaßen präzise, dass die verbliebenen Soldaten keinen Versuch wagten, ihn zu erreichen, sondern weiter in Deckung kauerten und nur ab und zu eine Salve in seine Richtung jagten. Keine Chance, einfach so an ihnen vorbei zu schlüpfen.

Keyes biss die Zähne zusammen, kroch ein Stück zur Seite und verschaffte sich einen Überblick über die Situation: Fast ein Dutzend Soldaten hatten auf ihrer Seite der Straße hinter den Lastern Schutz gesucht, darunter die Fahrer. Jeder Versuch, an ihnen vorbeizukommen, war Selbstmord. Verdammt, Walther musste aufhören, zu schießen! Er musste die Soldaten zu sich kommen lassen! Nur wie sollte sie ihm das verständlich machen? Wie …

Plötzlich ein durchdringender Schrei von der anderen Straßenseite. Walther! Er musste getroffen worden sein! Gerade noch rechtzeitig konnte sich Keyes davon abhalten, aufzusehen, doch noch bevor sie etwas anderes tun konnte, ertönte auch schon der gebellte Befehl eines der Soldaten. Sofort verließen die Männer bei den Lastwagen ihre Deckung und bewegten sich abwechselnd schießend zu Walther. Er war erledigt – aber sie hatte ihre Chance.

*****

Die Anlage im Wald war nicht so verlassen, wie Keyes erhofft hatte, aber sie konnte sich unerkannt Zutritt verschaffen. Allein darauf kam es an. Besonders groß war das Areal ohnehin nicht, zumindest nicht überirdisch: Zwei Baracken ein paar hundert Meter hinter dem Kontrollposten, eine Handvoll alter Wachtürme, die jedoch unbemannt zu sein schienen, sowie zwei unscheinbare, sechsstöckige Gebäude, die nicht den Eindruck machten, als würden in ihnen Forschungen durchgeführt werden. Daneben gab es ein in einen künstlichen Hügel eingelassenes Hangartor, von dem sich Keyes sicher war, dass es in eine unterirdische Anlage führte. Zwei Soldaten hielten davor Wache, aber abgesehen von ihnen schien der Weg frei zu sein.

Es wäre problemlos möglich gewesen, die beiden aus dem Hinterhalt heraus zu erledigen. Doch obwohl sie längst ihr Gewehr ausgerichtet und einen von ihnen ins Visier genommen hatte, zögerte sie. Wenn sie da rein ging, kam sie niemals wieder raus. In einer unterirdischen Anlage würde sie sich unter keinen Umständen verstecken oder gar einer Horde Soldaten entkommen können, wenn die Wachposten begriffen, dass sie da war. Ganz davon zu schweigen, dass sie vermutlich auch keine Möglichkeit haben würde, eine Nachricht abzusetzen, selbst wenn sie ihr eigenes Leben opferte.

Aber vielleicht musste sie das auch gar nicht. Sie hatte herausgefunden, wo die Russen an den außerirdischen Artefakten forschten. Ihre Peilsender waren aktiv. Wenn es ihr jetzt gelang, einen Funkspruch abzusetzen, konnte sie einen Luftschlag anfordern und die Anlage zum Teufel jagen. Selbst wenn das bedeutete, nichts über die russischen Erkenntnisse herauszufinden, würde es ihnen doch einen herben Schlag zufügen und sie womöglich sogar zum Abbruch ihrer Offensive zwingen.

Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, griff sie nach ihrem Satellitentelefon und baute eine Verbindung zum US-Kommando in Europa auf. Während das Gerät arbeitete, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass das funktionierte. Walther hatte sein Leben gegeben, um sie hier rein zu bringen. Es musste einfach klappen.

»Hier spricht Agent Keyes!«, zischte sie, kaum war die Verbindung hergestellt. »Operation Command, hören Sie mich?«

»Laut und deutlich, Agent. Wie ist Ihre Position? Haben Sie Ihren Kontakt in Pinsk erreicht?«

»Negativ, Op-Com«, antwortete sie. »Ich bin vom Plan abgewichen. Russische Truppen haben mehrere hundert Alien-Artefakte in eine Anlage bei Babrujsk in Weißrussland geschafft. Ich habe zwei Peilsender aktiviert. Ich gehe davon aus, dass sich hier eine zentrale Forschungseinrichtung befindet.«

»Mehrere hundert?«

»Positiv, Op-Com. Fünf Lastwagen mit jeweils circa 60 Artefakten – plus eine unbekannte Anzahl, die sich bereits vor Ort befindet. Ich fordere einen Luftschlag an.«

»Negativ, Agent.«

»Was?! Aber …«

»Weißrussland dient der russischen Armee als Aufmarschgebiet, ist aber nach wie vor offiziell neutral. Eine Kriegserklärung ist nicht erfolgt.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein! Diese Wichser greifen uns genauso an wie … Vergessen Sie es. Also war das hier umsonst? Was soll ich jetzt tun? Ich sitze mitten in feindlichem Gebiet fest!«

»Verfahren Sie weiter innerhalb ihrer Missionsparameter. Sie haben freie Hand, was die Akquirierung von Informationen angeht. Eine Extraktion ist aktuell nicht möglich. Ihr Kontakt in Pinsk bleibt weiterhin aktiv.«

»Verstanden. Keyes Ende.«

Keyes ließ sich zu Boden sinken, schloss die Augen und hielt sich beide Hände vor den Mund. Das konnte nicht wahr sein. Das konnte einfach nicht wahr sein! War sie denn von Stümpern und Idioten umgeben? Dass aktuell keine Ressourcen zur Verfügung standen, um vernünftige Gegenspionage zu betreiben, verstand sie ja, aber das war noch lange keine Entschuldigung für das wissentliche Ignorieren einer solchen Anlage und der Gefahren, die von ihr ausgingen!

Gottverdammt, Weißrussland hatte letztes Jahr bereits unter dem Deckmantel der Neutralität den russischen Überfall auf die Ukraine ermöglicht – und jetzt zogen sie die gleiche Scheiße wieder ab? Und wieder akzeptierte es der Rest der Welt? Russische Panzer rollten über weißrussische Straßen, Soldaten marschierten hier auf, Flugzeuge starteten zu Angriffen und Raketen wurden abgefeuert – und trotzdem galt dieses Land als neutral? Und – viel schlimmer noch – das Op-Com weigerte sich wegen dieser vorgeblichen Neutralität, tätig zu werden, obwohl jeder genau wusste, dass die außerirdischen Artefakte der maßgebliche Grund für den Krieg waren?

War sie eigentlich in einer Traumwelt aufgewachsen? War sie irgendwann in den letzten Jahren aus ihrer naiv-blinden Welt gestolpert, nur um mit der Fresse voraus in der Realität aufzuschlagen? Wo waren die weitsichtigen USA, die dem Kampf um die Freiheit der Welt unermessliche Mittel zur Verfügung stellten? Bei allem, was heilig war, es ging hier um außerirdische Artefakte mit unbekannten Effekten, die auf der gesamten Erde auftauchten und von den Russen unzweifelhaft als Grundlage für den Dritten Weltkrieg genutzt wurden!

Ein paar Minuten lang saß sie einfach nur da und versuchte, sich zu beherrschen. Eine unmittelbare Gefahr drohte ihr hier nicht, aber das war auch schon alles. Der umliegende Wald war dicht genug, dass sie den Elektrozaun lahmlegen, verschwinden und ihre Verfolger im Zweifelsfall abschütteln konnte, aber was dann? Sie befand sich mitten in Weißrussland, sprach bestenfalls ein paar Brocken Russisch und hatte keine Unterstützung. Selbst wenn sie sich entschlossen hätte, nach Pinsk zu gehen – wie um alles in der Welt hätte sie das tun und sich dabei noch an den russischen Truppen im Land vorbeischleichen sollen? Sie …

Plötzlich ertönte ein durchdringendes Signal. Es kam aus vom Hangartor. Sofort riss Keyes die Augen auf, legte ihr Gewehr an und schaute durch das Zielfernrohr, damit sie besser erkennen konnte, was vor sich ging. Während sich das Tor langsam öffnete, traten die beiden Wachen beiseite. Wenig später fuhren die fünf Lastwagen vom Kontrollposten her und parkten so, dass ihre Ladeflächen zum mittlerweile offen stehenden Tor deuteten, hinter dem allerdings nur Dunkelheit zu erkennen war.

Ein paar Sekunden lang geschah nichts, doch dann zeichneten sich die Umrisse eines Gabelstaplers in der Schwärze ab. Auf seiner Gabel lag eine Palette, die von einem weißen Tuch bedeckt wurde, doch selbst das konnte nicht einmal ansatzweise verbergen, was sich darunter befand: Menschliche Körper. Leichen. Arme und Beine ragten unter dem Tuch hervor.

»Großer Gott«, entfuhr es Keyes.

Während die Lastwagenfahrer – nur noch zwei waren am Leben – und ein paar der Wachen vom Kontrollposten begannen, die Kisten von den Ladeflächen zu wuchten und eine nach der anderen in den Hangar zu tragen, verfolgte Keyes den Gabelstapler weiter mit ihrem Zielfernrohr. Die Soldaten im Areal schienen ihm keine weitere Beachtung zu schenken, als er an einem der beiden überirdischen Gebäude vorbeifuhr und im Wald verschwand.

Ohne zu zögern, lief sie los und suchte sich einen Weg durchs Dickicht. Diese Leichen waren vielleicht ihre beste Chance, etwas über diesen Ort und die Forschungen herauszufinden, die hier betrieben wurden. Auch wenn sie gerade versucht war, von Experimenten zu sprechen.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Stelle erreichte, an der der Gabelstapler die Leichen ablud. Der bestialische Gestank ungeschützt in der Sommersonne verwesender Leichen war selbst aus der Distanz kaum auszuhalten. Keyes würgte. Ihre Kehle schnürte sich zu und bevor sie es verhindern konnte, brach heiße Galle aus ihrem Mund. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich das Husten und Röcheln zu verkneifen. Sie durfte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ganz gleich, was dafür nötig war.

Schließlich wischte sie sich mit dem Ärmel über den Mund, griff an ihren Rucksack und zog ihre Gasmaske hervor. Das würde sie zumindest vor irgendwelchen Verwesungsgasen schützen, wenn auch nicht vor dem Gestank selbst. Besser als nichts.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es in der Nähe keine Wachposten oder Kameras gab, suchte sie sich weiter einen Weg durch das Dickicht – bis sie sich plötzlich am Rand einer Grube von mindestens zehn auf zehn Metern wiederfand. Darin lagen gut 60 Leichen, vermutlich aber noch viel mehr. Die allermeisten waren angesichts der Hitze bereits stark verwest – ein Umstand, an dem auch der Kalkstaub nichts ändern konnte, den man über sie geschüttet hatte.

Es kostete Keyes alle Kraft, sich dazu zu zwingen, näher heranzutreten, aber es musste sein. Mit zitternden Fingern zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und begann, so viele Fotos zu machen, wie sie nur konnte. Viele der Leichen, vor allem die, die gerade erst abgelegt worden waren, wiesen frische Verletzungen auf. Blaue Flecken, vermutlich von Schlägen, aber auch Schnittwunden und Verbrennungen. Alle von ihnen waren dünn, wenngleich nicht abgemagert, und es handelte sich auch ausnahmslos um Männer. Strafgefangene?

Keyes konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber das spielte ohnehin keine Rolle. Man experimentierte hier in großem Stil mit – oder besser: an – Menschen. Und ausgehend von dem, was sie sah, war sie sich sicher, dass es um die unmittelbaren Auswirkungen der Artefakte auf den menschlichen Organismus ging. Man hatte anscheinend versucht, die Körper auf verschiedene Weisen in Kontakt mit den Artefakten zu bringen oder wollte eine Interaktion erzwingen. Bei manchen der Leichen waren sogar frische Operationswunden zu erkennen.

»Agent Keyes hier«, sagte sie schließlich in ihr Satellitentelefon, nachdem sie genügend Fotos gemacht und diese weitergeleitet hatte. »Op-Com, bitte kommen!«

»Op-Com hier. Was haben Sie, Agent Keyes?«

»Man experimentiert hier an Menschen. Ich habe gerade Bilder an das Einsatzkommando geschickt.«

»Bitte halten.«

Rauschen.

»Wir bestätigen den Erhalt der Bilder. Ist es Ihnen möglich, weitere Informationen zu beschaffen?«

»Negativ. Ich bin allein. Auf dem Gelände befinden sich mindestens drei Dutzend bewaffnete Soldaten.«

»Die Bundeswehr bestätigt, dass sich ein Kommandosoldat vor Ort befindet. Ist es Ihnen möglich, Kontakt herzustellen?«

»Walther ist tot. Ich bin mit ihm hergekommen. Er wurde bei einem Schusswechsel getötet.«

»Negativ. Er hat sich vor zwei Minuten bei der deutschen Einsatzleitung gemeldet und sie über die Anlage informiert.«

»Dann sagen Sie den Deutschen, dass ich eine Ablenkung brauche!« Keyes starrte auf das nächstgelegene der beiden überirdischen Gebäude. »Und zwar sofort!«

»Verstanden, Agent Keyes. Op-Com Ende.«

Keyes spürte, wie ein Grinsen über ihre Lippen huschte. Walther war also doch noch am Leben. Womöglich hatte er ja sogar den Schrei nur vorgetäuscht, um die Soldaten aus ihrer Deckung zu locken und zu einem Angriff zu provozieren. So oder so war sie erleichtert, dass er noch lebte und sie damit nicht allein war. Jetzt musste sie nur noch darauf warten, dass er etwas tat und die Wachen ein weiteres Mal ablenkte. Hoffentlich beeilte er sich, denn es war mehr als nur wahrscheinlich, dass bald Verstärkungen auf dem Gelände auftauchten.

Vorsichtig machte sie sich auf den Weg zum Gebäude und achtete dabei darauf, dass man sie nicht von einem der Fenster aus sehen konnte. Eigentlich war es lächerlich. Einen Luftschlag gegen diese Forschungsanlage wollte man nicht riskieren, aber es war in Ordnung, wenn ein wahnsinniger Deutscher herumrannte und reihenweise Wachsoldaten erschoss. Das war der Preis, den man zu zahlen hatte, wenn man ein streng geheimes Forschungslabor im Auftrag des Kremls betrieb: Man konnte sich nach einem solchen Zwischenfall nicht öffentlichkeitswirksam darüber beschweren, dass man angegriffen worden war. Zumindest nicht, solange man nicht ihre beiden Leichen präsentieren konnte.

Kaum hatte sie die Mauer des Gebäudes erreicht, ertönte auch schon ein lauter Knall irgendwo vom anderen Ende des Areals her. Es war kein Schuss, allerdings hatte sie nicht den leisesten Schimmer, was es sonst sein sollte. Nichtsdestotrotz heulte bereits wenig später abermals der Alarm auf. Das war ihr Zeichen zum Losschlagen.

Während auf dem gesamten Areal ein Knall nach dem anderen ertönte, schlich sie um das Gebäude herum. Als sie auf dem Weg zu den Leichen gewesen war, hatte sie ein offen stehendes Fenster im Erdgeschoss gesehen. Das war ihr Ticket hinein. Sie musste es nur wiederfinden und dann …

Sie hielt inne. Sie hatte das Fenster beinahe erreicht, als sie hinter einem anderen einen Mann erkannte, der bei einer Frau im Laborkittel stand und mit konzentriertem Blick auf einen Computerbildschirm blickte. Es war Morosow.

Einen winzigen Augenblick lang starrte Keyes ihn an, unfähig, etwas zu sagen oder anderweitig zu reagieren, doch dann riss sie sich zusammen, kletterte durch das offen stehende Fenster und durchquerte den dahinterliegenden Raum, nur um im Korridor sofort das Nachbarzimmer zu betreten und Morosows Kopf ins Visier zu nehmen. Er schien sie nicht zu bemerken, genauso wenig wie die Frau am Computer.

»Doktor«, knurrte Keyes. »Ich bin hier, um wissenschaftliche Kanäle zum Austausch und zur Verständigung wahrzunehmen.«

Jetzt endlich drehte er sich zu ihr um, nur um sie mit vollkommen perplexem Blick anzustarren. Seine Hand wanderte ganz langsam in Richtung seiner Hosentasche.

»Keine gute Idee.« Keyes schüttelte den Kopf. »Hände hoch. Sagen Sie ihr, sie soll weg vom Computer.«

Morosow sagte etwas auf Russisch und tat wie geheißen. Keyes griff derweil in eine ihrer Taschen und zog zwei Paar Einweghandschellen aus Kabelbindern hervor, von denen sie ihm eine zuwarf und mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, dass er die Wissenschaftlerin fesseln sollte. Anschließend trat sie auf ihn zu und fesselte ihm ebenfalls die Hände auf dem Rücken.

»Sie experimentieren an Menschen«, flüsterte sie. »Allein deswegen sollte ich Ihnen auf der Stelle in den Kopf schießen. Sagen Sie mir, was Sie hier tun. Sofort.«

»Das werde ich nicht tun«, antwortete Morosow tonlos. »Sie werden mich erschießen müssen.«

»Das lässt sich einrichten. Ich kann Sie auch beide erledigen und einfach jede Festplatte Ihrer Computer mitnehmen. Es ist mir gleich. Wissen Sie, auf dem Weg hierher taten mir die Soldaten leid, die ich gesehen habe, und ich habe mit mir gehadert, auf sie zu schießen. Aber jetzt? Meine Hemmschwelle ist gerade massiv gesunken. Ich habe die Leichen gesehen.«

»Ich werde nicht reden. Jetzt ist die Zeit gekommen, den westlichen Faschismus endgültig niederzuringen, ohne das Ende der Menschheit im atomaren Weltenbrand befürchten zu müssen! Diese Chance werde ich nicht aufgeben! Wir werden …«

Zu mehr kam er nicht. Noch während er redete, holte Keyes aus und schlug ihm ihren Gewehrkolben mitten ins Gesicht. Morosow gab noch ein gurgelndes Geräusch von sich, brach dann jedoch auf der Stelle zusammen. Die Wissenschaftlerin hinter ihm zuckte zusammen und versuchte, einen Knopf an ihrem Schreibtisch zu erreichen, doch Keyes hob sofort wieder ihre Waffe und zielte auf sie.

»Nicht so schnell. Ich bin hier noch lange nicht fertig.«

Kapitel 12

E in leises Stöhnen verließ Nicks Lippen; ein Ächzen an der Grenze des Wahrnehmbaren. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, seine Lippen zu bewegen oder überhaupt einen Ton von sich zu geben. Er wusste überhaupt nichts. Da war nur Schmerz. Schmerz und eine überwältigende Ohnmacht, die von jedem Muskel und jeder Zelle seines Leibes Besitz ergriffen hatte.

Er meinte, ein Rauschen zu hören, ein dumpfes Brummen, das er sich nicht erklären konnte. Ein Geräusch, das sich wie ein Dolch tief in seinen Verstand bohrte und seine ohnehin schon kaum auszuhaltende Pein nur noch verstärkte. Er wollte schreien, wollte flehen, dass das Brummen verstummte, aber es gelang ihm nicht. Ihm fehlte die Kraft, zu sprechen. Selbst das Atmen fiel ihm schwer und war nur deswegen möglich, weil sich sein Körper weigerte, zu ersticken.

Nur langsam wurde ihm klar, dass er allmählich zu Bewusstsein kam; dass er seine Sinne zurückgewann und auch seinen Körper ganz langsam wieder zu spüren begann. Trotzdem nahm er alles wie durch einen Filter hindurch wahr, wie durch ein dickes Tuch, das zwischen ihn und die Wirklichkeit gespannt worden war und alles von ihm fernhielt. Nicht zuletzt sich selbst.

Doch was dieses Tuch ihm nicht vorenthalten konnte, war die Erinnerung, die in ihm aufstieg wie ein Stück Treibholz, das sich seinen Weg zurück an die Oberfläche des Meeres suchte. Die Erinnerung an ein Auto, das zu ihm gefahren war. Drei Männer, die ausgestiegen und sich eine Zeit lang mit ihm unterhalten hatten, ohne eine Gefahr darzustellen oder ihn auch nur zu bedrohen. Aber auch die Erinnerung daran, wie einer von ihnen plötzlich ausgeholt und ihm ins Gesicht geschlagen hatte. Nicht stark genug, um ihn ohnmächtig werden zu lassen, aber es hatte gereicht, um ihn zu Boden zu schicken. Dann hatte man ihm eine Nadel in den Hals gerammt. Deer hatte geschrien.

Nick versuchte zu blinzeln, doch er war sich nicht sicher, ob es ihm nicht gelang oder um ihn herum einfach alles dunkel war. So oder so konnte er nichts erkennen. Zumindest fast nichts. Irgendwo in der Ferne meinte er, ein Licht zu sehen, aber er war sich nicht sicher, ob er es sich nicht nur einbildete. Wo war er?

Plötzlich ein Geräusch. Das Brummen verstummte. Dafür ertönten Stimmen. Männer, die schnell miteinander redeten, in einer Sprache, die er nicht verstand. Es klang wie Russisch. Er drehte den Kopf, ignorierte den Schmerz, den selbst diese kurze Bewegung verursachte, und starrte in die Richtung, aus der er die Stimmen zu hören glaubte, aber auch da war nichts als Dunkelheit. Er wollte den Mund öffnen, wollte rufen, doch jede Faser seines Körpers sträubte sich dagegen.

Dann auf einmal ein Wort, das er verstand. Artefakt. Jetzt endlich begriff er, was los war. Die Männer, die ihn angegriffen und unter Drogen gesetzt hatten, waren vom SWR. Russische Agenten. Die Leute, die Deer zur Flucht aus den USA getrieben und damit auch sein eigenes Schicksal besiegelt hatten. Die Männer, die Deer eigentlich in der Sperrzone von Tschernobyl hatte treffen wollen. Er hatte sich geweigert, hatte gehen wollen. Dann waren sie gekommen. Es war nicht möglich gewesen, ihnen zu entkommen oder sich zu verstecken. Er hatte versucht, mit den beiden Artefakten um seine Freiheit zu verhandeln. Erfolglos.

Plötzlich ein Knarzen unmittelbar über ihm, dicht gefolgt von zwei Paar Händen, die ihn an beiden Armen packten und unvermittelt hochrissen. Irgendetwas schlug gegen seinen Kopf, aber ihm fehlte ohnehin die Kraft, sich zu wehren oder auch nur zu schreien. Er spürte, wie er weggezerrt wurde, wie seine Stiefel über den Asphalt schliffen. Wollten sie ihn töten und seine Leiche irgendwo verscharren? Nein. Das hätten sie bereits in der Sperrzone tun können. Er sollte leben. Aber warum?

Irgendwann – er konnte nicht sagen, wie lang man ihn über den Boden geschleift hatte – hörte er schließlich ein leises, knarzendes Quietschen, nur um augenblicklich zu Boden geworfen zu werden. Zwar gelang es ihm nicht, seinen Fall abzufangen, aber er schaffte es zumindest, rechtzeitig die Arme hochzureißen und wenigstens sein Gesicht zu schützen, bevor er aufprallte.

»Sie müssen Mr. Hargraves sein«, erklang auf einmal eine Stimme irgendwo über ihm. Ein schwerer russischer Akzent haftete ihr an. »Der Artefaktjäger. Miss Deer hat von Ihnen und Ihren Fähigkeiten berichtet.«

Nick schwieg. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, zu antworten.

»Man sagte mir, dass Sie im Besitz von zwei Artefakten sind«, fuhr die Stimme fort. »Und dass diese geleuchtet haben, als sie gefunden worden sind?«

Nick schwieg weiter.

»Wir wissen längst, dass radioaktive Strahlung bereits in relativ geringen Dosen genügt, um eine solche Reaktion zu erzeugen. Sie enthalten mir also nichts vor, wenn Sie nicht sprechen. Wenn Sie allerdings reden, kann ich dafür sorgen, dass die nächsten Tage deutlich angenehmer für Sie werden.«

»Ich …« Nick holte so tief Luft, wie es seine brennende Lunge nur zuließ. »Ich werde … nicht … nicht helfen … bei … bei …«

»Ich nehme an, Sie denken in den klassischen amerikanischen Mustern, nicht wahr? Der böse Russe, der die Welt vernichten will? Ich versichere Ihnen, dass ich nichts dergleichen vorhabe. Vielmehr ist es meine Absicht, sie zu retten, und zu verstehen, wieso uns die Außerirdischen diese Artefakte schenken. Sie als Jäger sollten wissen, dass diese Objekte auf der ganzen Welt auftauchen. Das ist eindeutig ein Kommunikationsversuch. Ihr Wissen kann helfen, diese Interaktion zu verstehen.«

»Sie hätten … fragen können.«

»Weder Sie noch Miss Deer konnten beim vereinbarten Treffpunkt angetroffen werden. Wir mussten davon ausgehen, dass Sie kein Interesse mehr an einer Zusammenarbeit hatten. Deswegen sahen sich unsere Leute gezwungen, Sie herzubringen. Sie verstehen sicher, dass das Fortbestehen der Menschheit auf dem Spiel steht. Wir können nicht auf die Befindlichkeiten von zwei Menschen Rücksicht nehmen.«

Nick blinzelte. Allmählich wurde seine Sicht etwas klarer, auch wenn er noch immer fast nichts erkennen konnte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, zumindest das Gesicht des Mannes auszumachen, der mit ihm redete, aber es gelang ihm nicht.

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte er schließlich.

»Ihre Hilfe, Mr. Hargraves. Wissen Sie, was passiert, wenn man ein Artefakt ungeschützt berührt? Man stirbt – zumindest die meisten. Ein Mensch, der sich zum ersten Mal in die unmittelbare Nähe eines Artefakts begibt, durchlebt unvorstellbare Kopfschmerzen. Der absolute Großteil erholt sich innerhalb weniger Sekunden bis maximal zwei Minuten wieder, allerdings existieren auch Fälle, bei denen die Kopfschmerzen bleiben. Das führt innerhalb von etwa einer Stunde zum Kollaps des Nervensystems, Multiorganversagen und Tod. Kleinere Lebewesen erfahren diesen Effekt sogar ohne unmittelbaren Kontakt und in deutlich kürzerer Zeit.«

»Und ich soll Ihnen helfen?« Nick schnaubte unwillkürlich. »Sie wissen doch schon mehr als ich! Ich sammle diese Dinger nur und verkaufe sie. Ich glaube nicht einmal, dass Deer mehr weiß.«

»Daran habe ich keine Zweifel.«

»Aber?«

»Aber es existieren nur wenige Menschen auf diesem Planeten, die länger der Nähe von Artefakten ausgesetzt waren als Sie beide. Leider werden die meisten Artefakte in Osteuropa von Bauern oder Jugendlichen gefunden, die nicht den leisesten Schimmer haben, was sie da vor sich sehen – mit der Konsequenz, dass man in unmittelbarer Nähe in der Regel eine oder zwei Leichen findet. Oft genug stirbt auch ein Polizist oder Ersthelfer beim Versuch, sie zu bergen.«

Nick spürte, wie sich seine Lippen bewegten. Der instinktive Versuch seines Körpers und seines Verstandes, etwas zu erwidern. Etwas zu sagen, um dem Wahnsinn, der sich in den Worten des Unbekannten andeutete, zu widersprechen. Doch er konnte nicht, wusste nicht, was er sagen sollte. Verdammt, er verstand ja noch nicht einmal, was hier überhaupt los war, geschweige denn, wer dieser Kerl war!

»Hören Sie«, sagte er schließlich mit einer Stimme, die niemals so sehr hätte zittern dürfen, während sein Herz längst zu rasen begann und nackte Angst in ihn kroch. Er war hilflos, ausgeliefert – und ihm blieb außer Worten und dem Appell an die menschliche Vernunft nichts, um sich zu schützen. »Ich weiß nicht, wo ich hier reingeraten bin, aber ich glaube, dass ich Ihnen im Feld deutlich nützlicher sein könnte als hier. Ich bin ziemlich gut darin, Artefakte aufzuspüren, und …«

»Mr. Hargraves«, unterbrach ihn der Mann mit ruhiger Stimme. »Wir verfügen bereits über mehr als genug Artefakte und haben belastbare Hypothesen und Theorien zu Herkunft, Wirkungsweise und Zweck formuliert – genau wie zu potenziellen Einsatzzwecken. Sie wissen längst, worauf diese Unterhaltung hinauslaufen wird, und …«

»Warum sagen Sie es mir dann?!«, brüllte Nick mit all seiner Kraft; eine plötzliche Entladung seiner Angst. »Warum zum Teufel sagen Sie es mir?! Wollen Sie mich foltern?! Genießen Sie meine Angst?!«

»Nein. Ich baue auf Ihre Kooperation.«

»Was?!«

»Wir haben große Ressourcen mobilisiert, um Menschen zu finden, die so lange Zeit verhältnismäßig ungeschützt dem Einfluss der Artefakte ausgesetzt waren. Menschen wie Sie. Die meisten Wissenschaftler und Soldaten arbeiten in einer kontrollierten Umgebung und ein Großteil der … Prospektoren ist entweder nicht erfolgreich genug oder lebt nicht ausreichend lange. Sie hingegen sind hier. Allein der Zeitraum, den Sie mit den beiden Artefakten bei Tschernobyl verbracht haben, ist – wissenschaftlich gesehen – Gold wert.«

»Das ändert nichts an dem, was Sie vorhaben.«

»Doch. Wir haben nämlich Grund zur Annahme, dass ein direkter Kontakt keine gravierenden Auswirkungen haben wird. Daher mein Angebot: Arbeiten Sie mit uns zusammen, teilen Sie uns wahrheitsgemäß mit, was Sie empfinden, und unterstützen Sie uns bei unserer Forschung und ich sorge dafür, dass Sie in ein paar Wochen in einem Flugzeug in die USA sitzen, ausgestattet mit einer neuen Identität. Was sagen Sie?«

»Habe ich denn eine Wahl?«

Der Mann setzte gerade zu einer Antwort an, als irgendwo plötzlich ein leises Piepen ertönte und sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Und obwohl Nick nach wie vor kaum etwas erkennen konnte, sah er doch, wie er aus seinem Sichtfeld verschwand und irgendwo in die Dunkelheit des hinter ihm liegenden Raumes verschwand.

So gut es sein nach wie vor schmerzender Leib nur zuließ, setzte sich Nick auf und atmete tief durch. Um ein Haar hätte er das Bewusstsein gleich wieder verloren, doch er streckte instinktiv die Hände aus und hielt sich fest – und zwar an einem Gitterstab. Ein Gitter? Er tastete. Rings um ihn herum war alles vergittert. Keine Zelle, sondern buchstäblich ein gottverdammter Käfig, in den man ihn eingesperrt hatte wie ein Tier.

Wäre es möglich gewesen, hätte sein Herz noch schneller geschlagen, aber schon jetzt raste es derart intensiv, dass er kaum mit dem Atmen hinterherkam. Die Angst, die bisher in seinen Leib gekrochen war, schlug in nackte Panik um, als er verzweifelt versuchte, irgendwie aus seinem Gefängnis zu entkommen. Es war sinnlos, das war ihm bewusst, aber die Sinnlosigkeit seines Vorhabens war nichts mehr, was seinem rationalen Verstand geholfen hätte, ihn zu beruhigen. Für diese Leute war er nichts weiter als ein Versuchskaninchen! Ein Ding, ein …

Plötzlich bemerkte er etwas. Sein Blick fiel auf einen Käfig unmittelbar neben dem seinen. Durch die Dunkelheit konnte er ihn kaum erkennen. Eine junge Frau lag darin, genau wie er mit Kabelbindern gefesselt, anders als er jedoch vollständig entkleidet. Erst bei genauerem Hinsehen wurde ihm klar, dass es Deer war. Ein gewaltiger blauer Fleck klaffte auf ihrer Stirn und ihre Nase und Lippen waren blutverschmiert. Sie war offensichtlich ohnmächtig. Ihre Brust hob und senkte sich viel zu schnell. Beinahe meinte er, sehen zu können, wir ihre Herzschläge ihren gesamten Körper erzittern ließen.

Dann Schritte. Schnell und schwer, begleitet vom Scheppern von Ausrüstung. Nicht der Mann, der gerade bei ihm gewesen und wie ein Geisteskranker auf ihn eingeredet hatte. Nick kniff die Augen zusammen, um etwas in der Dunkelheit zu erkennen, wurde dann jedoch auf einmal geblendet, als vollkommen unvermittelt das Licht ansprang und einen Raum erhellte, der direkt aus einem Horrorfilm hätte stammen können.

Auf einer Palette neben einem breiten, massiv gesicherten Stahltor lagen die Überreste von fast einem Dutzend Menschen. Allesamt Männer und offensichtlich bereits seit Tagen tot. Sie wiesen unterschiedlichste Verletzungen auf, von Verbrennungen über Schnitt- und Stichwunden bis hin zu Einwirkungen dumpfer Gewalt. Ein paar Meter von ihnen entfernt stapelten sich schwarz lackierte Fässer bis unter die Decke und gleich zwei Wände waren mit Käfigen wie dem seinen belegt, allerdings waren sie bis auf ihn und Deer leer. Man konnte in ihnen stehen oder sich setzen. Kein Platz zum Liegen.

Das Zentrum dieses grotesken Labors bildete eine vermutlich aus Plexiglas bestehende Kammer von etwa drei auf drei Metern Kantenlänge, an der Unmengen verschiedenster Sensoren, Kameras und zwei von außen steuerbare Roboterarme angebracht waren. Kabelbahnen – manche so dick wie sein Bein – führten zu einem ganzen Haufen riesiger Computer an der dem Tor gegenüberliegenden Wand.

Die Schritte, die Nick gerade gehört hatte, stammten von einem Mann in einem grün-gelben Schutzanzug. Eines jener Modelle, wie man sie bei einem Chemieunfall trug. Durch sein Visier hindurch war sein Gesicht nicht zu erkennen, aber Nick bezweifelte sowieso, dass es der Mann war, der vorhin mit ihm gesprochen hatte. Der Kerl trat ohne Umschweife zu Deers Käfig, öffnete ihn und zog sie an den Beinen heraus.

»Hey!«, rief Nick sofort und schlug gegen die Gitterstäbe; ein instinktiver Versuch, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Hey! Was tust du mit ihr?!«

Der Mann reagierte nicht einmal, sondern zerrte Deer über den Boden in die Plexiglaskammer, wo er ihre Beine mit einer extrem kurzen Kette fesselte. Anschließend verließ und versiegelte er die Kammer. Ein leises Zischen ertönte. Druckausgleich?

»Hey!«, brüllte Nick. »Hey, du verficktes Arschloch! Was tust du?!«

»Soweit wir es rekonstruieren konnten, war Miss Deer insgesamt gut 29 Stunden ungeschützt verschiedenen Artefakten ausgesetzt«, erklang plötzlich die Stimme des Mannes, der gerade eben mit ihm gesprochen hatte. Just in diesem Augenblick betrat er die Halle durch eine Tür zu seiner Linken, die er bis gerade nicht bemerkt hatte. Anders als der andere trug er keinen Schutzanzug, sondern nur dicke Handschuhe und eine Atemschutzmaske – und in Händen hielt er ein Artefakt. »Sichtung und Verkauf der Artefakte machten das nötig. Sie können so etwas kaum an einen Interessenten verkaufen, wenn Sie ihre eigene Angst zeigen oder auf Schutzmaßnahmen pochen. In diesen Kreisen verkauft man selbst bengalische Tiger ohne Käfig. Miss Deer ist der Mensch, der die längste nachgewiesene Exposition durchgemacht hat.«

»Das ist Bullshit! Ich habe gesehen, wie sie erst vor Tagen Erstkontakt-Kopfschmerzen bekommen hat! Was macht ihr mit ihr?!«

»Unsere Informationen lauten anders.« Der Mann platzierte das Artefakt auf einem der beiden Roboterarme. »Sehen Sie gut zu, Mr. Hargraves. Was gleich geschieht, könnte die Welt für immer verändern.«

*****

Deer zitterte. Ihr gesamter Leib bebte. Nein. Er bebte nicht nur. Er wurde hin und her geworfen von unsichtbaren Kräften; ihre Glieder krampften, Schweiß brach aus jeder Pore. Sie mochte nicht bei Bewusstsein sein, aber ihr Körper versuchte trotzdem, um jeden Preis dem Artefakt zu entgehen, das der Roboterarm so unerbittlich auf ihre Brust drückte. Sie hatte keine Chance, konnte ihm nicht entkommen. Längst war ihre Haut kreidebleich und selbst ihre Lippen liefen blau an. Blutvermischte Tränen quollen aus ihren Augen.

»Aufhören!«, brüllte Nick und warf sich mit aller Kraft gegen die Gitterstäbe seines Käfigs. Ein verzweifelter Versuch, irgendwie zu entkommen und diesen grausamen Wahnsinn zu beenden. »Hört auf! Es reicht!«

»Sie lebt, Mr. Hargraves«, sagte der Mann mit der Atemmaske mit unüberhörbarer Euphorie in der Stimme. »Sehen Sie das? Sie lebt! Sie ist bereits seit drei Minuten in direktem Hautkontakt mit dem Artefakt und lebt!«

»Hören Sie auf! Sie bringen sie um!«

Er antwortete nicht. Stattdessen trat er in aller Seelenruhe zu den Computern und sah auf die unzähligen Kolonnen aus Zahlen und Daten, die flimmernd über die Bildschirme zogen. Abstrahiertes Leid, in Messwerte gefasste Qual. Mit geradezu ekelerregender Gleichgültigkeit beugte er sich nach vorne, den Mund leicht geöffnet und leise murmelnd, und betrachtete die Anzeigen, ehe er einen kleinen Notizblock aus einer Tasche zog und ein paar Zeilen aufschrieb.

Abermals warf sich Nick gegen die Gitterstäbe, wieder scheiterte er. Die Verankerungen an der Wand gaben nicht nach, genauso wenig wie das Schloss oder die Schweißnähte. Aber er musste es einfach versuchen, musste diesen Wahnsinn beenden! Was hier geschah, war falsch und unnatürlich. Nicht nur, weil Deer gequält wurde, sondern weil ihm die Verrenkungen ihrer Glieder unzweifelhaft zeigten, was für immense Kräfte in diesen Sekunden am Werk waren. Sie …

Plötzlich ein schriller Alarm. Für den Bruchteil einer Sekunde fiel das Licht aus, nur um sogleich wieder anzuspringen. Jetzt endlich ließ der Roboterarm von Deer ab, zog sich zurück und verharrte mit dem Artefakt regungslos an der Wand der Plexiglaskammer. Der Mann im Ganzkörperschutzanzug trat sofort an die Kontrollelemente und tätigte hektische Eingaben, während ihm der andere Anweisungen auf Russisch zuraunte. Ein Wortgefecht entbrannte, von dem Nick schon aufgrund seiner Intensität erahnte, was los war: Etwas stimmte nicht. Es war zu einem Fehler und vielleicht sogar zu einer Fehlfunktion gekommen – und das allein war Grund genug für ihn, erleichtert durchzuatmen.

Deer lag regungslos in der Mitte der Kammer, nach wie vor kreidebleich. Ihre Haut glänzte vor Schweiß und immer wieder zuckten ihre Fingerspitzen, aber abgesehen davon schien sie in Ordnung zu sein. Selbst ihre Atmung stabilisierte sich allmählich. Hätte er nicht gewusst, was ihr gerade angetan worden war, hätte man beinahe glauben können, dass sie nur schlief. Und er hoffte von ganzem Herzen, dass sie sich nicht erinnern würde.

Plötzlich ertönte ein weiterer Alarm. Lauter, durchdringender und dumpfer als der letzte. Nick verstand sofort, dass er, anders als der vorherige, nichts mit dieser Einrichtung oder dem Experiment zu tun hatte, sondern etwas anderes bedeutete. Eine Vermutung, die durch das Verhalten der beiden Wissenschaftler untermauert wurde: Während der mit der Atemmaske augenblicklich durch die Tür verschwand, aus der er vorhin gekommen war, rannte der im Schutzanzug zum Tor und aktivierte eine Sprechanlage, die dort installiert war. Verzerrtes Rauschen, Störgeräusche und dumpfes Rattern drangen ihm entgegen. Irgendetwas ging da draußen vor sich. Nur was?

Nick wusste, dass er, wenn überhaupt, nur jetzt die Chance hatte, zu entkommen. Was auch immer da draußen los war, schien schlimm genug zu sein, um beide Wissenschaftler nicht nur ihn, sondern auch Deer und ihr Experiment vergessen zu lassen. Er musste irgendwie aus diesem Käfig entkommen! Hektisch schaute er sich um. Verdammt, verdammt, verdammt! Ganz gleich, wie verzweifelt er auch nach einem Ausweg suchte, er fand keinen: Gitter und Schloss bewegten sich keinen Millimeter, die Verankerungen saßen bombensicher. Er war gefangen.

Schließlich sank er zu Boden, schlang die Arme um die Beine und versuchte, sein rasend schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Die Chance war vergangen. Was auch immer gerade außerhalb der Anlage passiert sein mochte, war längst wieder Vergangenheit, und der Mann im Schutzanzug kam wieder zurück zur Kammer. Nick befürchtete schon, dass er das Experiment fortführen würde, aber stattdessen löste der Mann Deers Ketten und zerrte sie zurück in ihren Käfig.

»Deer!« Sofort streckte Nick die Hand nach ihr aus, berührte sie an der Schulter und rüttelte an ihr. »Deer!«

Keine Reaktion. Sie war bewusstlos.

Auch der Mann im Schutzanzug verließ nun die Halle durch die Tür neben den Käfigen, allerdings währte die darauffolgende Ruhe nur kurz, denn bereits wenige Augenblicke später betraten zwei Soldaten die Halle. Einer von ihnen, ein kräftiger Kerl mit Gasmaske, verschwand hinter den Fässern in der Ecke, nur um kurz darauf mit einem Gabelstapler zurückzukommen, den Nick bislang nicht gesehen hatte. Während sein Kamerad das Tor öffnete, lud er die Leichen auf der Palette auf und fuhr sie über einen leicht ansteigenden Weg nach draußen.

Das war der Moment, in dem Nick begriff, dass er hier nicht mehr rauskommen würde. Zwar sah er, wie das Metall des Gabelstaplers im Sonnenlicht glänzte, aber wahrscheinlich war es genau das, was ihn zu dieser Erkenntnis führte. Die Toten auf der Palette waren vor ihm hier gewesen. Sie hatten genau wie Deer und er in diesen Käfigen ausgeharrt, und auch sie hatten vermutlich alles darangesetzt, zu entkommen. Jetzt waren sie tot. Gestorben bei den Experimenten, die dieser Wahnsinnige an ihnen durchgeführt hatte.

Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. So endete es also? In einem russischen Geheimlabor, irgendwo am Arsch der Welt? Es war geradezu lächerlich, wenn man darüber nachdachte, nur leider blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Alles, was in den letzten Wochen geschehen war, hatte zu diesem Moment geführt – und er hatte nichts dagegen tun können. Dieser Kerl hatte ja sogar gesagt, dass er explizit ihn und Deer hier haben wollte. Gott, was, wenn Deer von Anfang an vom russischen Geheimdienst manipuliert worden war? Wenn das Sammeln und Verkaufen der Artefakte nur Deckmäntel dafür gewesen waren, Menschen wie sie gezielt über lange Zeit hinweg den Artefakten auszusetzen? Menschliche Versuchskaninchen, nicht mehr.

Er sah zu ihr. Sie war nach wie vor ohnmächtig oder schien tief zu schlafen. Noch immer war ihre Haut viel zu bleich und auch ihren Lippen haftete weiterhin ein bläulicher Farbton an, aber abgesehen davon war nichts Ungewöhnliches an ihr auszumachen. Sie schien das Experiment zumindest äußerlich unverletzt überstanden zu haben.

Dennoch fühlte er sich seltsam unwohl, als er sie ansah, war sich allerdings nicht sicher, ob es wirklich einen Grund dafür gab oder es nicht vielmehr seinem Unterbewusstsein anzulasten war, dass er so empfand. Sie war der einzige Mensch, den er kannte, der ein Artefakt mit bloßer Haut berührt und dieses Erlebnis überlebt hatte. Womöglich war sie sogar der einzige Mensch auf dem Planeten, auf den das zutraf. Was würde nun mit ihr geschehen?

Nick erschauderte unwillkürlich. Er war bei Gott kein besonders gebildeter Mann, verstand aber genug von der Welt, um zumindest grundsätzlich zu begreifen, was mit ihr geschehen könnte. Womöglich hafteten diesen Artefakten Viren, Bakterien oder etwas ganz anderes an, mit dem Menschen noch nie in Kontakt gekommen waren. Etwas, das das Immunsystem überlistete und den gesamten Organismus dahinraffte. Vielleicht hatte dieses Ding sogar ihren Verstand schlichtweg gelöscht und ihr Gehirn überlastet. Dass die Artefakte einen Einfluss darauf hatten, wusste er. Was also, wenn sie Wellen oder eine Form von Strahlung absonderten?

Oder – und er hasste sich selbst für diesen Gedanken – wenn nun tatsächlich etwas geschah, das man sonst nur aus Science-Fiction Büchern und Filmen kannte? Wenn die Außerirdischen ihre Gedanken kontrollierten, sie Dinge tun ließen oder in irgendeine Abscheulichkeit verwandelten?

Nick wusste nicht, wie lange er einfach nur in seinem Käfig saß und seine Gedanken abdriften ließ. Vielleicht waren es nur Sekunden, vielleicht Minuten oder Stunden. Es spielte keine Rolle. Die beiden Soldaten waren längst wieder gegangen und diesmal waren er und Deer tatsächlich allein. Allein in dieser Halle, vergessen vom Rest der Welt, hilflos und hoffnungslos.

Er hätte es einfach beenden sollen. Anders als Deer war er nicht nackt; man hatte ihm seine Kleidung gelassen, sogar seinen Gürtel. Es wäre ein Kinderspiel gewesen, damit einen provisorischen Strick zu basteln und sich selbst zu erhängen. So würde er den Experimenten entkommen und diesen verfickten Hurensöhnen gleichzeitig zeigen, dass sie nicht tun konnten, was sie wollten. Dass er sich wehrte.

Warum tat er es nicht einfach? Er wusste es nicht, konnte es sich nicht erklären. Zwar kreisten seine Gedanken einzig und allein darum, sein eigenes Leben zu beenden, aber bislang blieb alles nur ein Gedankenspiel. War es Feigheit, die ihn zögern ließ? Dieselbe Feigheit, die ihn überhaupt erst in diese ganze Scheiße gebracht hatte? Oder gehörte einfach mehr dazu, als er glaubte, um seinen eigenen Körper und Lebenserhaltungstrieb zu überwinden?

Plötzlich ein lauter Knall unmittelbar neben ihm. Die Tür flog auf und ein einzelner, glatzköpfiger Mann mit einer provisorisch verbundenen Schusswunde am Arm stürmte herein. Er trug eine andere Uniform als die anderen Soldaten und ein deutsches Sturmgewehr in den Händen.

»Soldaty?!«, fragte er, trat vor den Käfig und deutete in die Halle. »Nikto?«

»Ich bin Amerikaner«, antwortete Nick langsam und versuchte angestrengt, sich an die paar Fetzen Deutsch zu erinnern, die er früher aufgeschnappt hatte. »Ich …«

»Schon gut.« Der Mann ließ sein Gewehr sinken. Er hatte einen beinahe lächerlich intensiven deutschen Akzent. »Ich spreche Englisch. Was ist hier los?«

»Sie experimentieren hier an Menschen! Ich habe gesehen, wie sie einen Gabelstapler voller Leichen nach draußen gefahren haben. Die Frau im Käfig neben mir wurde mehr als drei Minuten direkt mit einem Artefakt berührt! Sie …«

Der Mann schaute sich in der Halle um. Sein Blick blieb erst an der Plexiglaskammer in der Mitte hängen und anschließend an den Computern. Er schien mit sich zu ringen, was er tun sollte.

»Hol uns hier raus!«, verlangte Nick. »Bitte!«

»Ich bin nicht hier, um irgendjemanden zu retten«, entgegnete er und warf einen Blick zur Tür. »Tut mir leid, Junge, ich …«

»Ich weiß, wie man schießt!«, unterbrach ihn Nick. »Gottverdammt, das kann nicht dein Ernst sein! Die bringen uns um! Hol mich hier raus und gib mir eine Waffe, dann sichere ich die Tür, während du dich um den Computer kümmerst. Abgemacht?«

Er streckte ihm die Hand durch die Gitter entgegen.

Der Deutsche zögerte einen Moment, schlug dann jedoch ein und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, zurückzutreten, bevor er mit dem Gewehrkolben dreimal auf das Schloss eindrosch, das mit einem lauten Klirren aufsprang und auf den Boden fiel. Sofort drückte Nick die Tür auf und verließ den Käfig, doch als er gerade zu Deer treten und sie befreien wollte, hielt ihn der Mann zurück, drückte ihm eine großkalibrige Pistole in die Hand und nickte in Richtung Tür.

»Ich kümmere mich darum«, knurrte er. »Du deckst mich. Jeder russische Soldat fängt sich eine Kugel ein, aber pass auf: Irgendwo auf dem Gelände ist meine Kollegin. Ein Mädchen mit schwarzer Uniform.«

»Verstanden.«

Nick überprüfte die Waffe und umfasste sie mit beiden Händen, bevor er sich neben der nach wie vor offen stehenden Tür in Position brachte und in den Korridor zielte. Hinter sich hörte er derweil, wie der Mann erst das Schloss von Deers Käfig zerstörte, bevor er sich am Computer zu schaffen machte und mit rasender Geschwindigkeit an der Tastatur zu tippen begann. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Kerl war, aber nichts hätte ihn in diesem Augenblick weniger interessieren können. Dieser Mann hatte ihn und Deer gerettet.

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. Mit einer Hand überspielte der Deutsche Daten auf eine kleine Festplatte, während er mit der anderen gleichzeitig eine Ladung Plastiksprengstoff an den Computern anbrachte. Dieser Kerl war eindeutig ein Kommandosoldat. Jemand, der weit hinter feindlichen Linien operierte. Und da die Russen ein solches Labor unter keinen Umständen auch nur in der Nähe der Front errichtet hatten, mussten sie sich entsprechend tief im feindlichen Hinterland befinden.

Plötzlich eine Bewegung im Korridor. Nick drückte den Abzug schon halb durch, bereit, beim kleinsten Anzeichen auf russische Soldaten zu schießen, hielt dann jedoch inne, als er einen Mann mit weißem Laborkittel sah, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen von einer Frau in schwarzer Uniform begleitet wurde. Das musste die Kollegin des Deutschen sein – und der Mann, den sie vor sich hertrieb, war der, der das Experiment geleitet hatte. Er erkannte es an seinem Blick.

Die Frau hob ihr Gewehr und zielte am Wissenschaftler vorbei auf ihn. Nick stand auf, ließ seine Waffe sinken und trat einen Schritt zurück, bevor er sie herwinkte. Sie schien sofort zu verstehen, ließ ihrerseits ihre Waffe ein wenig sinken und stieß den Wissenschaftler durch die Tür.

»Walther!«, rief sie, kaum erblickte sie den Deutschen am Computer. »Gott, ich dachte, du bist tot!«

»Ich habe doch gesagt, dass ich mehr Munition habe, als es hier Soldaten gibt«, erwiderte dieser, ohne sich umzusehen. »Ich brauche hier noch fünf Minuten. Danach müssen wir sofort verschwinden, bevor Verstärkungen eintreffen. Falls es nicht schon zu spät ist. Die beiden da sind Gefangene. Amerikaner. Deine Zuständigkeit.«

»Amerikaner?« Die Frau sah ihn an. »Wie zum Teufel seid ihr in einem russischen Labor gelandet?«

»Lange Geschichte«, antwortete Nick tonlos.

»Wir haben fünf Minuten.«

Er holte tief Luft und nickte. Ihm war vollkommen bewusst, dass ihn die Wahrheit vermutlich früher oder später in mehr als genug Schwierigkeiten bringen würde, aber gerade war ihm das absolut egal. Lieber verbrachte er den Rest seines Lebens in einem amerikanischen Gefängnis, als sich durch Lügen und Ausflüchte noch tiefer in die Scheiße zu reiten. Er hatte in den letzten Stunden ja gesehen, wohin ihn das brachte.

»Mein Name ist Nick Hargraves«, sagte er schließlich und hielt den Blick dabei stur zu Boden gerichtet. »Das da ist Jennifer Deer. Ich bin Prospektor, habe in den USA Alien-Artefakte gesammelt. Deer hat sich um den Weiterverkauf gekümmert. Wir sind nach Osteuropa gegangen, weil uns die Bundesbehörden auf der Spur waren, und wollten hier Kontakte treffen, aber es hat sich herausgestellt, dass der russische Geheimdienst Deer von Anfang an manipuliert hat. Es ging ihnen nicht um die Artefakte, sondern um uns. Wir waren den Artefakten lange Zeit direkt ausgesetzt. Deswegen wollten sie an uns experimentieren.«

Er sah auf und deutete auf den Wissenschaftler, der mit versteinerter Miene vor sich hin starrte.

»Und der Kerl hat das alles geleitet.«

»Nick Hargraves?«, wiederholte die Frau und klang dabei beinahe amüsiert. »Das ist ja ein Zufall.«

»Bitte was?«, war alles, was er herausbrachte.

»Es war mein Job, dich zu jagen«, grinste die Frau. »In den USA. Wir waren dir dicht auf den Fersen. Bei der Teton Range hätten wir dich beinahe erwischt, aber leider konnten wir nur Anne Bloom finden.«

»Sie sind den ganzen Weg gekommen, um mich zu verhaften?«

»Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber der Dritte Weltkrieg ist ausgebrochen«, erwiderte die Frau. »Wir haben Besseres zu tun, als Leute wie dich zu jagen – wobei ich auch nicht Nein sagen werde, jetzt, da ich dich gefunden habe. Ich glaube, ihr beide könnt jede Menge über russische Kriegsverbrechen erzählen.«

»Wollen Sie diesen Wichser etwa am Leben lassen?«, hauchte Nick und deutete auf den Wissenschaftler. »Der Kerl hat Dutzende umgebracht!«

»Und eine Kugel im Kopf beendet sein Leben innerhalb eines einzigen Augenblicks. Den Rest seines Lebens in Einzelhaft in einer fensterlosen Zelle. Vier mal vier Meter mit Betonbett und Kloschüssel aus rostfreiem Stahl – so bestraft man einen Menschen.«

Kapitel 13

F ast zwei Dutzend Leichen lagen auf dem Areal zwischen dem Hangartor und den beiden Gebäuden. Soldaten, erschossen von Walther, der offensichtlich im Alleingang das gesamte Wachpersonal entweder getötet oder zur Flucht gezwungen hatte. Wie genau ihm das gelungen war, war Keyes ein Rätsel. Aber der Art nach zu urteilen, wie die Leichen dalagen, hatte sich der Deutsche schnell durch den Wald innerhalb des umzäunten Bereichs bewegt und von verschiedenen Richtungen aus angegriffen. Ein alter Trick, der schon oft genug Erfolg gehabt hatte. Man machte den Feind glauben, dass er es mit mehr Kämpfern zu tun hatte, als eigentlich da waren. Hatte man erst einmal Verwirrung gestiftet, war der Schaden schon angerichtet.

Ein Glück, dass der Kerl auf ihrer Seite stand.

Leise fluchend kletterte Keyes in das Führerhaus eines der fünf Laster und blickte auf die Tankanzeige. Genau wie bei den anderen vier war der Tank so gut wie leer, aber mit etwas Glück genügte es, um sie von hier wegzubringen, bevor Verstärkungen auftauchten – und das war nur noch eine Frage von Minuten. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie den anderen, auf die Ladefläche zu klettern. Walther wuchtete zuerst den geknebelten Morosow an Bord und fesselte ihn an Armen und Beinen an eine der Metallstreben, über die sich die Plane spannte, bevor er Hargraves half, die ohnmächtige Deer auf die Ladefläche zu heben.

Der Deutsche klopfte von hinten an das Führerhaus. »Wir können los!«

»Verstanden!«

Keyes startete den Motor, der zum Glück sofort ansprang, und lenkte die wuchtige Maschine in Richtung des Kontrollpostens. In einer Hand hielt sie ihre Pistole und auf dem Beifahrersitz neben ihr lag griffbereit ihr Gewehr. Es konnte sich wirklich nur noch um Minuten handeln, bis Sicherungseinheiten des Militärs oder zumindest lokale Polizeikräfte auftauchten. Wenn überhaupt. Auf beides konnte sie verzichten. Nicht nur, weil sie ein offenes Feuergefecht mit Soldaten unmöglich überstehen würden, sondern auch, weil sie nicht auf Polizisten schießen wollte.

Zumindest bisher sah es allerdings gut aus. Die Straße, über die sie vorhin gekommen waren, war nach wie vor leer. Einzig neben dem Kontrollposten, den Walther angegriffen hatte, lagen die Leichen der Soldaten am Straßenrand. Die meisten von ihnen hatten einen sauberen Kopfschuss.

»Walther, ich brauche Input!«

»Bring uns nach Süden!«, antwortete der Deutsche sofort. »Ich versuche, mein Einsatzkommando zu erreichen, und organisiere uns einen Evac. Fahr auf der Straße, halt dich ans Geschwindigkeitslimit. Das ist ein russischer Laster. Die Weißrussen werden uns passieren lassen, wenn sie nicht gerade sehen, dass du eine Frau bist.«

»Willst du nicht lieber fahren?«

»Ich komme gleich nach vorne. Sekunde noch.«

Keyes seufzte leise und suchte die Umgebung nach einem Hinweis darauf ab, aus welcher Richtung weißrussische Einheiten zu erwarten waren. Babrujsk lag ein Stück nordöstlich von ihnen; sie konnte die Silhouetten der Gebäude am Horizont erkennen. Polizeieinheiten würden höchstwahrscheinlich von dort kommen. Was allerdings Militär anging, wusste sie nicht, wo sich die nächstgelegenen Basen befanden. In unmittelbarer Umgebung konnte es zumindest keine geben, denn sonst wären sie niemals so weit gekommen.

Schließlich erreichte sie eine reguläre Straße. Besonders viel Verkehr gab es nicht, wenn man einmal von ein paar Schwertransportern absah, die russische Panzer nach Westen brachten. Keiner davon schien sich für sie zu interessieren. Das war gut. Mit etwas Glück konnten sie den militärischen Verkehr nutzen, um nicht weiter aufzufallen.

»Wir haben ein Problem«, drang plötzlich Walthers Stimme zu ihr und jagte ihr augenblicklich einen eiskalten Schauer über den Rücken. Keine Sekunde später zwängte er sich auch schon durch das kleine Fenster zwischen Führerhaus und Ladefläche, legte eine Hand aufs Lenkrad und bedeutete ihr kopfnickend, nach hinten zu klettern.

»Was für ein Problem?«, fragte Keyes und tat, wie geheißen.

»Die Russen setzen Giftgas ein«, knurrte er. »Und zwar auf breiter Front. Die militärische Lage im Westen ist ziemlich festgefahren.«

»Also keinen Evac?«

»Negativ. Zumindest nicht von meinen Leuten. Jede Aktivität in der Luft kommt einem Todesurteil gleich. Wir müssen auf dem Landweg raus. Aber weil die Russen auch zunehmend in der Ukraine Druck machen, könnte das schwierig werden.«

»Was bedeutet das für uns?«

»Schwierig. Nach Norden oder Westen können wir nicht. Da herrscht Krieg. Mit drei Zivilisten an Bord ein Ding der Unmöglichkeit. In der Ukraine … vielleicht, aber wenn die Russen da jetzt ebenfalls in die Offensive gehen, könnten wir vielleicht zwischen die Fronten geraten. Ich habe Kontakte in Kursk. Das wäre einen Versuch wert.«

»Kursk? Wir sollen nach Russland?«

»Fällt dir etwas Besseres ein? Wie wolltest du nach deiner Mission denn evakuieren?«

»Das hätte ich mit meinem Kontakt in Pinsk geklärt.«

»Soll ich nach Pinsk fahren?«

»Bring uns erstmal hier weg. Dann sehen wir weiter.«

Sie seufzte abermals, vergrub das Gesicht in den Händen und atmete ein paarmal durch. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht den leisesten Schimmer, was sie tun sollten. Da ihre Mission keine festen Parameter kannte – vor allem nicht, was den Faktor Zeit anging – hatte sie keinen Fluchtplan im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr die Freigabe, Kontakte und Ressourcen der Agency nach eigenem Ermessen zu benutzen, um ihre Ziele zu erreichen und anschließend einen Weg nach Hause zu finden.

Ganz am Anfang, bevor sie sich mit Walther zusammengetan hatte, war es ihr Plan gewesen, im Schutz der Dunkelheit durch die Frontlinien zu schlüpfen. Allerdings hatte ihr die gestrige Katastrophe eindeutig gezeigt, dass das keine Option war. Zumindest nicht entlang der kontinentaleuropäischen Front und vor allem nicht mit drei Zivilisten im Schlepptau. Allein wäre das vielleicht eine Möglichkeit gewesen, aber so?

»Darf ich Sie etwas fragen?«, fragte Hargraves plötzlich mit leiser, geradezu vorsichtiger Stimme.

»Nur zu.«

»Sie sagen, Sie haben in den Staaten nach mir gesucht«, fuhr er zögerlich fort. »Wieso?«

»Wegen der Artefakte. Was denkst du denn?«

Er schwieg einen Moment lang.

»Sie wissen, was bei Gleeson passiert ist, oder?«

»Das ist richtig.«

»Ich wollte das nicht.« Er holte tief Luft. »Ich weiß, das sagt jeder, aber ich wollte das alles nie. Ich bin in diese Sache reingeraten und war zu feige, wieder abzuspringen.«

Keyes spürte, wie ein Lächeln über ihre Lippen huschte. »Weißt du was? Ich glaube dir. Von dem, was ich über dich in Erfahrung bringen konnte, bist du kein schlechter Mensch. Aber – und das meine ich nicht böse – das ist mir gerade egal. Ich bin nicht hergekommen, um dich zu suchen, sondern um meine Mission zu erfüllen. Und du siehst ja, wie das ausgegangen ist. Wenn ich ehrlich bin, wäre es mir lieber, wenn wir dich nicht gefunden hätten. Dann müsste ich keine Zivilisten mit mir herumschleppen.«

»Wir können auf uns aufpassen.«

»Das glaube ich dir.«

»Warum lassen Sie uns nicht einfach gehen?«

Sie schnaubte leise. »Na gut. Ich bin gespannt, wie lange du durchhältst, bevor dich ein russischer Konvoi aufsammelt.«

»Auch wieder wahr.« Er lachte leise. »Sie haben bei der Teton Range also jemanden gefunden? Das Mädchen ist knallhart. Deer hat sie auf mich angesetzt. Eine komplizierte Geschichte.«

»Du kapierst es nicht, oder? Ich bin nicht hinter dir her, Hargraves. Das ist nicht meine Mission – und ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich das nicht mehr tun muss. Ich bin von der CIA. Wollte ich Leute jagen, wäre ich zum FBI gegangen.«

»Also hat es wahrscheinlich keinen Sinn, um Straffreiheit zu verhandeln?«

»Straffreiheit?« Nur mit Mühe konnte sich Keyes ein schallendes Lachen verkneifen. »Das kann nicht dein Ernst sein! Schaust du zu viele Filme?«

»Fakt ist, ich habe jede Menge Informationen«, fuhr Hargraves unbeirrt fort. »Ich habe eine Theorie, wie die Artefakte die Erde erreichen, kann etwas dazu sagen, wie sie auf gewisse … Umstände reagieren – und ich weiß alles, was mir dieser Hurensohn von Wissenschaftler da gesagt hat.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Wie gesagt: Ich will Immunität.«

Keyes seufzte. »Ich kann dir keine Immunität zusichern, weil das gar nicht in meiner Macht steht, kapierst du das denn nicht? Soll ich dir ins Gesicht lügen, damit du irgendwann doch im Bau landest? Sag mir, was du weißt, dann verspreche ich dir, dass ich deine Zusammenarbeit im Einsatzbericht lobend hervorheben werde. Mit etwas Glück führt das über ein paar Ecken dazu, dass du für die Scheiße bei Gleeson nicht belangt wirst.«

»Was in Gleeson passiert ist, war Notwehr.«

»Gott im Himmel, jetzt rede endlich!«

»Gas.«

»Wie bitte?«

»Die Artefakte bestehen aus Gas«, sagte er tonlos. »Zumindest glaube ich das. Als mich das Gewitter auf der Teton Range überrascht hat, wurde die Welt um mich herum anders. Da hing ein violettes Schimmern in der Luft, nicht unähnlich zu dem, wie es auch die Artefakte besitzen, wenn Licht auf sie fällt. Außerdem habe ich etwas gerochen, das ich noch nie zuvor gerochen habe. Und …«

Er hielt inne.

»Was?«, verlange Keyes sofort. »Jetzt rede, verdammt!«

»Hören Sie.« Hargraves schloss die Augen. Zum ersten Mal, seit sie den Laster betreten hatten, schien er sich ein wenig zu entspannen. Oder zumindest interpretierte sie sein kurzes Durchatmen so. Beinahe war es, als würde er sich die Last von der Seele reden. »Ich bin kein Wissenschaftler und das sind nur meine Gedanken dazu. Ich habe das Artefakt nur wenige hundert Meter von meinem Unterschlupf entfernt gefunden. Wäre es aus dem Himmel gefallen, hätte ich einen Einschlag hören müssen und einen Krater gefunden, oder? Da war nichts dergleichen. Was also, wenn sich dieses Artefakt materialisiert hat?«

»Aus Gas?«

»Von mir aus auch aus Einhorntränen«, knurrte Hargraves und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Ich weiß selber, wie sich das anhört, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass diese Dinger nicht einfach so vom Himmel fallen. Und ganz ehrlich – besonders gut ist die Regierung nicht darin, sie zu finden. Zählen Sie doch zwei und zwei zusammen! NORAD und Ihre ganzen Spielereien bemerken es, wenn ein Spatz furzt, aber bisher haben Sie sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wenn es darum geht, vor uns Prospektoren vor Ort zu sein. Das bedeutet im Umkehrschluss, NORAD bemerkt diese Dinger nicht.«

»Weiter«, verlangte Keyes nur.

»Die Artefakte reagieren auf radioaktive Strahlung. Als wir bei Tschernobyl waren, habe ich gesehen, wie zwei davon von innen heraus geleuchtet haben. Und dieser Hurensohn von Wissenschaftler experimentiert an Menschen – er versucht herauszufinden, unter welchen Umständen man sie berühren kann, ohne zu sterben. Deer war drei Minuten lang in direktem Kontakt mit einem Artefakt!«

Keyes nickte, sagte aber nichts. Was sie gerade gehört hatte, musste sie erst einmal verarbeiten. Vor allem, da es ihre eigene Vermutung bestätigte. Wenn mit Hargraves ein Prospektor und damit jemand, der wusste, was los war, vom Boden aus ein solches Ereignis miterlebte, stellte das eine ganz andere Erkenntnisgrundlage dar als alles, was sie sich abstrakt zusammenreimte.

Er mochte es zwar sarkastisch gemeint haben, aber NORAD war tatsächlich in der Lage, so gut wie jedes Ereignis im Himmel über den Vereinigten Staaten zu erfassen – größere Hagelkörner miteingeschlossen. Ein Gas, das sich auf der Erde entweder wegen atmosphärischen Bedingungen oder anderen Faktoren verfestigte, erklärte vieles. Und sein Verweis auf die radioaktive Reaktion noch viel mehr.

Beinhaltete dieser Zusammenhang womöglich die Erklärung dafür, dass die Atomwaffen des Planeten nicht mehr funktionierten? Wenn diese Artefakte auf Radioaktivität reagierten, lag schließlich die Schlussfolgerung nahe, dass sie einen wie auch immer gearteten Einfluss darauf nahmen – und auf alles, was sich die Wirkprinzipien zu Nutze machte. Oder? Was also, wenn die Artefakte sogar explizit diesem Zweck dienten? Verdammt, was, wenn sie die Verteidigungsfähigkeit der Menschheit reduzieren sollten?

Keyes holte tief Luft und strich sich mit beiden Händen übers Gesicht. Atomkraftwerke weltweit funktionierten nach wie vor. Allerdings benutzten sie Brennstäbe, die nur zu circa fünf Prozent aus spaltbarem Uran bestanden, und setzten deren Energie über einen verhältnismäßig langen Zeitraum frei. Atombomben hingegen benutzten hochangereichertes Uran mit beinahe 100 Prozent spaltbarem Material – oder ein anderes entsprechend angereichertes Element – das seine Energie bei Detonation innerhalb eines einzigen Augenblicks freisetzte. Zwei ähnliche, letztlich jedoch unterschiedliche Wirkungsweisen. Was also, wenn die Artefakte genau da ansetzten und dafür sorgten, dass die Energie hochangereicherter Massen schlichtweg verpuffte oder zu keiner Reaktion mehr fähig war?

Mit einem Mal fühlte sich Keyes, als würde ihr Kopf rasen. Verdammt, sie war da an etwas dran! Mit vor Aufregung zitternden Fingern zog sie ihr Satellitentelefon aus der Tasche.

»Agent Keyes hier. Op-Com, hören Sie?«

»Positiv, Agent Keyes. Sprechen Sie.«

»Melden Sie an das SPACECOM, dass die Artefakte Einfluss auf hochangereichertes Uran nehmen. Das ist der Grund dafür, dass die Kernwaffen nicht mehr funktionieren. Die Artefakte reagieren explizit auf radioaktive Strahlung. Allerdings fokussieren sich die russischen Forschungen bisher anscheinend auf Menschenversuche. Wir haben eine Festplatte voller Daten, sowie zwei amerikanische Staatsbürger, an denen experimentiert wurde, und den leitenden Wissenschaftler der Russen.«

»Verstanden, Agent Keyes. Woher beziehen Sie Ihre Informationen?«

»Von dem Prospektor Nick Hargraves. Er ist einer der Amerikaner, die wir befreit haben. Seine Vermutungen decken sich mit meinen Erkenntnissen. Ich halte sie für eine belastbare Untersuchungsgrundlage.«

»Verstanden. Wie ist Ihr Status?«

Sie klopfte ans Führerhaus. »Wo sind wir, Walther?«

»Mikhailovka.«

»Mikhailovka«, wiederholte sie. »Das deutsche Einsatzkommando kann uns nicht rausholen. Haben wir Kapazitäten, uns in der Ukraine zu evakuieren?«

»Die russische Armee steht kurz vor Iwankiw. Wenn Sie es nach Kiew schaffen, können wir Sie rausholen. Wir prüfen die Optionen und melden uns wieder.«

»Schaffen wir«, meldete sich Walther von vorne.

»Verstanden, Op-Com«, sagte Keyes. »Wir machen uns auf den Weg nach Kiew. Ich platziere einen Peilsender an der Festplatte, falls wir es nicht schaffen.«

»Verstanden, Agent Keyes. Viel Glück. Op-Com Ende.«

*****

Es stellte sich als überraschend leicht heraus, in einem russischen Militärlaster unerkannt und vor allem unbehelligt durch Weißrussland zu fahren. Keyes war sogar versucht, ihre Reise als Kinderspiel zu bezeichnen, hütete sich aber davor, das auch nur in Gedanken zu tun, denn wenn sie eines nicht wollte, dann war es, ihr Schicksal herauszufordern. So oder so gingen sie in der Masse der Laster unter, die auf fast jeder größeren Straße des Landes unterwegs waren – und die nunmehr seit über einem Jahr im Land befindlichen russischen Streitkräfte taten sicher ihr Übriges bei der lokalen Bevölkerung.

Am liebsten hätte sie ein wenig geschlafen, aber leider war das etwas, an das sie sich ebenfalls nicht zu denken traute. Hargraves mochte zwar nach außen hin erleichtert wirken, von ihr und Walther gerettet worden zu sein, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihm trauen konnte. Immerhin war er ein Artefaktjäger, der nachgewiesenermaßen einen Mann erschossen hatte, und in diesen Stunden konnte niemand bestätigen oder widerlegen, ob seine Geschichte stimmte. Was sie anging, lag es zumindest im Bereich des Möglichen, dass er sich aus freien Stücken heraus mit den Russen eingelassen hatte.

Was die anderen beiden anging, sah die Sache zumindest ein kleines bisschen besser aus. Morosow schien akzeptiert zu haben, dass er so schnell nicht wieder aus der Sache rauskam, und Deer lag nach wie vor ohnmächtig auf der Ladefläche. Um ehrlich zu sein, war sie es, die ihr die meisten Sorgen bereitete. Falls Hargraves Aussagen der Wahrheit entsprachen – und davon musste sie aktuell ausgehen – dann war diese Frau länger einem Artefakt ausgesetzt gewesen als jeder andere Mensch. Und sie lebte. Allein das grenzte in ihren Augen an ein medizinisches Wunder.

Keyes seufzte stumm und musterte die Frau von Kopf bis Fuß. Rein optisch betrachtet, schien ihr nichts weiter zu fehlen. Sie hatte keine offensichtlichen Verletzungen und auch sonst war nichts Unnormales an ihr festzustellen, wenn man einmal von der Ohnmacht und ihrer bleichen Haut absah. Unter anderen Umständen wäre sie versucht gewesen, das als Begleiterscheinung der Experimente abzutun. Schließlich besaß die CIA ebenfalls große Erfahrung damit, Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg … ruhigzustellen.

Aber das galt hier nicht. Nicht unter diesen Umständen.

Es war nicht einmal die Tatsache, dass sie mit dem Artefakt in Kontakt gekommen war, die ihr solches Kopfzerbrechen bereitete, sondern vielmehr die, dass russische Wissenschaftler explizit an ihr experimentiert hatten. An einem Menschen. Jetzt, im Krieg. Während der Eröffnungstage des Dritten Weltkriegs. Eine solche Forschung – vor allem in einem Geheimlabor in Weißrussland, fernab allem, was von der russischen Öffentlichkeit übrig war – konnte einzig militärischen Zielen folgen. Versuche, die Artefakte waffenfähig zu machen.

Nur auf welche Weise? Keyes wusste, dass sie bloß spekulieren konnte, aber die Überlegungen, die ihr einigermaßen naheliegend erschienen, ließen sie erschaudern. Da die russische Armee anscheinend auf breiter Front Giftgas gegen NATO-Stellungen einsetzte, erschien ihr ein Verwendungszweck in diesem Bereich naheliegend.

Direkter Hautkontakt brachte Menschen in aller Regel um. Was also, wenn sie nach einer Möglichkeit suchten, die Artefakte wieder gasförmig zu machen und als Waffe einzusetzen? Als Waffe, gegen die die Truppen der NATO selbst mit Gasmasken keine Chance hatten? Was, wenn …

»Keyes!« Plötzlich ertönte Walthers mehr als nur gereizte Stimme. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. »Keyes, hörst du mich, verdammt?!«

»Ich höre!«, rief sie und sah sich um. »Was ist?«

»Ich habe dich jetzt dreimal angesprochen! Ist alles okay bei dir?!«

»Tut mir leid, ich war in Gedanken.«

»Das können wir uns gerade nicht leisten. Hör mir zu: In 20 Minuten erreichen wir Narowlja. Eine kleine Stadt am Rand des Polessischen Schutzgebiets – das Äquivalent zur ukrainischen Sperrzone. Ich verfolge seit einiger Zeit den Funkverkehr der Russen. Mein Russisch ist zwar nicht mehr so gut, wie es früher mal war, aber immer noch gut genug. Da die Front aktuell bei Iwankiw und damit südlich der ukrainischen Sperrzone verläuft, sollten wir uns mehr oder weniger ungehindert durch das Gebiet um Pripyat bewegen können.«

»Verstanden.«

»Ich bin noch nicht fertig. Wenn wir nämlich nicht gerade durch den gleichnamigen Fluss und – vorausgesetzt, wir ertrinken nicht – anschließend durch den Dnjepr schwimmen wollen, war’s das. Die Offensive auf Kiew läuft mit extremer Intensität. Die Russen wollen die ukrainische Front ein für alle Mal schließen, um sich mit aller Kraft der NATO zuwenden zu können – vor allem der weichen Flanke im Südosten. Selbst mit dem Laster kommen wir da nicht weit.«

»Uns bleibt keine Alternative.«

»Doch.«

»Die da wäre?«

»Deine Leute. Ich lasse mich nicht länger vertrösten. Wir haben mehr als genug geleistet. Es wird Zeit, dass man uns hier rausholt. Du klemmst dich jetzt an dein kleines Satellitentelefon und besorgst uns einen Hubschrauber.«

»Das Op-Com hat gesagt …«

»Das ist mir sowas von egal!«, raunte Walther. »Keyes, es muss passieren – jetzt! Wie, ist mir egal. Wir brauchen einen Evac. Von mir aus bei Nacht. Ein halbwegs tauglicher Pilot kann von Kiew aus nach Norden fliegen. Wenn er sich ein paar Meter über dem Dnjepr hält, erfasst ihn kein Radar. Ich bringe uns auf dem Landweg so weit nach Süden, wie ich nur kann, aber irgendwann ist Schluss. Morosow und die Daten sind zu wichtig, als dass wir ein solches Risiko eingehen können. Und ich bezweifle, dass dein Op-Com das kapiert.«

Keyes nickte, obwohl sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, und griff nach ihrem Satellitentelefon. Keine Verbindung. Sie kniff die Augen zusammen und überprüfte die Antenne. Alles war in Ordnung. Warum zum Teufel funktionierte es nicht? Waren die Kommunikationssatelliten zerstört worden? Nein, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

»Ich kriege keine Verbindung rein, Walther.«

»Wie meinst du das?!«

»Ich erreiche niemanden! Die Verbindung ist unterbrochen!«

Walther fluchte auf Deutsch, bevor er den Laster plötzlich derart unvermittelt zur Seite lenkte, dass Keyes um ein Haar das Gleichgewicht verlor. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihr, sich an einer der Metallstreben festzuklammern.

»Was ist los?!«, rief sie sofort.

»Störsender!«, antwortete Walther nur.

Auch Keyes fluchte nun, kroch zur Seite und warf einen Blick unter der Plane hindurch, konnte allerdings nichts erkennen. Rings um den Laster herum befanden sich nur Felder und Wald. Gottverdammt. Wenn hier in der Gegend tatsächlich ein Störsender oder wahrscheinlich sogar mehrere aktiv waren, konnte das nur bedeuten, dass größere strategisch wichtige Truppenverbände zusammengezogen wurden. Raketenbatterien, um Kiew zu beschießen? Bis zur ukrainischen Hauptstadt waren es von hier aus nur knapp 100 Kilometer.

Plötzlich ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen. Deer, die bis gerade vollkommen regungslos auf der Ladefläche gelegen hatte, begann sich zu rühren. Zwar hielt sie die Augen nach wie vor fest geschlossen, aber ihre Arme und Beine zuckten – und auf einmal ballte sie die Hände mit einer solchen Kraft zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel tief in ihre Haut gruben und sie bluten ließen.

Hargraves war sofort bei ihr, kniete sich hin und versuchte, ihre Finger zu lösen, aber er hatte keine Chance. Deer zuckte wie verrückt und entwickelte dabei eine unglaubliche Kraft. Keyes kniete sich ebenfalls zu ihr, hielt dann jedoch inne, als sie sah, dass sich auf Deers gesamtem Körper kleine Bluttropfen abzeichneten. Blut, das aus ihren Poren quoll. Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, packte sie Hargraves an den Armen und zerrte ihn weg von ihr.

»Was soll das?!«, knurrte er und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, aber sie ließ ihn nicht los.

»Sieh doch hin!«, fauchte sie. »Da stimmt etwas nicht! Du weißt nicht, was mit ihr passiert, und das bedeutet, dass das ansteckend sein könnte! Du wirst sie nicht berühren!«

»Sie braucht Hilfe, verdammt!«

»Und wie willst du ihr helfen?! Was willst du für sie tun?!«

»Wir brauchen Verbandszeug! Schmerzmittel! Irgendwas!«

Er hielt inne. Keyes sah es auch: Deer blieb auf einmal regungslos liegen. Ihr gesamter Körper war von Blut benetzt und ihr Herz schlug dermaßen schnell, dass ihre Brust geradezu erzitterte. Aber ihre Augen waren nach wie vor geschlossen.

Keyes warf Hargraves einen kurzen Blick zu, schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, Deer unter keinen Umständen zu berühren, ehe sie nach ihrem Rucksack griff und das Verbandszeug herausholte. Viel war es bei Gott nicht, aber es musste genügen. Und nachdem sie die Gummihandschuhe angezogen und ihre Hände so zumindest ein wenig geschützt hatte, beugte sie sich vorsichtig über Deer.

Es war offensichtlich, dass irgendetwas mit ihr ganz und gar nicht stimmte. Das Blut auf ihrer Haut schien zu zerfallen. Rote Blutkörperchen und Plasma trennten sich, sodass ihre Haut innerhalb weniger Sekunden von einer gelblich schimmernden Schmiere überzogen war. Allerdings schien das, was gerade geschehen war – was auch immer es war – nicht mehr stattzufinden.

Wenigstens etwas.

Vorsichtig tastete sie sie über Deers Körper. Überall konnte sie Verdickungen unter ihrer Haut feststellen; die allermeisten etwa kirschkerngroß, hart und beweglich. Geschwollene Lymphknoten vielleicht? Hatte der Kontakt mit dem Artefakt womöglich eine Immunreaktion oder sogar eine Entzündung ausgelöst? Sie war sich nicht sicher. So oder so gab es nicht viel, was sie für sie tun konnte. Ihr Verbandszeug war darauf ausgelegt, extern verursachte Verletzungen zu behandeln, und nicht so etwas. Deer brauchte einen Arzt und intensivmedizinische Betreuung, aber das konnten sie ihr nicht zeitnah zukommen lassen.

»Siehst du das?!« Plötzlich donnerte Hargraves Stimme zu ihr. Keyes drehte sich sofort um, nur um gerade noch zu sehen, wie er Morosow mit geballter Faust in den Bauch schlug. »Siehst du, was du angerichtet hast?! Du …«

»Es reicht!« Keyes trat zu ihm und packte ihn am Arm, aber er riss sich auf der Stelle los, holte abermals aus und schlug dem Wissenschaftler erneut mit aller Kraft in den Bauch. Morosow schrie auf. »Hargraves, Stopp!«

»Dieser Hurensohn ist dafür verantwortlich!«, schrie er. »Seinetwegen passiert das!«

»Das mag sein, aber nichts wird besser, wenn du ihn totschlägst!«, rief Keyes und zerrte ihn mit aller Kraft zurück. »Schluss jetzt! Es reicht!«

Ein paar Sekunden lang starrte Hargraves Morosow an und sah dabei aus, als hätte er nichts lieber getan, als ihm mit bloßen Händen das Herz aus der Brust zu reißen, ließ dann aber schwer atmend von ihm ab, riss sich los und setzte sich an die gegenüberliegende Seite der Ladefläche.

Keyes starrte ihn einen Moment mit festem Blick an, um sicherzugehen, dass er sich tatsächlich zurückhielt, hockte sich dann hin und sah zu Morosow. Er sah hundeelend aus und eine Mischung aus Blut und Speichel quoll an seinem Knebel vorbei und tropfte an seinem Kinn hinab. Sie seufzte leise. So eine Scheiße. Am liebsten hätte sie diesen Mistkerl an seiner eigenen Kotze ersticken lassen, aber leider brauchten sie ihn, um einige Antworten zu erhalten, die sie ihm ohne ein CIA-Verhörteam nicht entlocken konnte.

Schließlich fasste sie an seinen Mund, löste den Knebel und empfand dabei eine große Dankbarkeit dafür, dass sie nach wie vor die Gummihandschuhe trug. Morosow würgte und röchelte, schien aber in Ordnung zu sein. Mit einer Mischung aus Wut, Abscheu und Angst starrte er sie an, sagte aber kein Wort.

»Hargraves hat es treffend formuliert«, sagte Keyes. »Siehst du, was du angerichtet hast, du gottverdammter Drecksack?«

Er schwieg.

»Das ist okay.« Sie nickte. »Ich verstehe, wenn du nicht reden willst. Unsere Ärzte werden sich um Deer kümmern und alles Menschenmögliche tun, um ihr Leben zu retten. Selbst wenn du die Willenskraft besitzt, beim Verhör zu schweigen – und das bezweifle ich – haben wir immer noch eine ganze Festplatte voller Daten.«

Sie machte eine kurze Pause.

»Weißt du, was eine Black Site ist?«, fragte sie schließlich. »Das ist ein Ort, den es nicht gibt. Ein Gefängnis, das nirgendwo verzeichnet ist. Du wirst in einer solchen Black Site verschwinden, Morosow. Ich werde persönlich dafür sorgen. Niemand wird jemals wieder nach dir fragen. Und meine Kollegen von der CIA werden dich dort nach allen Regeln der Kunst bearbeiten. Mit jedem Werkzeug, das du dir vorstellen kannst, und auch mit Dingen, von denen du nie gedacht hättest, dass man damit einen Menschen verletzen kann. Sie werden dich mit psychoaktiven Drogen vollpumpen und deinen Verstand Stück für Stück auseinandernehmen. Und dann, wenn nichts mehr von dir übrig ist außer einem sabbernden Häufchen Elend, wird man dich in das fensterlose Loch werfen, das ich bereits erwähnt habe. Für Menschen wie dich ist der tiefste Zirkel der Hölle reserviert.«

»Ich weiß nicht, was mit ihr passiert«, murmelte Morosow plötzlich und ohne ihren Blick zu erwidern. Er starrte einfach nur zu Boden. »Deer ist die erste Frau, die wir getestet haben. Eine vergleichbare Reaktion ist noch nie zuvor aufgetreten. Die Schlussfolgerung, die Mr. Hargraves getroffen hat, ist korrekt. Die Artefakte erreichen die Erde als Gas. Bei Bodenkontakt beginnt ein Materialisierungsvorgang, den wir nicht abschließend verstanden haben. Ein Aggregatswechsel liegt allerdings nicht vor. Die Artefakte sind kein Festkörper im eigentlichen Sinn. Stattdessen verdichtet sich das Gas extrem. Es ist unserem Wissen nach unmöglich, diese Verfestigung rückgängig zu machen. Innerhalb der Artefakte kommt es zu hochkomplexen elektrischen und chemischen Abläufen, die wir bislang jedoch nur indirekt nachweisen konnten.«

»Und das wurde auf Basis von Menschenversuchen herausgefunden?«

»Fast ausschließlich, ja. Kommt ein Artefakt in Berührung mit einem Menschen, findet ein kurzer, aber hochintensiver Austausch statt. Das Artefakt schickt eine Art eklektisches Signal durch die Nervenbahnen – vor allem ins Rückenmark und ins Gehirn. Das ist dieselbe Aktivität, die sich bei erstmaliger Exposition feststellen lässt, und auch der Grund für den sofortigen Tod kleinerer Tiere bei Annäherung. Eine vollständige Überlastung des Nervensystems. Der Tod tritt praktisch unmittelbar ein. Wir konnten jedoch feststellen, dass die Artefakte weniger tödlich werden.«

»Weniger tödlich?«

Er nickte. »Zwischen Kontakt und Todeseintritt standen anfangs nur Millisekunden. Unsere letzten Tests mit männlichen Probanden haben gezeigt, dass sich dieser Zeitraum auf fast zwei Sekunden ausgedehnt hat. Eine immense Steigerung. Wir gehen davon aus, dass die Artefakte das menschliche Genmaterial und den individuellen Organismus scannen. Ein Vorgang, den Miss Deers Reaktion zu bestätigen scheint.«

»Wie meinen Sie das?«

Morosow schnaubte. »Was denken Sie denn, wenn ausgerechnet eine Frau am Leben bleibt?«