Kapitel 14
E s war Nacht geworden und der Laster hatte endgültig keinen Sprit mehr. Soweit es Nick mitbekommen hatte, war es dem deutschen Soldaten gelungen, sie in die Nähe des Flusses Pripyat bei der weißrussisch-ukrainischen Grenze zu bringen, aber wo genau sie sich befanden oder wie es jetzt weitergehen sollte, wusste er nicht. Ein Umstand, der ihm mehr oder weniger egal war. Alles war besser, als erneut in die Hände irgendwelcher gestörten Wissenschaftler zu fallen und abermals in einem gottverdammten Käfig zu enden.
Er sah zu Morosow. Zu dem Mann, der Deer das alles angetan hatte. Wäre Agent Keyes nicht gewesen, um ihn zurückzuhalten, hätte er ihn vermutlich tatsächlich umgebracht oder ihn zumindest so lange bearbeitet, bis er nicht mehr in der Lage gewesen wäre, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Wahrscheinlich war es besser so, auch wenn ihn das kaum noch interessierte. In den letzten Wochen waren seine Hemmungen genau wie seine Moral in den tiefsten Abgründen versunken, die sich ein Mensch vorstellen konnte. Verdammt, einen offensichtlich geisteskranken und vollkommen skrupellosen Wissenschaftler umzubringen, wäre wahrscheinlich sogar eine seiner besseren Taten gewesen.
Mit einem leisen Seufzen fasste er an Deers Arm und wuchtete sie einmal mehr auf seine Schultern. Da sie nach wie vor ohnmächtig war und sich auch durch nichts wecken ließ, wechselten sich er und dieser Walther ab, sie zu tragen. Ein mühseliges Unterfangen, nicht etwa wegen ihres Gewichts – sie war überraschend leicht – sondern vor allem wegen des unwegsamen Geländes, durch das sie sich bewegten.
Keyes hatte beschlossen, Deer in eine Rettungsdecke zu wickeln, damit sie niemand direkt berühren musste. Eine Entscheidung, die er insbesondere nach Morosows Aussagen mehr als nur gut nachvollziehen konnte, auch wenn es ihm mit jeder Faser seines Leibes widerstrebte, sie als Gefahr anzusehen. Leider war das nichts, was in seiner Hand lag. Was geschehen war, war geschehen, und allein die Zukunft würde zeigen, was aus diesem kranken Experiment erwachsen würde.
Zwar verstand er das, was der Wissenschaftler gesagt hatte, bestenfalls ansatzweise, aber was er gehört hatte, genügte trotzdem, um die Erinnerung an jede Menge mieser Sci-Fi-Streifen wachzurütteln. An Aliens, die Menschen – oder explizit Frauen – nutzten, um sich fortzupflanzen. Was, wenn diese Wesen in ihnen nur Biomasse sahen? Wie Vögel, die Nistmaterial suchten, um ihre Jungen großzuziehen. Nur bestand das Nistmaterial der Aliens nicht aus Ästen und Zweigen, sondern aus menschlichen Körpern.
»Also.« Plötzlich marschierte Keyes zurück zur Gruppe, nachdem sie sich die letzten Minuten ein Stück von ihnen entfernt gehalten und versucht hatte, über ihr Satellitentelefon jemanden zu erreichen. »Ich habe gerade mit meinen Vorgesetzten bei der CIA gesprochen. Sie schicken einen Hubschrauber – allerdings nicht hierher. Die Luftüberwachung an der Grenze macht es zu riskant. Wir müssen nach Pripyat. Oder genauer: Auf ein Feld östlich einer gewissen Jupiter-Fabrik. ETA in acht Stunden.«
»Das schaffen wir«, antwortete Walther sofort. »Von hier aus sind es etwa zehn Kilometer nach Pripyat.«
»Wir laufen?!«, fragte Nick.
»Du kannst auch in den Fluss springen und dich treiben lassen, wenn du willst«, knurrte der Deutsche. »Mach dir keine Gedanken wegen Deer. Wir wechseln uns alle zwei Kilometer ab. Schaffst du das?«
»Das … Vergiss es.«
»Es ist keine ideale Lösung«, meinte Keyes kopfschüttelnd. »Aber etwas Besseres kriegen wir nicht. Wir können froh sein, dass sie überhaupt jemanden schicken. Die Lage an der Front ist verheerend.«
»So schlimm?« Walther klang überrascht. »Wie das so plötzlich?«
»Ich habe keine Details, aber man rechnet offensichtlich mit dem Fall Kiews und der Kapitulation der Ukraine innerhalb der nächsten 48 Stunden. Die NATO verlegt sich darauf, die Front in Polen zu stabilisieren und die Südostflanke so gut wie möglich zu verstärken. Ich …«
Sie hielt inne, aber sie musste auch nichts mehr sagen. Der Klang ihrer Stimme allein genügte, um Nick unmissverständlich klarzumachen, dass ihr die Lage extreme Sorgen bereitete. Wie hätte es denn auch anders sein sollen? Die NATO stand mit dem Rücken zur Wand, zumindest in Europa. Russland war offensichtlich in der Lage, auf breiter Front vorzurücken und immense Truppenmassen ins Feld zu führen. Ein Vorteil, den die NATO zumindest kurzfristig kaum ausgleichen konnte.
Verschlimmert wurde das durch den Umstand, dass Morosow zwar etwas zur Wirkungsweise und dem vermutlichen Zweck der Artefakte gesagt hatte, sich über die militärische Nutzung jedoch weiterhin ausschwieg und sich in dieser Hinsicht auch von Keyes’ Drohungen nicht beeindrucken ließ. Vermutlich hoffte er darauf, dass es ihnen nicht gelang, von hier wegzukommen. Oder dass doch ein Einsatzkommando kam, um ihn zu retten.
»Ohne Atomwaffen gibt es keinen strategischen Vorteil«, brummte Walther irgendwann, während sie sich weiterhin einen Weg durch die Sperrzone um Tschernobyl suchten. »Alles wird auf dem Schlachtfeld entschieden. Modernes Radar und Luftabwehr machen Langstreckeneinsätze aus der Luft zu einem Himmelfahrtskommando. Artillerie, Drohnen und Panzerabwehr lassen jeden Vorstoß an Land direkt versumpfen. Kein Infanterist oder Panzerkommandant, dem sein Leben lieb ist, begibt sich in freies Gelände. Es wird einen Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg geben. Giftgas wird ja bereits eingesetzt. Abnutzung. Eine Blutmühle, bis einem von beiden die Reserven ausgehen.«
»Was, wenn die Aliens genau das wollen?«, fragte Nick leise.
»Wie meinst du das?«
Er holte tief Luft und rückte Deer auf seinen Schultern ein paar Zentimeter zur Seite, um ihr Gewicht zu verlagern. »Atomwaffen funktionieren nicht mehr. Damit haben die Großmächte der Erde Grund genug, übereinander herzufallen. Sie müssen abseits der Schlachtfelder nicht besonders viel befürchten. Alles wird aufgeboten, alles verheizt. Auf den ersten Blick denkt man vielleicht, das sei eine tolle Chance, aber nach außen hin entblößt sich die gesamte Menschheit. Was also, wenn die Aliens genau darauf abzielen?«
»Sinn würde es machen«, brummte Keyes, ehe Walther etwas erwidern konnte. »Ohne Atomwaffen bleiben uns nur noch konventionelle Raketen. Aber ganz gleich, wie viel Sprengstoff man da reinpackt, sie werden niemals den strategischen Wert einer Atomrakete erreichen; schon gar nicht, wenn es um reine Sprengkraft geht. Und wenn dieser Krieg noch ein paar Wochen dauert, sind auch nicht mehr viele Soldaten übrig, um die Erde gegen irgendetwas zu verteidigen.«
»Es sei denn, unser Freund Morosow weiß mehr, als er sagt«, knurrte Walther und warf dem Russen einen kurzen Blick zu. »Hörst du mich, du Drecksack? Sei froh, dass wir einen engen Zeitplan haben, sonst würde ich dich ein paar Stunden zur Seite nehmen und dir intensiv erklären, warum es besser wäre, mit uns zu reden!«
Morosow lachte bitter. »Was denkt ihr eigentlich, was wir tun? Was ich euch gesagt habe, ist alles, was wir wissen!«
»Na klar, Morosow.«
»Lass ihn, Walther«, sagte Keyes tonlos. »Meine Leute kriegen schon aus ihm raus, was wir wissen wollen. Gerade können wir reichlich wenig an irgendetwas ändern. Aber du wirst sehen, wie schnell er redet, wenn man eine Autobatterie an ihn klemmt.«
»Ich hoffe, von einem Elektroauto?«
»Ich bin mir sicher, die Agency foltert mittlerweile umweltfreundlich.«
Nick schnaubte. Zu sehen, wie Morosow die Gesichtszüge entglitten, erfüllte ihn mit einer kaum vorstellbaren Genugtuung. Und der Gedanke daran, wie ihn irgendwelche Agenten in ein paar Tagen in einer Black Site bearbeiteten, machte das, was geschehen war, fast wieder wett. Fast.
Die nächsten Stunden über suchten sie sich größtenteils schweigend einen Weg durch die Sperrzone, meistens in der Nähe des Flusses, bald aber auch zunehmend im Inland. Walther schien zu wissen, wohin es ging, und sie folgten ihm. Nick und er wechselten sich so regelmäßig wie möglich damit ab, Deer zu tragen, während Keyes vor allem damit beschäftigt war, Morosow vor sich herzutreiben. Da es eine wolkenlose Nacht war, konnten sie ihre Umgebung trotz der Dunkelheit gut einsehen – und das war etwas, für das Nick mehr als nur dankbar war.
Immer wieder donnerten die Echos ferner Explosionen zu ihnen und ab und zu meinte er sogar, Schüsse zu hören. Zwar dämpfte der umliegende Wald viel von ihrer Wucht, aber manche von ihnen klangen trotzdem deutlich näher, als ihm lieb war. Gemeinsam mit den Hubschraubern und Flugzeugen, die in regelmäßigen Abständen über ihre Köpfe hinwegflogen, erschufen sie eine Kulisse, die bedrohlicher kaum hätte sein können.
Als irgendwann eine besonders heftige Explosion die Stille zerriss, schüttelte Nick unwillkürlich den Kopf. Er wusste um die Spannungen zwischen Russland und der NATO seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine im letzten Jahr. Aber das? Ein Weltkrieg, nur weil man die Möglichkeit dazu hatte? Millionenfaches Leid, weil man keinen atomaren Weltuntergang befürchten musste? Wie konnten die Führer des Planeten nur so blind und dumm sein? Vor allem jetzt, angesichts eines fremden Schiffs im Orbit, das offensichtlich nicht so untätig war, wie man lange Zeit angenommen hatte?
Irgendwann zeichneten sich schließlich die Silhouetten von Gebäuden im Mondlicht ab. Pripyat. Er hatte die Stadt ein paar Mal im Fernsehen gesehen und erschauderte unwillkürlich, als sie sich ihr näherten. Walther oder Keyes schienen nichts dergleichen zu empfinden. Zumindest äußerlich unbeeindruckt marschierten sie auf die Stadt zu, bis Walther ihnen irgendwann mit einem Handzeichen zu verstehen gab, sich rechts zu halten und einer ziemlich zugewucherten Straße zu folgen. Wenig später erreichten sie ein Feld.
»Das müsste es sein«, sagte Walther nun und legte Deer vorsichtig ab. »Noch gut drei Stunden, bis uns der Hubschrauber einsammelt.«
»Wir sind besser durchgekommen, als ich dachte.« Keyes ließ sich zu Boden sinken. »Hätte ich das gewusst, hätte ich eine frühere Abholung angefordert.«
»Es ist in Ordnung. Jetzt haben wir kurz nach Mitternacht. In drei Stunden ist es auch noch dunkel genug. Ruhen wir uns ein wenig aus.«
»Wir haben hier keine Deckung«, erwiderte Keyes. »Das gefällt mir nicht. Was, wenn russische Soldaten in der Gegend sind?«
»Letztes Jahr wurden ganze Kompanien verseucht, weil die Soldaten ungeschützt durch die Sperrzone gewalzt sind. So dumm sind die nicht noch mal.«
»Anders als wir«, murmelte Nick.
»So schlimm ist es auch wieder nicht. Die meisten Gebiete sind verhältnismäßig geringfügig verstrahlt. Du wirst es überstehen.«
Nick erwiderte nichts und setzte sich stattdessen zu Deer, die nach wie vor regungslos und von der Rettungsdecke umhüllt dalag. Hätte sich ihre Brust nicht unter ihren Atemzügen bewegt, hätte nichts darauf hingedeutet, dass sie noch lebte. Trotzdem war es unübersehbar, wie schlecht es ihr mittlerweile ging. Ihre Haut war zwar schon seit dem Kontakt mit dem Artefakt bleich, aber aktuell glich sie mehr Papier als sonst etwas. Sie schimmerte geradezu im Mondlicht. Auch ihr Gesicht hatte fast nichts mehr mit dem eines Menschen gemein, sondern sah aus wie ein mit Haut bespannter Totenschädel.
Plötzlich ein leises Geräusch. Ein Knacken, kaum wahrnehmbar. Sofort sah sich Nick um, doch wider Erwarten kam keiner der anderen auf ihn zu. Trotzdem hörte er das Knacken erneut – und diesmal begriff er, dass es von Deer kam. Von irgendwo unter der Rettungsdecke. Sofort begann er, sie von ihr runterzuziehen, nur um gerade noch zu sehen, wie ihre Brust erzitterte, als eine ihrer Rippen von außen sichtbar ein paar Zentimeter verrückte.
»Was zum …«, entfuhrt es ihm, aber zu mehr kam er nicht. Auf einmal begann Deer, am ganzen Leib zu zittern. Es war anders als im Laster. Heftiger, schneller – und gewalttätiger. Ihre Hände ballten sich dermaßen fest zu Fäusten, dass er ihre Knochen knacken hörte, und selbst ihre Gliedmaßen wurden hin und her gerissen, wie von unfassbaren Krämpfen geschüttelt. Abermals quoll Blut aus ihren Poren. Mehr als zuvor. So viel mehr.
»Hilfe!«, rief Nick und sah sich verzweifelt nach irgendetwas um, womit er ihr helfen konnte, aber er wusste beim besten Willen nicht, was er tun sollte. Keyes und Walther rannten zwar sofort zu ihm und knieten sich zu Deer und sogar Morosow trat zu ihnen, doch keiner von ihnen sah aus, als wüsste er, was zu tun war.
Deers Zucken wurde immer erratischer. Aus ihren Nasenlöchern quoll Blut und auch an ihren Mundwinkeln lief es hinab; verdammt, selbst aus ihren Augen rannen dünne Rinnsale. Immer und immer wieder ertönten Knackgeräusche. Knochen, die brachen. Knochen, die von ihren Muskeln derart kraftvoll umhergerissen wurden, dass sie der Belastung nicht mehr standhielten. Vor seinen Augen verwandelte sich Deer in eine blutige Masse aus brechenden Knochen und aufplatzendem Fleisch.
Plötzlich ein Schuss. Für einen winzigen Augenblick herrschte dröhnende Stille. Dann noch ein Schuss. Walther, der ihr aus nächster Nähe in den Kopf schoss. Nacktes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben und obwohl sich Deer längst nicht mehr rührte, zielte er weiter mit der Pistole auf sie. Seine Finger zitterten.
»Die radioaktive Strahlung«, murmelte Morosow plötzlich. »Sie muss der Katalysator sein! Sie …«
Zu mehr kam er nicht. Noch bevor Nick wusste, was er tat, wirbelte er herum und stürzte sich auf den Wissenschaftler. Er riss ihn mit sich zu Boden, holte aus und hämmerte ihm seine Faust ins Gesicht. Wieder und immer wieder. Er hörte, wie seine Nase brach, spürte sein warmes Blut auf seiner Haut, hörte seine erstickten Schreie, doch er hörte nicht auf. Immer kräftiger schlug er zu, immer wieder holte er aus – bis er plötzlich einen Arm um seinen Hals spürte und eine Pistole in seinem Nacken. Walther zerrte ihn zurück und beförderte ihn mit einem Tritt in die Kniekehle zu Boden.
»Es reicht«, zischte der Deutsche. »Das ist die erste und letzte Warnung. Fasst du ihn noch mal an, erschieße ich dich. Hast du mich verstanden?«
Nick schwieg.
»Hast du mich verstanden?!«
»Ja«, knurrte Nick. »Ja, habe ich.«
Walther nahm die Pistole von seinem Nacken und zog ihn auf die Beine.
»Ich kann verstehen, warum du wütend bist«, sagte er. »Aber das macht nichts ungeschehen. Deer ist tot.«
*****
Nick starrte aus der geöffneten Seitentür des Hubschraubers auf die rasch an ihnen vorbeiziehenden Baumspitzen. Erst vor einer Viertelstunde war die Maschine gestartet. Da sie sich weiterhin in Reichweite des russischen Radars und der Luftabwehrwaffen befanden, flogen sie entsprechend niedrig. Nur wenige Meter unter ihnen verliefen die letzten Ausläufer des Pripyat, ehe der Fluss endgültig in den Dnjepr überging.
Seit Deer gestorben war, fühlte er sich leer. Vollkommen leer. Nicht mehr wütend und nicht traurig. Eigentlich empfand er gar nichts. Deer mochte für so vieles verantwortlich sein, was ihm während der letzten Wochen zugestoßen war, und ihr war es auch zu verdanken gewesen, dass sie überhaupt erst dem russischen Geheimdienst in die Hände gefallen waren, aber irgendwann in dieser Zeit war sie eine Art Freundin für ihn geworden. Auch wenn ihm das erst jetzt wirklich bewusst wurde.
Und jetzt war sie tot.
Er schaffte es kaum, den Kopf zu drehen und zu ihrem von der Rettungsdecke bedeckten Leichnam zu blicken, aber mit all seiner Willenskraft zwang er sich dazu. Er war es ihr schuldig. Sie hatte es nicht verdient, so zu sterben. Und auch nicht alles, was jetzt noch folgen würde. Man würde sie in die Staaten schaffen, würde sie aufschneiden und jeden Fetzen ihres Körpers untersuchen, um herauszufinden, was mit ihr geschehen war. Danach würden ihre Überreste verschwinden und niemand jemals erfahren, was ihr zugestoßen war.
Und das alles nur wegen Morosow. Wegen der Machtgier anderer Menschen. Weil es manche selbst im 21. Jahrhundert noch rechtfertigten, ihren Mitmenschen solche Abscheulichkeiten anzutun. Der Preis der Wissenschaft, der Preis des Fortschritts. Zumindest für diejenigen, denen es das wert war.
»Hargraves?« Plötzlich Keyes’ Stimme neben ihm. »Nick? Kann ich …«
»Was willst du?«, fragte er bloß.
»Reden. Aber nur, wenn es für dich in Ordnung ist.«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu und nickte.
»Du mochtest sie, oder?«, fragte Keyes und sah auf den provisorischen Leichensack.
»Irgendwie schon, ja«, antwortete er und atmete tief durch. »Ich kann es selbst kaum glauben.«
»Wieso das denn?«
»Weil das alles überhaupt erst ihretwegen passiert ist.« Er lachte bitter. »Sie hat mich zu allem gezwungen. Zumindest am Anfang. Irgendwann auf dem Weg wollte ich es dann ebenfalls. Und jetzt … das. Sie hat das nicht verdient.«
»Du kannst helfen, Morosow zu bestrafen.«
»Spielt das eine Rolle? Das macht sie nicht wieder lebendig. Oder all die anderen, die er umgebracht hat.«
»Manchmal fühlt man sich aber trotzdem besser, wenn man zumindest versucht, jemandem Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen.«
»Nur manchmal?«
»Nur manchmal.« Sie nickte. »Nicht immer. Alles andere wäre eine Lüge. Manchmal ist das, was geschehen ist, zu schlimm. Und manchmal kann man selbst nicht loslassen.«
»Klingt, als hättest du Erfahrung damit.«
»Sagen wir es mal so: Bei der CIA lernt man schnell, Dinge zu akzeptieren, die man selbst nicht unbedingt gut findet, die gleichzeitig aber für eine größere Sache wichtig sind. Manchmal gehört dazu auch, Schweine laufen zu lassen, die man am liebsten im Gefängnis oder tot sehen würde, einfach nur, weil man mit ihrer Hilfe eine noch viel fettere Sau fangen kann. Morosow ist eine ziemlich fette Sau, aber wenn deine Aussage hilft, den Krieg auch nur ein paar Tage früher zu beenden, dann ist es das wert.«
Nick seufzte bitter. »Du willst mir aber nicht erzählen, dass die USA nicht ebenfalls solche Experimente durchführen, oder?«
»Ich bin mir sicher, dass wir nicht an Menschen experimentieren.«
»Ach?«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Was soll das jetzt heißen?«
»Was ist mit MK Ultra?«
»Das war früher.«
»Agent Keyes«, sagte Nick langsam. »Ich werde jede nötige Aussage treffen, um Morosow vor Gericht zu bringen und diese Experimente öffentlich zu machen. Aber ich tue das nicht für die gottverdammten USA oder sonst jemanden, sondern für Deer. Ich bin die Lügen satt. Wir stehen den Russen in nichts nach, was Menschenexperimente angeht. Und ich garantiere dir, dass genau dieselbe Scheiße auch in den Staaten passieren wird, sobald sie Deers Leiche sehen. Der einzige Unterschied zu Russland ist, dass die CIA besser darin ist, so etwas geheim zu halten.«
»Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?«
»Wir verbrennen die Leiche.«
»Was?!«
»Wir verbrennen sie«, wiederholte Nick tonlos. »Ich meine – siehst du nicht, was hier los ist? Siehst du nicht, was geschieht? Wir alle sind so fokussiert auf diesen verfluchten Krieg, dass wir nicht sehen, was wirklich los ist. Was auch immer diese Aliens vorhaben, es beginnt jetzt. Ich bin bei Gott kein Wissenschaftler, aber ich kapiere, was Morosow sagt: Diese Artefakte passen sich uns an. Sie lernen, mit uns umzugehen, und bringen uns nicht länger auf der Stelle um. Ich bin mir sicher, Deer war nur der Anfang. In ein paar Wochen wird die Hölle über jeden von uns hereinbrechen!«
»Dann ist es aber genau das Falsche, die Leiche zu verbrennen«, erwiderte Keyes. »Wir sollten versuchen, so viel wie möglich …«
»Genau das ist es!«, unterbrach Nick sie. »Genau diese Einstellung macht das alles doch überhaupt erst möglich! Wir müssen diese gottverdammten Aliens nicht verstehen! Sie wollen uns eindeutig etwas Böses, und selbst wenn nicht, bringen sie Menschen um! Sie sorgen dafür, dass ein Weltkrieg ausbricht, und machen unsere Atomwaffen unbrauchbar! Weißt du, was wir tun sollten? Ein paar Raketen direkt auf dieses beschissene Schiff, dann würde dieser Albtraum sofort enden! Wir …«
Er hielt inne, denn just in diesem Augenblick leuchteten plötzlich eine Reihe greller Lichter unmittelbar neben dem Hubschrauber auf, die sich, von dichtem Qualm umhüllt, schnell von ihnen entfernten. Täuschkörper! Keine Sekunde später neigte sich die Maschine auch schon gnadenlos zur Seite und flog eine dermaßen enge Kurve, dass er sich mit aller Kraft an seinen Gurten festklammern musste, um nicht den Halt zu verlieren. Ein unwillkürlicher Schrei brach aus seiner Kehle, bevor es ihm gelang, sich zusammenzureißen.
Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte eine beinahe dröhnende Stille im Hubschrauber; eine Stille, die einzig vom schrillen Piepsen und Heulen der Annäherungsalarme durchbrochen wurde – bis schließlich das Kreischen einer anfliegenden Rakete alle anderen Geräusche übertönte. Nick starrte nach draußen, sah, wie sie auf den Hubschrauber zuschoss und erst in letzter Sekunde einen der Täuschkörper anvisierte. Die Explosion rüttelte die gesamte Maschine durch, aber sie hatte sie verfehlt. Allein darauf kam es an.
»Festhalten!«, brüllte der Pilot von vorne. »Da kommt noch mehr!«
»Bring uns hoch!«, schrie Walther. »Sofort!«
»Du spinnst wohl!«
»Das war eine Grinch, verdammt! Da ist Infanterie am Boden! Bring uns hoch, sonst erwischen sie uns!«
Der Pilot tat wie geheißen und brachte den Hubschrauber höher in die Luft. Beinahe zeitgleich sah Nick, wie am Boden unter ihnen ein kurzer Lichtblitz durch die Dunkelheit zuckte. Zu klein für einen Flugabwehrpanzer. Walther hatte recht. Da war Infanterie unter ihnen.
»Noch eine!«
Wieder zündete der Pilot Täuschkörper, wieder gelang es ihm, die Rakete abzuschütteln.
»Leer! Die nächste erwischt uns!«
»Runter!«, bellte Keyes augenblicklich und riss ihr Gewehr hoch. Noch bevor Nick auch nur reagieren konnte, legte sie an und schoss an ihm vorbei durch die geöffnete Seitentür in die Richtung, aus der vor wenigen Sekunden die Rakete abgefeuert worden war. Heiße Patronenhülsen flogen ihm entgegen. Er versuchte, sich so gut wie möglich vor ihnen zu schützen, ohne Keyes das Schussfeld zu verdecken, aber es gelang ihm kaum. Heißes Metall prasselte unerbittlich auf ihn ein. Auch Walther eröffnete nun das Feuer und gemeinsam beharkten sie den Waldrand mit einem Kugelhagel.
Sie schienen Erfolg zu haben: Der Boden zu beiden Seiten des Dnjepr blieb dunkel. Nick starrte angestrengt nach draußen und versuchte, in der Schwärze der Nacht etwas zu erkennen, aber da war tatsächlich nichts mehr. Den beiden war es also gelungen, die Soldaten durch ihr Feuer in Deckung zu zwingen, oder aber diese führten keine weiteren Raketen mit sich. So oder so hatten sie es geschafft und …
Plötzlich dröhnte abermals das schrille Heulen des Annäherungsalarms durch den Hubschrauber. Der Pilot riss sofort das Steuer herum und versuchte noch, der dritten Rakete auszuweichen, aber er hatte keine Chance. Ein schrilles Kreischen, eine peitschende Explosion – dann begannen sie sich zu drehen. Schneller und immer schneller wirbelten sie um die eigene Achse. Nick wurde mit unglaublicher Wucht in seinen Sitz gedrückt; es gelang ihm kaum, zu atmen. Verzweifelt rang er nach Luft. Um ihn herum tobte ein fürchterliches Inferno aus jaulenden Systemen und heulendem Wind, immer lauter, immer schriller, dicht gefolgt von einem dumpfen, donnernden Knall – und dann Stille.
Nick blinzelte. Alles drehte sich. Er kniff die Augen zusammen, holte tief Luft. Jede einzelne Faser seines Körpers tat weh. Er wusste, dass der Hubschrauber getroffen worden war, wusste, dass sie abgestürzt waren. Irgendwie musste er überlebt haben, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie. Nur langsam gelang es ihm, die Orientierung zurückzuerlangen. Vorsichtig tastete er an sich hinunter. Eine Verletzung konnte er nicht feststellen.
»Gott sei Dank!« Plötzlich Keyes’ Stimme neben ihm. »Du bist am Leben! Ich kriege meinen Gurt nicht auf; du musst mir helfen!«
»Ist gut.« Nick sah sich um und suchte nach ihrem Rucksack, konnte ihn aber nirgendwo erkennen. Er musste aus dem Hubschrauber geschleudert worden sein. Zwar meinte er, irgendwo hinter sich etwas Helles wahrzunehmen, aber sein Verstand war zu benommen, um es zuzuordnen.
»Stiefel«, stöhnte Keyes. »Mein linker Stiefel. Da steckt ein Messer!«
Nick tastete und bekam tatsächlich ein Messer zu fassen, mit dem er vorsichtig Keyes’ Gurte zerschnitt, bevor er versuchte, sich selbst aus dem Sitz zu befreien. Aber bevor er auch nur ansetzen konnte, seine eigenen Gurte zu lösen, spürte er bereits, wie ihm Keyes das Messer aus der Hand nahm und sie zerschnitt.
»Raus hier, los!«
Mehr kriechend und taumelnd als aufrecht gehend, folgte er ihr nach draußen – nur um plötzlich vornüber zu stürzen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sich der Hubschrauber beim Absturz auf die Seite gelegt hatte. Das erklärte, warum es ihm so unglaublich schwergefallen war, sich zu orientieren.
Einen Moment lang kniff er die Augen zusammen und atmete tief durch, bevor er sich so gut wie möglich zusammenriss und zur Konzentration zwang. Sie waren abgeschossen worden, waren abgestürzt. Das bedeutete, dass irgendwo in der Nähe Soldaten sein mussten. Russische Soldaten, die sich vermutlich just in diesen Sekunden auf den Weg zur Absturzstelle machten. Sie mussten von hier verschwinden, und zwar schnell!
»Walther!«, hörte er plötzlich Keyes rufen. »Walther, wo bist du?!«
Keine Antwort.
»Walther?!«
Nick taumelte zum Cockpit, nur um es lichterloh brennend vorzufinden. Der Pilot war längst tot. Der Steuerknüppel hatte sich durch seine Brust gebohrt. Er musste beim Absturz abgerissen worden sein.
Plötzlich fühlte er sich, als würde er aus einer tiefen Trance erwachen; seine Benommenheit löste sich auf und er begriff zum ersten Mal in aller Konsequenz, was gerade geschehen war. Beinahe panisch schnappte er nach Luft, nur um augenblicklich herumzuwirbeln und zurück nach hinten zu rennen. Deer! Sie mussten Deers Leiche bergen und wegschaffen, bevor das Feuer alles vernichtete!
So gut er nur konnte, kletterte er auf das Wrack und kämpfte sich zur Tür vor. Tatsächlich erblickte er Deers Leiche. Sie lag, von Gurten gesichert, auf einem Sitz. Ihr gegenüber hing Morosow regungslos in seinen Gurten. Sein Kopf war unnatürlich zur Seite gedreht und saß seltsam schief auf seinem Hals. Ein dünnes, rotes Rinnsal lief aus seiner Nase. Genickbruch.
»Vergiss es«, ertönte Keyes’ Stimme hinter ihm. »Morosow ist tot.«
»Was ist mit Deer?!«
»Wir kriegen sie nicht mehr rechtzeitig raus. Und selbst wenn, können wir sie nicht mitschleppen. Komm, wir müssen Walther finden. Ich habe ihn in der unmittelbaren Umgebung nicht gefunden. Vielleicht waren wir ohnmächtig und er ist ohne uns aufgebrochen, weil er uns für tot gehalten hat.«
»Denkst du das wirklich?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen ihn finden. So oder so. Jetzt, da Morosow tot ist, ist seine Festplatte der einzige Beweis für das, was in Babrujsk passiert ist. Komm jetzt, weg da.«
Nick wollte gerade schon etwas erwidern, erkannte dann aber die Handgranate, die sie in der Hand hielt. Sie wollte das Wrack sprengen und so alle Spuren von Deer und Morosow beseitigen. Und obwohl sich jede Faser seines Leibes dagegen sträubte, kletterte er vom Hubschrauber und brachte sich hinter einem Baum in der Nähe in Deckung. Nur wenige Sekunden später zerfetzte die Explosion die Luft.
»Okay«, sagte Keyes, trat zu ihm und sah sich um. »Wir sind nicht besonders weit gekommen. Das waren vielleicht 20 Minuten Flug. Der Pilot ist nach links ausgewichen, als die Raketen angeflogen sind. Damit befinden wir uns vermutlich östlich des Dnjepr. Das ist zumindest schon mal die Ukraine, allerdings habe ich keine Ahnung, wo die Front verläuft. Wir …«
»Keyes?«, unterbrach Nick sie. Nichts hätte ihn gerade weniger interessieren können als ihre Lageanalyse. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Was?«
»Was Morosow gesagt hat. Dass Deer überlebt hat, weil sie eine Frau ist. Das, was mit ihr geschehen ist. Denkst du, dass … dass …«
»Ich weiß es nicht, Hargraves«, erwiderte sie tonlos. »Ich weiß genauso viel wie du und habe das Gleiche gesehen. Deer war einer extremen Reaktion ausgesetzt und ich will mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, hätte es Walther nicht beendet. Ich weiß es wirklich nicht. Ehrlich gesagt will ich nicht einmal darüber nachdenken. Umso wichtiger ist es, dass wir Walther und die Festplatte finden. Was auch immer Morosow herausgefunden hat, und was auch immer mit Deer geschehen ist, muss so schnell wie möglich an die Regierung der Vereinigten Staaten weitergeleitet werden. Nur so können wir effektive Gegenmaßnahmen finden, solange es möglich ist.«
»Falls es möglich ist«, murmelte Nick. »Falls.«
Kapitel 15
S o schnell es ihre Beine nur zuließen, kämpfte sich Keyes durch das offene und nur gelegentlich von vereinzelten Büschen und Bäumen durchsetzte Sumpfland, das den Dnjepr zu beiden Ufern umgab. Jeder Schritt barg das Risiko, im Morast zu versinken, über eine Wurzel zu stürzen oder in einen der unzähligen, teils winzigen Seitenarmen des Flusses zu stürzen, die sich wie Schlangen durch die Umgebung schlängelten. Dunkelheit, die fernen Echos von Kampfgeräuschen und die viel zu nah über ihren Köpfen dröhnenden Hubschraubermotoren machten diese Minuten zu einem Zerrspiel mit ihren Nerven.
Einmal mehr warf sie einen Blick über die Schulter; einmal mehr sah sie in Richtung der beiden Hubschrauber, die viel zu dicht an die Absturzstelle herangerückt waren und das Areal mit Suchscheinwerfern ausleuchteten. Man suchte nach ihnen. Vermutlich nicht nur aus der Luft, sondern auch am Boden. Es gab hier keinerlei Deckung; wenn man sie also fand, waren sie erledigt. Ihr einziger Vorteil war, dass es noch nicht soweit war. All ihre Hoffnung lag auf ihrer Geschwindigkeit.
Hargraves folgte ihr dichtauf, konnte seine Erschöpfung und die Nachwirkungen des Absturzes jedoch nicht verbergen. Immer wieder taumelte er zur Seite; immer wieder musste er beide Arme ausstrecken, um das Gleichgewicht zu halten. Er keuchte und würgte, hustete und schnappte nach Luft. Vielleicht hatte er sich schwerer verletzt, als es den Anschein gehabt hatte. Trotzdem mussten sie weiter. Wenn man sie fand, waren sie erledigt.
Es war offensichtlich, dass die Russen keine gewöhnliche Suchaktion durchführten – schon gar nicht in Kriegszeiten. Ihre Luftüberwachung musste erkannt haben, dass es sich um keine ukrainische Militärmaschine, sondern um eine amerikanische handelte. Und wenn die zuständigen Offiziere auch nur einen Hauch Verstand besaßen, hatten sie die richtigen Schlüsse gezogen. Selbst wenn sie nichts von Morosow und der Anlage in Babrujsk wussten, suchten sie nach amerikanischen Agenten. Nach ihr.
Immer wieder schlug Keyes gegen ihr Satellitentelefon und versuchte, ein Signal reinzubekommen, aber es gelang ihr nicht. Sie war sich sicher, dass in der Gegend kein Störsender aktiv war. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass das Telefon beim Absturz beschädigt worden sein musste. Vielleicht nur eine kurzfristige Störung. Hoffentlich.
Mittlerweile forderten Kälte, Müdigkeit und Erschöpfung gnadenlos ihren Tribut. Sie fror, zitterte am ganzen Leib und musste sich bald zu jedem Schritt zwingen. Trotzdem kämpfte sie sich weiter durch die Sumpflandschaft. Weiter. Sie mussten weiter. Um jeden Preis. Erschöpfung und Müdigkeit zählten nicht, wenn sie dadurch einem russischen Exekutionskommando entgingen.
Irgendwann – Keyes hatte nicht den leisesten Schimmer, wie lange sie bereits unterwegs waren – ging die Sumpflandschaft langsam erst in festeres Gelände und schließlich in einen dichten Wald über. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zum Waldrand, in den Schutz der Bäume und ließ sich zu Boden sinken. Hargraves folgte ihr wenige Minuten später und tat es ihr gleich.
»Ich glaube, wir sind hier vorerst in Sicherheit«, sagte Keyes leise, während sie mit tauben Fingern versuchte, ihre Stiefel aufzuschnüren und auszuziehen. Es gelang ihr kaum.
»So oder so kann ich mich kaum auf den Beinen halten«, brummte Hargraves, beugte sich zu ihr und half ihr. »Hier.«
»Danke.«
»Walther ist weg, oder?«
Sie holte tief Luft, lehnte sich an den Baum und schloss die Augen. Ihre Kleidung war klatschnass. »Scheint so.«
»Und jetzt?«
»Keine Ahnung. Nicht zu erfrieren, wäre ein guter Anfang.«
»Da.« Hargraves hob die Hand und deutete an ihr vorbei tiefer in den Wald hinein. »Da hinten steht eine kleine Hütte.«
Keyes sah sich um, konnte jedoch nichts erkennen.
»Bist du dir sicher?«
»Mhm. Komm.«
Mit diesen Worten stand er auf, legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie ebenfalls auf die Beine, bevor er sie tiefer in den Wald hineinschleppte. Und tatsächlich erreichten sie bereits wenige Augenblicke später eine kleine Hütte, die offensichtlich seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr betreten worden war. Die beiden winzigen Fenster waren eingeschlagen, die Tür hing lose in den Angeln und Büsche überwucherten sie fast vollständig. Trotzdem gelang es ihnen, sich einen Weg hinein zu suchen – und erleichtert stellte Keyes fest, dass ein kleiner Holzofen in der Ecke stand.
Ein paar Minuten später prasselte ein kleines Feuer. Ein kleines Feuer, das die winzige Hütte schnell mit wohliger Wärme erfüllte. Wie genau es Hargraves gelungen war, so schnell ein Feuer zu entfachen, war ihr ein Rätsel, aber ihr fehlte die Kraft, danach zu fragen. Stattdessen saß sie einfach nur da und starrte auf den schwachen Schein der Flammen, der unter der gusseisernen Ofentür hervorfiel.
»Ausziehen.«
Sie blinzelte. »Was?«
»Ausziehen«, wiederholte Hargraves, der selbst nur noch seine Unterwäsche trug. Den Rest seiner Kleidung hatte er so nah wie möglich an den Ofen gehängt. »Du musst raus aus deinen Sachen, sonst holst du dir den Tod.«
Keyes zögerte einen Moment, tat dann aber wie geheißen. Er hatte recht. Die nassen Kleider entzogen ihrem Körper das wenige, was von ihrer Kraft noch übrig war.
»Wir dürfen nicht zu lange hierbleiben«, fuhr Hargraves fort. »Sonst sehen sie den Rauch. Aber für den Moment sind wir sicher.«
»Ehrlich gesagt dachte ich, du bist viel erschöpfter als ich«, brummte Keyes, während sie ihre Kleider an einen Stuhl hängte. »Gerade machst du einen ganz ordentlichen Eindruck.«
»Ordentlich durchgeschüttelt vom Absturz, mehr nicht. Vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung. Du siehst allerdings nicht besonders gut aus.«
»Es geht mir auch nicht so toll«, gab sie zurück.
»Verletzt?«
»Ich denke nicht, nein. Aber erschöpft. Ich bin jetzt schon einige Zeit wach.«
»Das glaube ich dir. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«
»Vorgestern.«
»Dann ruh dich aus.«
»Das …«, setzte sie an, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Was?«, schnaubte er. »Angst, dass ich dir etwas antue, während du schläfst?«
»Eher, dass du abhaust.«
»Keyes.« Er beugte sich nach vorne und faltete die Hände vor dem Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, was du von mir denkst oder was dir über mich gesagt wurde, aber ich bin kein Monster und kein Feigling. Und wenn es dich beruhigt: Ich werde auch schlafen.«
Mit diesen Worten warf er etwas zusätzliches Holz ins Feuer, lehnte sich neben dem Ofen an die Wand und schloss die Augen. Keyes sah ihn ein paar Sekunden lang prüfend an, unsicher, was sie tun sollte, entschied sich dann aber, seinem Rat zu folgen und sich ebenfalls auszuruhen. Im Moment blieben ihr nicht gerade viele Alternativen, wenn sie nicht wach bleiben und die nächsten Stunden über vor sich hin starren wollte.
Trotz ihrer Erschöpfung fiel es ihr mehr als nur schwer, in den Schlaf zu finden, und sie war sich nicht sicher, ob es ihr überhaupt gelang oder ob sie die nächsten Stunden nicht vielmehr in einer Art Halbschlaf verbrachte, aus dem sie immer wieder hochschreckte, nur um sogleich wieder wegzudämmern. Als sie irgendwann schließlich bemerkte, wie sich Hargraves zu rühren begann, schien bereits schwaches Sonnenlicht durch die beiden kaputten Fenster. Wenigstens brannte das Feuer noch.
»Guten Morgen«, brummte Hargraves und zog sich an. »Geht’s besser?«
»Ich denke schon«, antwortete sie und tat es ihm gleich, obwohl sie nicht wusste, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach. Sie fühlte sich gerädert. Nicht mehr erschöpft, aber dafür gerädert. Vermutlich der Preis, den man zu zahlen hatte, wenn man halb sitzend und halb zusammengekauert versuchte, in einer alten Hütte inmitten eines Kriegsgebiets zu schlafen. Immerhin waren ihre Kleider wieder halbwegs trocken.
Einmal mehr griff sie nach ihrem Satellitentelefon und schaltete es ein. Noch immer kein Signal. Das durfte doch nicht wahr sein! Frustriert schlug sie dagegen und war schon versucht, es gegen die Wand zu schmettern, doch dann streckte Hargraves die Hand aus und bedeutete ihr mit einem Fingerzeig, es ihm zu geben.
»Das Ding ist am Arsch«, knurrte sie, als sie es ihm hinhielt. »Das kriegst du nicht mehr hin.«
»Erstmal abwarten.« Mit ein paar geschickten Handgriffen entfernte er die Antenne und öffnete das Gehäuse. »Der Helikopter hätte uns nach Kiew gebracht, oder?«
»Ja, wieso?«
»Weil es im Bereich des Möglichen liegt, dass Kiew bereits gefallen ist.«
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast doch selbst gesagt, dass die NATO mit dem Fall der Stadt innerhalb von 48 Stunden rechnet – und das ist auch schon wieder ein Stückchen her. Es geht mir nur darum, unsere Optionen abzuwägen.«
»Wir haben keine Optionen«, erwiderte Keyes lakonisch. »Wir müssen nach Kiew.«
»Wenn die Russen die Stadt eingenommen haben, wartet da sicher niemand in der amerikanischen Botschaft darauf, uns außer Landes zu schaffen. Vor allem, da die Russen jetzt wissen, dass die CIA hier aktiv ist. Sie werden nach uns suchen. Und das meine ich nicht böse, aber jeder Zentimeter an dir schreit geradezu heraus, dass du Agentin bist.«
»Ist das so?«
»Ja. Deine Körperhaltung, dein Blick. Du bist wie eine Mischung aus Rottweiler und Erdmännchen.«
»Wie schmeichelhaft.«
Nick seufzte und drückte ihr das Telefon zurück in die Hand. »Das Ding ist im Eimer. Was jetzt?«
Keyes biss sich auf die Lippe. »Gottverdammt. Lass mich nachdenken. Nach Westen kommen wir nicht. Wir müssten durch den Dnjepr schwimmen. Das schaffen wir nicht. Die Russen haben garantiert jede Brücke entweder besetzt oder gesprengt. Ganz davon abgesehen, dass im Westen die Front gegen die NATO eröffnet wird.«
»Hat die CIA in der Ukraine Verstecke?«, fragte Hargraves. »Black Sites? Kontakte?«
»Natürlich, aber ich kenne sie nicht«, erwiderte sie tonlos. »Es war nie geplant, hier zu landen.«
»Es … was?«
»Das hier war nie meine Mission. Ich hätte nie nach Babrujsk gehen sollen. Hinter der Front in Polen bin ich auf einen russischen Konvoi gestoßen, der Artefakte abtransportiert hat. Ich habe die Gelegenheit ergriffen und mich auf einem der Laster versteckt. So bin ich in der Anlage gelandet.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Hargraves schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Himmelherrgott! Also haben wir nichts?«
»Zumindest von meiner Seite aus nicht, nein. Wir sollten versuchen, mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Vielleicht kommen wir so weiter.«
Einen Moment lang sah Hargraves aus, als wollte er etwas erwidern, nur um schließlich zu nicken und abermals von ganzem Herzen zu seufzen.
Nachdem sie aus der Hütte getreten waren, hielt Keyes inne und sah sich aufmerksam um, während sie gleichzeitig konzentriert auf jedes noch so leise Geräusch lauschte. Zum Glück konnte sie nichts feststellen, was auf russische Soldaten hingedeutet hätte. Damit schien zumindest die unmittelbare Umgebung sicher zu sein.
Mit schnellen Schritten suchte sie sich einen Weg nach Osten, tiefer in den Wald hinein. Wo es in dieser Gegend Ortschaften gab, wusste sie nicht, allerdings sollte es nicht allzu schwer sein, Menschen zu finden. Und mit ein bisschen Glück verlief die russische Front längst nicht mehr hier, sondern viel weiter südlich.
Bald schon stießen sie auf einen schmalen Feldweg, der wenig später in eine unbefestigte Straße überging, die ihrerseits wiederum in Richtung eines kleinen Dorfes führte. Das Gelände zwischen ihnen und den ersten Häusern bestand zwar ausschließlich aus Feldern und bot entsprechend keinerlei Deckung oder Versteckmöglichkeiten, dafür waren aber auch keine russischen Soldaten, Kampffahrzeuge oder sonst etwas Gefährliches zu erkennen. Einzig eine schwarze Rauchsäule am nördlichen Ende des Ortes zeugte davon, dass Krieg herrschte.
»Sprichst du Ukrainisch?«, fragte Hargraves, während sie weiter der Straße zum Ort folgten.
»Ein paar Wörter vielleicht. Du?«
»Nur das, was ich aufgeschnappt habe. Aber die meisten Ukrainer sprechen zumindest ein paar Brocken Englisch. Früher oder später finden wir jemanden, der uns versteht.«
»Hoffen wir es.«
Keyes sah sich um. Nach wie vor erkannte sie nirgendwo russische Soldaten – allerdings auch sonst nichts. Die vor ihnen liegende Ortschaft schien verlassen zu sein. Über keinem Haus war Rauch zu sehen und es waren auch keine Geräusche zu hören, die auf Menschen hingedeutet hätten. Keine Motoren, kein gar nichts. Nicht einmal Vögel zwitscherten.
Ihre Hände wanderten zu ihrem Gewehr. Besonders viel Munition war ihr nach dem Sperrfeuer aus dem Hubschrauber hinaus nicht geblieben, aber sie reichte aus. Zumindest, falls sie nur auf Plünderer oder eine kleinere Gruppe Soldaten stießen. Falls sie gleich in einen Hinterhalt hineinliefen oder sich der geballten Macht des russischen Militärs gegenübersahen, war es aus.
Dann endlich erreichten sie die ersten Häuser. Ihr Verdacht schien sich zu bestätigen: Noch immer herrschte eine gespenstische, geradezu dröhnende Stille vor. Die Explosionen und Kampfgeräusche, die in der Nacht zu ihnen gedrungen waren, schienen nicht bis zu diesem Ort vorzudringen. Entweder die Geschütze waren tatsächlich verstummt oder aber die Front hatte sich massiv verlagert. Sie …
Plötzlich packte Nick ihren Arm und hielt sie zurück. Und noch bevor sie fragen konnte, was los war, deutete er an einem der Häuser vorbei in Richtung der davor verlaufenden Straße. Keyes erblickte drei Gestalten, die bei einem einfachen Pferdegespann standen und versuchten, den darauf angehäuften Hausrat mit ein paar Seilen zu sichern. Zwei davon schienen Senioren zu sein und die dritte wirkte kaum jünger. Eltern und ihre Tochter?
Nachdem sie sich so gut wie möglich vergewissert hatte, dass nirgendwo Soldaten lauerten, nahm sie ihre Waffe auf den Rücken und näherte sich den dreien. Der Mann bemerkte sie zum Glück schnell, hob die Hand und sagte etwas, das sie nicht verstand. Sie erwiderte den Gruß und versuchte, sich das bisschen Ukrainisch ins Gedächtnis zu rufen, das sie kannte.
»Pryvit!«, sagte sie laut und deutlich und blieb ein paar Meter von ihnen entfernt stehen. »Ya … Amerykanski? Verstehen Sie mich?«
»Ich.« Die jüngste der drei drehte sich zu ihr um. Auch sie schien weit über 60 zu sein. Ein wettergegerbtes, bitteres Gesicht, erschöpft von einem Leben voller harter Arbeit. »Ich spreche ein wenig. Hier nicht sicher. Russische Soldat nah. Gehen schnell.«
»Ich weiß«, antwortete Keyes und überlegte sich, wie sie sich am besten verständlich machen sollte. »Wie ist die Lage? Wo sind die Russen? Was ist mit Kiew?«
»Krieg ist aus.« Die Frau sah kopfschüttelnd zu Boden. »Alles Ende. Russen überall.«
Keyes spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.
»Was ist passiert?«
»Gas. Gas in Kyyiv.«
»Gas?«
Der alte Mann sagte etwas und machte eine Handbewegung in Richtung Himmel.
»Was sagt er?«
»Flugzeuge sind geflogen. Heute Nacht. Gas auf Kyyiv. Alles aus.«
Der Alte deutete in Richtung Osten.
»Partyzaniv?«, fragte die Frau unsicher. »Dort. Osten. Im Wald.«
»Partisanen«, brummte Hargraves. »Die sind vermutlich unsere beste Möglichkeit, von hier zu verschwinden. Vielleicht können sie uns an den Russen vorbeischmuggeln. Kann er uns zu ihnen bringen?«
Die Frau sagte etwas zu dem Alten, der daraufhin sofort mit dem Arm winkte und ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Noch bevor Keyes antworten konnte, drehte er sich um und marschierte mit einer für sein Alter mehr als nur ansehnlichen Geschwindigkeit los. Sie zögerte zwar noch einen Moment, unentschlossen, was sie davon halten sollte, nahm dann jedoch ihr Gewehr vom Rücken und folgte ihm. Wenn Kiew wirklich gefallen war, dann waren Partisanen ihre einzige Chance.
*****
Es dauerte nicht lange, bis sie den kleinen Ort durchquert hatten. Auf dem Weg begegneten ihnen nur eine Handvoll Menschen; allesamt Greise und etwas jüngere Frauen, die ihre verbliebenen Habseligkeiten auf Traktoren, alte Autos oder Pferdegespanne packten. Alles, was Räder hatte, wurde benutzt. Männer im kampffähigen Alter waren keine zu sehen. Die meisten von ihnen hatten vermutlich bis gestern an der Front gekämpft oder hielten in vereinzelten Widerstandsnestern aus. Allein der Teufel wusste, welches Schicksal sie erwartete, aber die Russen waren nicht unbedingt bekannt dafür, Kriegsgefangene schnell wieder freizulassen.
Der Alte führte sie abseits der Wege in den Wald, und nachdem sie ein paar hundert Meter weit in das Dickicht vorgedrungen waren, blieb er schließlich stehen und rief etwas, das Keyes nicht verstand. Einige Sekunden lang geschah nichts, aber dann bemerkte sie plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel. Zwei bärtige Männer in Armeeuniformen, die aus einem bis gerade versteckten Loch im Boden kletterten und mit erhobenen Gewehren auf sie zukamen. Der Alte ging ihnen wild gestikulierend entgegen und redete kurz auf sie ein, ehe er auf Keyes und Hargraves deutete.
»Amerikaner?« Einer der beiden Soldaten trat nun auf sie zu, nahm sein Gewehr runter und reichte erst Hargraves und anschließend Keyes die Hand. Eine mächtige Narbe zog sich quer über seine linke Wange. »Militär?«
»CIA«, antwortete Keyes. »Unser Hubschrauber wurde abgeschossen.«
»Das erklärt, was gestern Abend los war«, brummte der Soldat, während er die Hand hob und den Alten verabschiedete, der bereits zurück zur Ortschaft marschierte. »Ihr hattet Glück, dass euch die Russen nicht gefunden haben.«
»Das kann man wohl sagen.« Sie warf Hargraves einen kurzen Blick zu. »Ist Kiew wirklich gefallen?«
»Vor drei Stunden kam der Befehl zur Kapitulation«, knurrte der Soldat. »Die Russen haben anscheinend Giftgas eingesetzt, aber es ist noch nicht sicher. Wir kriegen keine verlässlichen Informationen rein. Die Armeeführung scheint auf jeden Fall kollabiert zu sein. Aber das bedeutet nicht, dass wir unser Land so einfach verloren geben.«
»Das dachte ich mir.« Keyes zwang sich zu einem Lächeln. »Wir müssen nach Westen oder brauchen zumindest eine Möglichkeit, den NATO-Truppen eine Nachricht zukommen zu lassen. Könnt ihr uns helfen?«
»An eurer Stelle würde ich nicht nach Westen gehen«, erwiderte der Soldat. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr es durch die russischen Linien schafft. Sie haben zu viele Soldaten zusammengezogen. Aktuell scheint die Front ziemlich festgefahren zu sein.«
»Das habe ich befürchtet. Gibt es eine Alternative? Habt ihr eine Möglichkeit, eine Nachricht abzusetzen?«
»Wir nicht, aber in der Nähe hält sich eine Einheit Fernspäher auf. Wir können euch hinbringen, wenn ihr wollt.«
»Dann machen wir es so.« Keyes nickte. »Danke. Bekommt ihr alles mit, was hier in der Gegend passiert?«
»Warum fragst du?«
»Als unser Hubschrauber abgeschossen worden ist, war noch jemand bei uns«, antwortete Hargraves an ihrer statt. »Ein deutscher Kommandosoldat. Wir haben ihn bei der Absturzstelle nicht gefunden.«
Der Soldat warf seinem Kamerad einen kurzen Blick zu und sagte etwas auf Ukrainisch, woraufhin er leise lachte und ihm etwas antwortete, das Keyes ebenfalls nicht verstand.
»Was ist los?«, fragte Hargraves.
»Yaroslav hier war heute Nacht am Fluss, als euer Hubschrauber abgeschossen wurde, und hat die russischen Truppenbewegungen beobachtet. Als die Suchaktion losging, hat er sich zurückgezogen und gesehen, wie eine russische Einheit nördlich von Kosachivka unter Beschuss gekommen ist. Die Soldaten wurden alle getötet und ein einzelner Mann ist mit einem ihrer Fahrzeuge weitergefahren.«
Keyes lächelte, als eine Welle der Erleichterung über sie hereinbrach. Das konnte nur Walther gewesen sein. Und wenn er in der Lage gewesen war, eine ganze Einheit Soldaten im Alleingang anzugreifen, zu erledigen und anschließend eines ihrer Fahrzeuge zu stehlen, dann konnte er nicht allzu schwer verletzt sein – und das wiederum bedeutete, dass er sich vermutlich auf dem Weg zurück nach Westen befand. Mit der Festplatte und damit mit den Informationen, die um jeden Preis die NATO erreichen mussten.
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte sie schließlich und nickte den beiden Soldaten zu. »Gut. Können wir los?«
Die nächsten Stunden verbrachten sie und Hargraves damit, den beiden immer tiefer in den Wald hinein zu folgen. Wohin sie gingen oder wie weit es bis zu den Fernspähern war, wusste sie nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Mit dem Wissen, dass Walther überlebt hatte, war es fürs Erste vollkommen unerheblich, wie lange sie sich in der Ukraine aufhielten, bevor sie einen Weg zurück in die Staaten fanden. Und wenn diese Fernspäher ihnen eine Möglichkeit boten, eine Nachricht an das Op-Com oder zumindest an NATO-Einheiten an der Front zu schicken, war das ein weiterer riesiger Schritt in die richtige Richtung.
Trotzdem. Ihre Erleichterung über Walthers Überleben einmal beiseite – warum zum Teufel hatte er nicht auf sie gewartet? Warum war er ohne sie aufgebrochen? Ein Mann wie er war auf jeden Fall erfahren genug, um zu überprüfen, ob sie noch lebten, und nicht einfach kopflos davonzulaufen. Er musste gewusst haben, dass sie nicht gestorben waren. Warum also hatte er sie trotzdem zurückgelassen? War es Furcht gewesen, den Russen in die Hände zu fallen und so womöglich die Festplatte und damit alles zu verlieren, was sie aus Babrujsk hatten retten können? Möglich, aber immerhin war es auch ihr und Hargraves gelungen, den russischen Einheiten zu entkommen.
Fakt war, dass sie es nicht wusste. Und bei jedem anderen Menschen wäre sie auch davon ausgegangen, dass er diese Situation benutzt hätte, um sich abzusetzen und sie zu verraten. Allerdings wusste sie nach wie vor praktisch nichts über Walther, was sein Verhalten zumindest nicht ungewöhnlich erscheinen ließ. Genaugenommen hatte er sogar genau das getan, was sie von ihm erwartet hätte. Schließlich war es, wie er gesagt hatte: Wenn die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, spielte es keine Rolle, für wen sie arbeiteten oder warum sie taten, was sie tun.
Die Sonne stand hoch am Himmel und brannte erbarmungslos auf sie herab, als sie endlich eine Freifläche im Wald erreichten, die unschwer als Truppenübungsplatz zu erkennen war. Die beiden Soldaten blieben nun stehen und deuteten über das Feld in Richtung Nordosten.
»Dort vorne liegt Hontschariwske«, sagte der Soldat nun. »Die erste Panzerbrigade war vor dem Krieg da stationiert. Die Jungs sind schon längst nicht mehr da, aber in der Kaserne haben wir die Fernspäher zum letzten Mal gesehen. Wenn sie noch in der Gegend sind, findet ihr sie dort.«
»Ihr begleitet uns nicht mehr?«, fragte Keyes. »Wie sollen wir uns verständigen? Was, wenn sie uns für russische Soldaten halten?«
»Glaubt mir, wenn ich sage, dass ihr nicht wie russische Soldaten ausseht«, schnaubte der Soldat. »Sie werden nicht auf euch schießen. Wir müssen zurück auf Position. Viel Glück.«
Keyes setzte schon an, etwas zu sagen und die beiden aufzuhalten, ließ es dann aber sein. Indem sie sie hergebracht und ihnen gesagt hatten, wo die Fernspäher zu finden waren, hatten sie ihnen schon immens geholfen. Mehr sogar, als sie sich erhofft hatte. Sie würden schon einen Weg finden, sich mit den Fernspähern zu verständigen.
»Bleib am Waldrand«, sagte sie schließlich und bedeutete Hargraves mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. »Und achte darauf, wo du hintrittst. Es wäre eine Schande, wenn wir draufgehen, weil wir auf alte Munition treten.«
»Ich bin immer noch entsetzt, wie stümperhaft die CIA in einem Kriegsgebiet vorgeht«, brummte dieser und folgte ihr. »Nicht böse gemeint. Ich bin dir dankbar für die Rettung, aber da du das weder geplant hattest, noch danach wusstest, wie du aus Babrujsk verschwinden solltest – und da wir seither ununterbrochen improvisieren …«
»Hast du dir eine Kugel eingefangen?«
»Nein, wieso?«
»Siehst du?« Sie lachte leise. »Hargraves, das meiste, was du im Fernsehen über die Agency hörst, ist Bullshit. Ja, es gibt diese klassischen Einsätze mit Vorbereitung, Überwachung und präzisen Zugriffen, und glaub mir, es wäre mir tausendmal lieber gewesen, hätte ich das tun können. Aber oft genug weiß selbst die Agency nur sehr wenig über die Situation vor Ort. Improvisationen gehören dazu. Wichtig ist, dass man weiß, wie man improvisiert – und dass man nicht die Nerven verliert, wenn etwas schiefgeht. Ich finde, angesichts der Umstände schlagen wir uns ziemlich gut.«
»Auch wieder wahr«, murmelte er. »Weißt du, was mich fertig macht?«
»Was?«
»Dass wir in diesem gottverdammten Krieg feststecken, während die wahre Bedrohung im Orbit um die Erde schwebt. Dass wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, während dieses verfickte Schiff die Erde mit diesen Artefakten verseucht. Ich kapiere einfach nicht, wie man so dumm sein kann!«
»Es passiert mehr, als du denkst«, erwiderte Keyes.
»Ach?«
»Weißt du, was das SPACECOM ist?«
»Unser Weltraumkommando, oder?«
»Ganz genau. Ich gehörte zwar zur CIA, wurde aber dem SPACECOM unterstellt. In seinem Auftrag bin ich hier. Ich war dabei, als das Schiff aufgetaucht ist, und habe gesehen, wie die USA alles mobilisiert hat, was wir haben. Der Krieg bindet viele Ressourcen und verrückt den Fokus, aber das bedeutet nicht, dass nichts geschieht. Genau genommen dient alles, was ich hier tue, dem Zweck, mehr über das Schiff herauszufinden. Kann ich dich jetzt etwas fragen?«
»Klar.«
»Warum bist du noch hier?«
»Hättest du mich gehen lassen?«
»Du hättest abhauen können, als ich geschlafen habe.«
»Ich …« Er hielt inne und atmete tief durch. »Es fühlt sich falsch an, zu gehen. Nachdem Deer gestorben ist und ich gesehen habe, was mit ihr passiert ist … Ich kann nicht einfach abhauen. Ich weiß, dass es lächerlich ist, aber ich fühle mich verpflichtet, dabei zu helfen, diesen Wahnsinn aufzuhalten, bevor die ganze Welt daran zerbricht. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, indem ich die Artefakte gesucht habe. Es ist nur fair, wenn ich helfe, diese Scheiße wiedergutzumachen.«
»Das ehrt dich.«
»Findest du?«
»Ja, ehrlich gesagt schon. Es gibt nicht viele Menschen, die Fehler eingestehen und dann auch noch versuchen, sie wiedergutzumachen.«
»Vielleicht hat mir die Sonne Arizonas ja das Hirn verbrannt.«
Keyes lachte leise, sagte aber nichts mehr und konzentrierte sich stattdessen auf den vor ihnen liegenden Weg. Noch immer marschierten sie am Waldrand entlang in Richtung Nordosten. Wie weit es bis Hontschariwske oder zu den Kasernen der Panzerbrigade war, konnte sie nicht abschätzen, aber da neben ihnen ein breiter und offensichtlich häufig von Panzern benutzter Weg verlief, hoffte sie, dass es nicht mehr allzu weit war.
Schließlich wurde der Wald um sie herum dichter und wenig später erkannte Keyes zwischen den Bäumen eine Reihe von Gebäuden, umgeben von einem rostigen alten und mehr als nur löchrigen Zaun. Das musste das Gelände der Panzerbrigade sein!
Langsam, vorsichtig und vor allem aufmerksam näherten sie sich den Gebäuden. Sie mussten darauf achten, nicht aus Versehen russischen Einheiten in die Arme zu laufen, aber Keyes wollte auch unter keinen Umständen riskieren, für einen Angreifer gehalten zu werden, der versuchte, sich unerkannt zu nähern. Sie hielt nicht einmal ihr Gewehr in den Händen, auch wenn es ihr schwerfiel, sich so schutzlos in einem nach der Kapitulation der Ukraine offiziell feindlich besetzten Gebiet zu bewegen.
Schließlich erreichten sie die Gebäude. Das Tor zum Areal stand weit offen, aber selbst wenn es geschlossen gewesen wäre, hätten sie praktisch überall durch den Zaun schlüpfen können. Hier und da waren sogar einzelne Bäume umgestürzt und hatten Teile der Umzäunung umgerissen. Offensichtlich war die Basis schon seit einigen Monaten und vielleicht sogar seit dem Kriegsausbruch letztes Jahr verlassen. Seltsam. Dass die Kampfeinheiten an die Front geschickt worden waren, konnte sie ja nachvollziehen, aber was war mit den Technikern? Mit der Verwaltung und dem Zivilpersonal? Warum hatte man einen solchen Standort scheinbar aufgegeben?
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und griff nun doch nach ihrer Waffe, während sie Hargraves mit einer schnellen Handbewegung bedeutete, sich hinter ihr zu halten. Das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht. Alles um sie herum wirkte heruntergekommen und teilweise waren die Wege sogar bereits von Pflanzen überwuchert. Dachziegel lagen rings um die Gebäude herum und sogar einige Fensterscheiben waren zersplittert.
Hier sollten sich also Fernspäher aufhalten?
»Keyes«, flüsterte Hargraves plötzlich. »Da vorne links. Schau mal.«
Er deutete auf ein größeres Gebäude, in das zehn breite Garagentore eingelassen waren. Vermutlich ein Unterstand für Panzer. Rings um sie herum standen mehr als ein Dutzend solcher Gebäude. Was dieses jedoch von den anderen unterschied, war der Umstand, dass eines der Tore offen stand – und dass aus dem Inneren das Licht einer Lampe drang.
»Gut beobachtet.« Sie nickte ihm zu. »Komm, aber bleib ein Stück hinter mir.«
»Verstanden.«
Vorsichtig näherte sich Keyes dem Gebäude. Sie hatte ihre Waffe nicht angelegt, hielt sie aber hoch genug erhoben, um es im Zweifelsfall schnell zu tun und potenziellen Beschuss zu erwidern. Doch obwohl sie sich Mühe gab, möglichst laut zu sein und ihre Anwesenheit mitzuteilen, geschah nichts. Niemand erschien beim Tor und sie hörte auch keine Stimmen. Entweder also waren diese Fernspäher sehr diszipliniert, oder sie hielten sie für einen Feind.
»Pryvit!«, rief sie laut und blieb vor dem Tor stehen. »Ya Amerykanski!«
Keine Reaktion.
»Pryvit!«, wiederholte sie und machte ein paar Schritte aufs Tor zu. »Hallo? Ist da jemand? Wir … Oh Gott!«
Sie hielt inne, denn just in diesem Augenblick erkannte sie, was sich in der Halle befand: Zwei fürchterlich verstümmelte Leichen in den zerfetzten Resten ukrainischer Uniformen lagen unmittelbar neben dem Tor, drei weitere tiefer in der Halle – und hinter ihnen befand sich eine bis zur Decke reichende Maschine, vor der mehrere Kisten voller Alien-Artefakte lagen.
Kapitel 16
»G roßer Gott«, entfuhr es Nick, als er Keyes langsam in die Garage folgte und den Blick dabei unablässig auf die toten Soldaten gerichtet hielt. Jede Faser seines Körpers sträubte sich dagegen, diesen Ort zu betreten und auch nur eine Sekunde länger als unbedingt nötig hierzubleiben, aber gleichzeitig gelang es ihm nicht, seine Beine zum Umdrehen zu bewegen. So erschüttert er auch war, noch überwog seine Neugierde.
Während Keyes mit kreidebleichem Gesicht ihre Waffe sinken ließ und einen Blick über ihre Schulter nach draußen warf, beinahe so, als hoffte sie, dort etwas oder jemanden zu erblicken, der diese Szenerie erklären konnte, beugte sich Nick zu einem der Toten. Viel war von ihm nicht übrig, und das, was er von seinem Körper erkennen konnte, schien vor allem von den Resten seiner Uniform zusammengehalten zu werden.
Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Genaugenommen sah es aus, als wären die Soldaten einem gewaltigen Raubtier zum Opfer gefallen, das sie einfach nur des Spaßes wegen zerfetzt hatte, aber er wusste, dass das unmöglich der Fall gewesen sein konnte. Was aber, wenn einer der Außerirdischen die Erde betreten und dieses Massaker angerichtet hatte? Möglich, aber auch das erschien ihm unwahrscheinlich – aus dem einfachen Grund, dass die Leichen nicht aussahen, als hätte es einen Kampf gegeben.
Die beiden Toten beim Tor hatten vermutlich Wache gehalten, während die anderen drei den Eindruck machten, als hätten sie nah an der Maschine gestanden und sie vielleicht sogar untersucht. Eine Waffe hielt keiner von ihnen in der Hand – oder in dem, was von ihren Händen übrig war. Ganz im Gegenteil: Es sah aus, als hätten sie ihre Gewehre allesamt auf dem Rücken getragen. Ein Umstand, der dadurch untermauert wurde, dass nirgendwo Patronenhülsen herumlagen. Sie hatten sich also nicht gewehrt.
Aber was zum Teufel war dann hier geschehen?
Sein Blick wanderte zu der seltsamen Maschine, die nur wenige Meter von ihm entfernt stand – wobei er sich nicht einmal sicher war, ob das überhaupt der richtige Begriff für das war, was er vor sich sah. Dieses Ding, was auch immer es war, besaß die Form eines Dodekaeders, dessen Kanten aus Aluminium gemacht zu sein schienen. An jeder Ecke verfügte es über Halterungen für Artefakte, allerdings befanden sich nur in einigen wenigen auch tatsächlich welche. Die übrigen waren leer. Die Maschine reichte bis knapp unter die Decke.
Vorsichtig trat Nick näher. Über den Boden verliefen einige mit Klebeband fixierte Kabelbahnen, die die Maschine scheinbar mit drei simplen Laptops verbanden, die auf einem Tisch neben einem der geschlossenen Garagentore standen. Daneben erkannte er vier Dieselgeneratoren, ein paar Kanister und ein paar Holzkisten, aber abgesehen davon war die gesamte Garage leer.
»Sie haben mit Artefakten experimentiert«, murmelte er.
»Sie?«, fragte Keyes hörbar aufgebracht. »Wer sind ›sie‹?«
»Die Ukrainer, nehme ich an. Nicht die Soldaten, aber …«
Er hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung«, murmelte er schließlich. »Das ist nur meine Vermutung. Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorstellen, dass es die Russen waren. Die hätten die Artefakte und eine solche Maschine sicher nicht in einem Kriegsgebiet aufgebaut.«
»Stimmt wohl.« Keyes trat zu ihm und blickte mit sichtbarer Abscheu auf die Maschine. »Angenommen also, das war ukrainische Forschung – warum zum Teufel sind diese armen Schweine gestorben? Warum ist diese Maschine überhaupt hier?«
»Vielleicht wurde sie zurückgelassen?«
»Du meinst, man hat die Basis benutzt, um Experimente durchzuführen?«, fragte Keyes. »Und als die Russen angerückt sind, hatte man womöglich keine Zeit, alles abzubauen und zu verladen? Möglich wäre es. Deswegen befinden sich vielleicht nur ein paar wenige Artefakte in den Halterungen. Man hat versucht, sie rauszunehmen, wurde dann aber von der Geschwindigkeit des Vorstoßes überrascht und musste fliehen. Die Russen haben anschließend wiederum eine scheinbar verlassene Basis vorgefunden und sind mit ihren Streitkräften weiter vorgerückt, ohne alles zu durchsuchen – woraufhin schließlich die Fernspäher hergekommen sind und das passiert ist.«
»Es klingt auf jeden Fall nicht abwegig«, stimmte Nick ihr zu. »Wüssten die Russen hiervon, würde es hier vor ihren Leuten nur so wimmeln. Es wundert mich nur, dass die Ukrainer …«
»Was?«, unterbrach ihn Keyes spöttisch. »Dass eine Nation im Krieg alle Register zieht, um sich gegen den Aggressor zu wehren? Hargraves, ich garantiere dir, dass jede Nation auf diesem Planeten an diesen Artefakten forscht – mit Ausnahme vielleicht des Vatikans.«
»Stimmt auch wieder. Wobei es mich wundert, dass sie die Laptops zurückgelassen haben.«
Keyes murmelte etwas Unverständliches, ging zu den drei Computern und sah sie sich aus der Nähe an, schüttelte dann jedoch den Kopf.
»Defekt«, sagte sie. »Alle drei. Ich schaue mir die Festplatten an. Vielleicht können unsere Analysten in den Staaten etwas herausfinden. Sieh du dich um. Vielleicht findest du etwas heraus – aber fass unter keinen Umständen …«
»Ja, ja«, unterbrach er sie und winkte ab. »Ich bin kein Schwachkopf, Keyes.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Nick verkniff sich eine Erwiderung, kniete sich abermals zu einem der Toten und begann, seine Taschen zu durchsuchen. Vielleicht fand er bei einem von ihnen ja etwas. Einen Hinweis oder womöglich gar Informationen, die die Fernspäher wiederum gefunden hatten, als sie diese Garage betreten hatten.
Lange konnte es auf jeden Fall noch nicht her sein – weder ihr Eintreffen noch ihr Tod. Obwohl es in der Gegend sehr heiß war, hing kein Verwesungsgeruch in der Luft, und trotz der recht großflächig verteilten inneren Organe flogen auch nur sehr wenige Fliegen umher. Zwar konnte Nick nur raten, aber er war sich sicher, dass diese Männer erst vor wenigen Stunden gestorben waren. Maximal.
Nur wie?
Abermals sah er zu der Maschine. Falls die Leichen nach ihrem Tod nicht bewegt worden waren, schien keiner der Soldaten unmittelbar an oder gar in der Maschine gestanden zu sein, und auch keines der Artefakte lag nah genug an ihnen dran, um diese Erklärung zu untermauern. Trotzdem war die schiere Gewalt, mit der die Männer zu Tode gekommen waren, unübersehbar. Hatten sie womöglich etwas ausgelöst oder aktiviert? Oder war die Maschine gar aktiv gewesen und ihre bloße Anwesenheit hatte das verursacht?
Er wusste es nicht. Und obwohl er es nicht gerne zugab, war er davon überzeugt, dass weder er noch Keyes eine Antwort auf diese Fragen finden würden. Das wiederum bedeutete, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als weiter die Taschen der Toten zu durchsuchen und zu hoffen, etwas zu finden.
»Keyes?«, fragte er schließlich, während er den zweiten Toten beim Tor durchsuchte. Außer Zigaretten und Munition hatte er bisher nichts gefunden. »Fernspäher schleppen doch sicher Einiges an Ausrüstung mit sich herum, oder?«
»In der Regel schon«, murmelte sie, während sie weiterhin versuchte, das offensichtlich von einem Schuss verformte Gehäuse eines der Laptops zu öffnen. »Wieso fragst du?«
»Es gibt hier keine Ausrüstung. Keine Rucksäcke, kein gar nichts.«
Keyes sah auf und schaute sich um. »Du hast recht.«
»Ich weiß.«
»Dann müssen sie in einem der anderen Gebäude ihr Lager aufgeschlagen haben«, fuhr sie fort. »Anschließend haben sie die Basis durchsucht.«
»Ich schaue mich mal um.«
»Warte!« Sie griff an ihren Gürtel und zog ihre Pistole hervor. »Hier.«
Er ging zu ihr und nahm die Waffe aus ihrer Hand. »Denkst du, ich brauche eine Pistole?«
»In einem Kriegsgebiet?« Sie lachte bitter. »Du kannst dir auch einen Stock suchen. Sei vorsichtig – und achte auf Sprengfallen. Allein der Teufel weiß, ob sie ihr Lager nicht abgesichert haben.«
»Verstanden. Bis gleich.«
Mit diesen Worten drehte sich Nick um und verließ die Garage. Und obwohl er bis gerade felsenfest davon überzeugt gewesen war, die Pistole unter keinen Umständen zu benötigen, war er plötzlich froh, sie bei sich zu tragen. Mit einem Mal kam ihm die ohnehin weitläufige Anlage riesig vor – riesig, unübersichtlich und bedrohlich. Er wusste nicht, ob es seine Nerven waren, die ihm einen Streich spielten, oder ob das Wissen um das Schicksal der Fernspäher eine solche Verunsicherung in ihm hervorrief. So oder so konnte er nichts daran ändern.
Aufmerksam sah er sich nach dem höchsten Punkt der Anlage um. Nach einer Position, die gut geschützt und möglichst versteckt lag, gleichzeitig aber auch einen guten Überblick über die Umgebung bot. Ein Ort, an dem er sein Lager aufschlagen würde, wäre er tief hinter feindlichen Linien im Einsatz – und den er schließlich in einem mehrstöckigen Gebäude gefunden zu haben glaubte.
Er machte sich auf den Weg und achtete dabei unablässig auf seine Umgebung. Nach wie vor herrschte eine geradezu gespenstische Stille auf der gesamten Anlage. Nicht einmal der Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln. Auch früher schon hatte er einen solchen Eindruck in der Nähe von Artefakten gewonnen. Besaßen die Tiere der Erde vielleicht ein instinktives Wissen um die Gefahr, die von diesen Dingern ausging? Oder waren sie schlichtweg längst tot?
Nick biss sich auf die Lippe und zwang sich zur Konzentration. Es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, das wusste er. Seine Überlegungen dienten einzig und allein dem Zweck, die tiefgreifende Verunsicherung zu übertönen, die er bei jedem einzelnen Schritt an diesem gottverlassenen Ort empfand. Diese Artefakte waren wie Krebsgeschwüre, die das Land um sich herum nach und nach abtöteten. Das wurde ihm erst jetzt bewusst. Und indem die Menschen mit ihnen experimentierten, beschleunigten sie das Wachstum dieser Tumore nur noch.
Schließlich erreichte er das Gebäude, dessen Eingangstür überraschenderweise nicht verschlossen war, sondern weit offen stand. Wenig später fand er auch die Treppe und ging vorsichtig nach oben, bei jedem Schritt auf versteckte Sprengfallen achtend. Allerdings schien es keine zu geben und so erreichte er einen kleinen Aufbau auf dem Dach des Gebäudes, der mit Antennen und anderer Sendeausrüstung vollgestopft war. Sendeausrüstung, zwischen der er fünf Schlafsäcke und Rucksäcke erkannte.
»Na also«, murmelte er und begann, die Rucksäcke einen nach dem anderen zu durchsuchen.
Besonders viel kam dabei nicht zum Vorschein. Einige Vorräte, etwas Verbandszeug, ein paar Feldflaschen und Wasserreinigungstabletten, Reservemunition, Ferngläser. Kein Hinweis darauf, dass die Soldaten mehr über die Maschine in der Garage herausgefunden hätten als er und Keyes. Das einzig wirklich Nützliche stellte ein Funkgerät und ein Satellitentelefon dar.
Nick seufzte frustriert, füllte einen der Rucksäcke mit so viel Ausrüstung, wie er nur konnte, nahm Funkgerät und Telefon und wollte sich gerade schon zum Gehen umdrehen, als plötzlich lautes Gebrüll zu ihm hallte. Das waren zwei Stimmen – Keyes und die eines Mannes. Er spürte, wie sein Herz augenblicklich eine Ladung Adrenalin in sein Blut jagte. Gottverdammt, das mussten Soldaten sein!
So schnell er nur konnte, hetzte er durch das Treppenhaus nach unten, stürmte zur Tür und warf einen Blick nach draußen. Sehen konnte er nichts, aber dafür hörte er noch immer laute Stimmen, die von der Garage aus zu ihm hallten. Bislang waren keine Schüsse gefallen, aber er durfte nicht riskieren, dass Keyes etwas zustieß. Wenn sie draufging, war er erledigt.
Er umfasste die Pistole mit beiden Händen, entsicherte sie und näherte sich der Garage. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Eine falsche Bewegung und die Soldaten würden ihn bemerken. Soldaten, die vermutlich mit Schutzwesten und Helmen ausgestattet waren, die eine Pistole unmöglich durchdringen konnte.
»Stopp!«, donnerte ihm auf einmal Keyes’ Stimme entgegen, als er gerade das Tor erreichte und die Waffe hob. »Stopp, Nick! Es ist gut! Alles gut! Okay?! Ne strelyay! Ne strelyay!«
Vorsichtig trat Nick näher. In der Garage erblickte er drei russische Soldaten, von denen einer in seine Richtung zielte, jedoch nicht den Anschein machte, als wollte er tatsächlich schießen. Die anderen beiden trugen ihre Gewehre auf dem Rücken und standen bei Keyes, die ihrerseits wiederum beschwichtigend die Hände gehoben hatte.
Er kniff die Augen zusammen, steckte seine Pistole langsam weg und nickte dem Soldaten zu, der auf ihn zielte. Ein blutjunger Kerl, vermutlich gerade einmal volljährig. Wenn überhaupt. Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben und tiefschwarze Ringe untermalten seine Augen. Auch er nahm nun seine Waffe runter und erwiderte sein Nicken nach kurzem Blickkontakt.
»Keyes?«, fragte Nick und betrat die Garage. »Was ist hier los?«
»Deserteure«, antwortete sie. »Sie sind auf dem Weg nach Norden, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Wir nicht schießen«, sagte einer der beiden, die bei ihr standen, mit schwerem, kaum verständlichem Akzent. »Wir nichts Krieg. Nur nach Hause. Hier verstecken.«
»Dann geht weiter.«
Nick bemühte sich, nicht zu aggressiv zu klingen, aber sein nach wie vor rasendes Herz erschwerte diesen Versuch. Jede Faser seines Körpers war angespannt und obwohl keiner der drei seine Waffe erhoben hatte, misstraute er ihnen. Vielleicht tat er ihnen damit unrecht und sie waren wirklich bloß Jungs, die wieder nach Hause wollten, aber daran konnte er nichts ändern. Je schneller sie von hier verschwanden, desto besser für sie alle.
Der Soldat deutete auf die Toten. »Was passiert?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Keyes, noch bevor Nick etwas sagen konnte, und warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Wir haben sie so gefunden.«
Einer der anderen Soldaten raunte etwas, das Nick nicht verstand. Zumindest fast nicht. Ein Wort war dabei, das er klar und deutlich heraushörte: Artefakt. Abermals zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen; nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, sofort nach seiner Pistole zu greifen. Wenn die drei entschieden, die Artefakte zu stehlen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen …
»Lasst es«, knurrte er und deutete erst auf die Maschine und anschließend auf die Toten. »Das ist es nicht wert. Geht nach Hause.«
»Viel Geld.« Der Soldat deutete auf die Kisten voller Artefakte. »Sehr viel Geld. Wir nehmen eine Kiste.«
»Nein!«, brüllte Keyes und riss ihr Gewehr hoch, als der Soldat an ihr vorbeitreten und nach einer der Kisten greifen wollte. »Lasst das! Geht einfach, verdammt!«
Für einen winzigen Augenblick geschah nichts, doch dann schlug der Soldat plötzlich nach Keyes und traf sie mit voller Wucht in die Seite. Zwar versuchte sie noch, ihm auszuweichen, aber sie war zu langsam. Sie versuchte, ihn ins Visier nehmen, aber bevor sie dazu kam, traf sie bereits der zweite Schlag. Sie schrie auf und trat nach dem Soldaten, erwischte ihn auch, aber es hatte keinen Zweck. Er schlug weiter auf sie ein.
Seine beiden Kameraden schienen von dem plötzlichen Gewaltausbruch genauso überrascht zu sein wie Nick – und genau diesen Umstand nutzte er aus. Wenn sie lebend aus der Sache rauskommen wollten, musste er handeln. Jetzt. Und so schlug er dem ihm am nächsten stehenden Soldaten mit aller Kraft seitlich gegen den Kopf, riss ihm das Gewehr aus der Hand und nahm den dritten Mann ins Visier, dem es wiederum nicht gelang, rechtzeitig seine eigene Waffe zu heben.
»Waffe weg!«, brüllte Nick. »Sofort weg! Los! Los!«
Plötzlich ein ohrenbetäubendes Knistern. Wie ein Blitzschlag, der einfach nicht vergehen wollte, dröhnte es durch die Garage. Es kam von der Maschine. Nick drehte sich augenblicklich um und starrte auf den Soldaten, der Keyes angegriffen hatte. Er war gerade rückwärts gegen das Dodekaeder gestoßen und über eine der Aluminiumstreben ins Innere des Apparats gestürzt. Eine Mischung aus Überraschung und Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch nur für einen Moment, bevor er sich wieder auf die Beine kämpfte – und plötzlich in einer roten Wolke verschwand.
Augenblicklich stieg der Gestank verbrannten Fleischs in die Luft, während sich ein feiner, rötlicher Nebel über die Maschine und alles um sie herum legte. Der Soldat war verschwunden und abgesehen von seiner zu Boden fallenden Ausrüstung war nichts mehr von ihm übrig. Kein Fleisch, keine Knochen, keine Kleidung. Nur noch das rot glühende Metall seiner Ausrüstung.
*****
Die beiden verbliebenen russischen Soldaten waren geflohen. Noch nie zuvor hatte Nick Menschen so schnell rennen sehen. Sie hatten ihre Waffen zurückgelassen und bei der Flucht sogar Rucksäcke und Schutzwesten weggeworfen, um noch schneller laufen zu können. Eine Entscheidung, die er mehr als nur gut nachvollziehen konnte, musste er sich seit dem Tod des dritten Soldaten doch jede einzelne Sekunde dazu zwingen, es ihnen nicht gleichzutun.
Entsetzt, angewidert und fassungslos starrte er auf die rote Schmiere, die von dem Mann geblieben war. Ein paar letzte Reste von ihm hingen noch als feiner Nebel in der Luft und rieselten langsam zu Boden, wo sie das wenige bedeckten, was von seiner Ausrüstung übrig war. Metall, Holz, Gummi und Kunststoff. Sein Körper und alles andere waren gleichermaßen verdampft worden. Vaporisiert, vernichtet, aus der Existenz gerissen. Nick wusste nicht, was genau geschehen war oder wie er es bezeichnen sollte, aber das musste er auch nicht. Was geschehen war, reichte vollkommen: Diese Maschine ermöglichte, die Artefakte waffenfähig zu machen. Sie konnte einen Menschen einfach so vernichten, konnte ein Leben binnen eines Sekundenbruchteils auslöschen.
Ein paar Sekunden lang starrte er mit leicht geöffnetem Mund auf die Maschine, bevor sich auf einmal seine Kehle zuschnürte. Würgend und keuchend taumelte er zur Seite und versuchte instinktiv, die heiße Galle zurückzuhalten, die sich so gnadenlos durch seinen Hals fraß, aber es gelang ihm nicht. Er erbrach sich, schnappte nach Luft und erbrach sich erneut. So lange, bis nicht einmal mehr Flüssigkeit in seinem Magen übrig war.
Zitternd sank er zu Boden, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und vergrub das Gesicht in den Händen. Ein verzweifelter Versuch, sich zu beruhigen. Ein zum Scheitern verdammter Versuch. Immer heftiger begannen seine Hände zu zittern und obwohl er sie zu Fäusten ballte, schaffte er es nicht, sich zu beherrschen. Schließlich brach ein verzweifelter Schrei aus seiner Kehle.
»Du Arschloch!« Bevor er auch nur wusste, was er tat, kämpfte er sich auf die Beine und trat auf die Maschine zu. »Du gottverdammter Arsch! Du Idiot, du Drecksack! Warum bist du nicht einfach gegangen?! Warum musste das passieren?! Warum?! Warum?! Ich fasse es nicht! Du Arsch! Du verfickter, gottverdammter …«
»Hargraves.« Plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Keyes. »Lass es gut sein. Er ist tot.«
»Er war noch ein Kind!«, schrie er und riss sich los. »Du hast ihn doch gesehen! Ein beschissenes Kind! Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass Krieg ist, bis sie ihn aus der sibirischen Provinz gezerrt haben! Der Junge wollte nur nach Hause! Und jetzt hat ihn seine Gier umgebracht! Gott, was tun wir hier eigentlich?!«
Plötzlich traf ihn eine Ohrfeige mit voller Wucht im Gesicht. Keyes packte ihn an beiden Armen und zwang ihn mit überraschender Kraft, sich hinzusetzen.
»Tief durchatmen«, befahl sie. »Ganz tief. Keiner von uns konnte das wissen und damit konnten wir es auch nicht verhindern. Du hast recht – das hätte niemals passieren dürfen. Aber es ist passiert. Wir können es nicht ungeschehen machen.«
»Wie kannst du so widerwärtig ruhig bleiben?«, hauchte er und starrte sie an. »Hast du nicht gesehen, was gerade passiert ist?!«
»Doch, das habe ich.«
»Aber?«
»Aber ich habe genau zwei Optionen, jetzt zu reagieren«, antwortete sie langsam. »Ich kann mich hinsetzen, schreien und heulen – oder ich versuche die Nerven zu behalten, um in Zukunft etwas Ähnliches zu verhindern. Ich habe die Festplatten der drei Laptops ausgebaut. Zumindest eine davon sieht äußerlich unbeschädigt aus. Das ist, kombiniert mit dem, was wir gerade miterleben mussten, der beste Weg, dieses Experiment zu verstehen. Wir …«
»Die Artefakte sind auch so schon gefährlich genug«, unterbrach Nick sie tonlos. »Du hast gesehen, was mit Deer passiert ist. Du hast die Leichen in Babrujsk gesehen. Und jetzt das. Was bringt es, das zu verstehen? Wenn es irgendjemandem gelingt, dieses Wirkprinzip zu entschlüsseln, werden wir unseren Atomwaffen hinterhertrauern.«
»Das mag sein.«
»Aber?«
»Kein Aber.«
»Das …«
»Hargraves, keiner von uns kann in die Zukunft blicken und ich werde dir auch nicht versprechen, dass alles gut werden wird. Alles, was ich tun kann, ist mein Job. Die USA mögen nicht fehlerfrei sein, aber angesichts der Alternativen sind sie trotzdem das Beste, was wir haben. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass wir mit diesen Informationen Schlimmeres verhindern können. Was hast du gefunden?«
»Du meinst die Fernspäher?«
Sie nickte.
»Sie haben ihr Lager auf dem Dach eines Verwaltungsgebäudes aufgeschlagen.« Er zog den Rucksack ab. »Keine Hinweise auf das, was hier gemacht wurde. Ein paar Vorräte, ein Funkgerät und ein Satellitentelefon.«
»Satellitentelefon?!«, wiederholte Keyes. »Wo?! Wo ist es?!«
»Hier.« Er griff an seine Tasche und zog es heraus. »Alles gut, ich …«
Sie riss ihm das Telefon geradezu aus der Hand, starrte aufs Display und tätigte einige schnelle Eingaben, nur um anschließend sofort nach draußen zu stürmen. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille, aber dann hörte er tatsächlich ihre Stimme. Sie redete schnell und leise. Zu leise, als dass er etwas verstehen konnte. Aber allein die Tatsache, dass sie mit jemandem sprach, war positiv. Mit etwas Glück kamen sie vielleicht doch lebend aus der Sache raus.
Während Keyes weiter telefonierte, verharrte Nick, wo er war, und starrte auf die blutbefleckte Maschine. Wenn er richtig sah, befanden sich gerade einmal an fünf der 20 Ecken Artefakte. Die übrigen Halterungen waren allesamt leer. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass diese Maschine funktionstüchtig oder gar einsatzbereit war. Wie sehr er sich getäuscht hatte.
Was aber, wenn das Geschehene ein Unfall war und gar nicht der eigentliche Verwendungszweck dieses Apparates? Was wäre wohl geschehen, wenn alle 20 Halterungen mit Artefakten bestückt gewesen wären? Womöglich war der Tod des Soldaten bloß eine Fehlfunktion, die so niemand hatte voraussehen können? Unter Umständen erklärte das auch den Tod der fünf Fernspäher. Es lag zumindest im Bereich des Möglichen, dass sie eine ähnliche Reaktion ausgelöst hatten – oder sogar explizit hergeschickt worden waren, um die Maschine zu demontieren, ohne zu wissen, worauf sie sich einließen.
Nick seufzte. All seine Überlegungen, Vermutungen und Mutmaßungen waren nichts weiter als der verzweifelte Versuch seines Verstandes, das Unfassbare fassbar zu machen und dem Schrecken eine Form zu verleihen. Was seit der Ankunft des fremden Schiffs auf der Erde geschah, entzog sich jedwedem logischen Verständnis und auch jeder für einen Menschen rationalen Erklärung. Mächte und Prinzipien waren am Werk, die die Menschheit nicht einmal ansatzweise begriff.
Irgendwann kam Keyes schließlich zurück in die Garage und setzte sich neben ihn.
»Ich habe mit dem Op-Com telefoniert«, sagte sie. »Walther ist es gelungen, sich nach Moldawien durchzuschlagen. Er befindet sich gerade in der deutschen Botschaft und wird heute noch ausgeflogen.«
»Also sind die Daten in den richtigen Händen?«
»Ich gehe davon aus, dass die Deutschen sie weiterleiten werden, ja.«
»Und was ist mit uns?«
»Sie schicken einen Hubschrauber.«
»Das klingt nicht sehr zuversichtlich.«
»Ich bin auch nicht zuversichtlich«, murmelte sie. »Eine türkische Maschine aus dem Schwarzen Meer. Die Russen scheinen ihre Streitkräfte zwar im Westen zusammenzuziehen, aber du hast ja gesehen, wie schnell alles schiefgehen kann. Eine einzige Flugabwehrbatterie oder ein Zug Infanterie mit Luftabwehrraketen genügt und wir sind erledigt. Und ich persönlich glaube nicht daran, dass wir zwei Abstürze überleben.«
»Bleibt uns etwas anderes übrig?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Den Landweg können wir vergessen, wenn wir nicht gerade nach Osten fliehen wollen. Versteh mich nicht falsch. Ich will nicht negativ sein, aber es hat letztes Mal schon nicht funktioniert. Warum sollte es jetzt anders sein?«
»Weil der Krieg in der Ukraine jetzt vorbei ist.«
»Ein Königreich für deinen Optimismus.« Sie atmete tief durch. »Hatten die Fernspäher zufällig Sprengstoff dabei?«
»Nicht, dass ich gesehen hätte. Wieso?«
»Weil ich die Maschine zerstören soll.« Sie zuckte mit den Schultern. »Naja, dann müssen wir eben auf den Hubschrauber warten. Zaubern kann ich nicht.«
»Du warst doch vorhin noch so gefasst«, sagte Nick. »Warum bist du jetzt auf einmal so pessimistisch? Was dachtest du denn, würde passieren, wenn du deine Vorgesetzten erreichst?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich es selbst nicht«, brummte sie. »Vielleicht einfach, dass mal jemand weiß, was zu tun ist. Dass man sich vielleicht Gedanken gemacht hat, was los ist, als unser erster Hubschrauber nicht zurückgekommen ist, und sich einen Plan B überlegt hat. Vielleicht erwarte ich aber auch einfach nur zu viel. Es ist schließlich Krieg. Ein einzelnes Leben zählt da nicht viel.«
»Danke, dass du mich mitzählst.«
»Ach komm schon.« Ein flüchtiges Grinsen huschte über ihre Lippen. »Du weißt, was ich meine.«
»Klar.«
Sie seufzte. »Diese gesamte Mission war von Anfang an überstürzt und schlecht vorbereitet. Die Ereignisse haben uns links und rechts überholt. Gott, ich saß eigentlich als Analystin in der Wüste! Du kannst dir denken, wie schlecht es aussieht, wenn man mich ins Feld schickt.«
»Unterliegt das nicht der Geheimhaltung?«
»Wieso sollte es? Weißt du denn, wann und wo ich was gemacht habe?«
»Nein.«
»Na also.«
»Wie eine Analystin siehst du auf jeden Fall nicht aus«, meinte Nick. »Und du verhältst dich auch nicht so.«
»Es war auch nicht gerade mein Traumjob«, erwiderte sie. »Egal. Vergessen wir das. Reden wir über etwas anderes. Genug Zeit haben wir ja.«
»Und worüber?«
»Mich interessiert schon die ganze Zeit, wieso du dich auf das alles eingelassen hast«, sagte sie. »Chester Williams, Deer – ich habe mit dem Barkeeper in Tombstone gesprochen. Er hält große Stücke auf dich und schien ehrlich daran interessiert, dass du heil aus der Sache rauskommst.«
»Er ist ein guter Kerl.« Nick lächelte. »Falls ich das überlebe, muss ich definitiv noch mal bei ihm vorbeischauen. Aber was deine Frage angeht: Gelegenheit macht Diebe, wie es so schön heißt. Auch wenn ich technisch gesehen niemanden bestohlen habe.«
»Die Regierung der Vereinigten Staaten?«
»Das Gesetz will ich sehen. Dann müsst ihr auch jedes Schulkind verhaften, das einen Stein aufsammelt. Jedenfalls habe ich nichts von alledem geplant, wenn du das meinst. Wäre Chester an dem Abend nicht aufgetaucht, wäre nichts davon je passiert.«
»Woher kanntest du ihn?«
»Hab ihn mal zusammengeflickt. Ist Jahre her. Wusste damals ehrlich gesagt nicht einmal, wie er heißt. Rückblickend denke ich, dass er das sehr genau geplant hat. Er wusste, dass ich keinen festen Job habe und Geld brauche. Das sind gute Verhandlungsgrundlagen.«
»Und was ist bei Gleeson passiert?«
»Ich habe ihn erschossen.«
»Das weiß ich. Wieso?«
»Er hat den Kerl umgebracht, der das Artefakt gefunden hat – und als er es gesehen hat, war er wie ausgewechselt. Wie in Trance. In dem Moment habe ich kapiert, dass er mich umbringen würde, sobald ich nicht mehr nützlich bin. Ich wollte, dass er seine Waffe weglegt, aber das hat er nicht. Und als er sie auf mich richten wollte, habe ich geschossen. Ich glaube, das alles ist meine Strafe dafür. Dafür, dass ich ihn getötet habe.«
»Das war Selbstverteidigung.«
»Mag sein.« Nick schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Meine Mom ist sehr gläubig. Hat mir immer eingetrichtert, wie wichtig die Gebote sind. Dass Töten eine Sünde ist, habe ich nie ganz überwunden. Ich sage mir zwar immer wieder, dass ich gar nicht wichtig genug bin, damit Gott mich bestraft, aber ich glaube, tief in mir drin weiß ich, dass das alles meine Strafe ist. Und indem ich weitermache, büße ich für meine Fehler.«
»Eine ziemlich düstere Weltsicht, findest du nicht?«
»Mag sein. Vielleicht ist auch alles nur Bullshit und ich mache mich umsonst verrückt.«
»Du versuchst, das Richtige zu tun.« Keyes lächelte ihn aufmunternd an. »Und was mich angeht, bin ich froh, dass du hier und nicht abgehauen bist, als du die Gelegenheit dazu hattest. Und das meine ich nicht nur, weil du keinen blassen Schimmer hättest, wohin du gehen sollst.«
»Wenn wir wieder zurück in den USA sind – falls wir es schaffen – was passiert dann?«
Keyes schwieg.
»Keyes?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie tonlos. »Aber ich werde dafür sorgen, dass man berücksichtigt, wie sehr du mir geholfen hast. Wer weiß, vielleicht ist ja sogar eine Beraterposition für dich drin?«
Nick lachte. »Erzähl keinen Scheiß, Keyes. Es ist okay. Wenn ich in den Bau wandere, dann ist es eben so.«
Einen Moment lang sah sie aus, als wollte sie etwas erwidern, aber schließlich nickte sie ihm einfach nur zu, ehe sie mit ausdruckslosem Gesicht zum Garagentor sah. Auch Nick schwieg nun und blickte auf die Maschine und die Kisten voller Artefakte. Ja. Das hier war seine Strafe. Seine persönliche Hölle. Es fühlte sich gut an, sich das einzugestehen. Direkt und offen, nicht eingebettet in irgendwelche abstrakten Überlegungen. Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen und wurde bestraft. Es war nur gerecht.
Wohin ihn sein Weg noch führte, wusste er nicht, aber er würde es akzeptieren. Falls er es nicht nach Hause schaffte, war das okay. Wenn er in den Staaten inhaftiert wurde, war das ebenfalls in Ordnung. Und falls Keyes recht behalten und er weiter Teil dieser Sache bleiben musste, dann würde er auch das akzeptieren. Er hatte viel zu bereitwillig mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt.
Irgendwann – Nick konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war – kündigte schließlich ein tiefes Dröhnen die Ankunft eines Helikopters an. Er landete wenig später auf einer Freifläche, nicht weit von der Garage entfernt. Und während Keyes augenblicklich zum Hubschrauber rannte und den beiden schwer bewaffneten und pechschwarz uniformierten Soldaten wild gestikulierend bedeutete, dass die Maschine nach wie vor nicht zerstört wurde, trat Nick langsam aus der Garage hinaus und sah sich um. Falls sie auf dem Weg nach Hause nicht abgeschossen wurden, hatten sie es tatsächlich geschafft. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es jetzt erst richtig losging.
Kapitel 17
S ie hatten es geschafft. Irgendwie hatten sie es geschafft. Der Hubschrauber, obgleich er fast vier Stunden lang im Tiefflug über die von russischen Streitkräften besetzte Ukraine geflogen war, hatte sie in einem Stück zu einem türkischen Versorgungsschiff im Schwarzen Meer gebracht. Hier würden sie ein paar Stunden lang ausharren, bevor sie von einem amerikanischen Hubschrauber abgeholt wurden, der sie nach Istanbul bringen würde, von wo aus es weiter nach Ramstein, Deutschland, ging.
Regungslos saß Keyes in der Offiziersmesse des Schiffs, dessen Namen sie vermutlich selbst in 100 Jahren nicht richtig aussprechen konnte, und starrte auf die dampfende Tasse Kaffee, die sie seit nunmehr fast fünf Minuten mit beiden Händen umklammerte. Es roch köstlich, aber ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, genug Kraft zum Trinken aufzubringen.
Seit dem Beginn ihrer Mission in Polen hatte sie nicht mehr geschlafen; seit sie mit Walther auf dem Quad aufgebrochen war und sich mit lieber Not einen Weg durch die russischen Linien gesucht hatte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Und daran konnten auch die paar Stunden in der Hütte beim Dnjepr nichts ändern, wenngleich sie ohne diese unmöglich so lange durchgehalten hätte.
Viel hätte sie dafür gegeben, einfach die Augen schließen und ein paar Stunden schlafen zu können, aber es ging nicht. Selbst wenn sie sich hier und jetzt hingelegt und die Augen geschlossen hätte, wäre es ihr nicht gelungen. Der Punkt, an dem sie ihre Müdigkeit noch hätte kontrollieren können, lag längst hinter ihr. Jetzt empfand sie nur Erschöpfung.
Irgendwann wanderte ihr Blick schließlich zur Seite, zu Nick Hargraves, der zwei Stühle von ihr entfernt saß und seinen Kopf mit beiden Händen abstützte. Genau wie sie hatte er weder seinen Kaffee noch das Wasser oder die Mahlzeit angerührt, die ihnen die Besatzung des Schiffs zubereitet hatte. Auch ihm stand eine unbeschreibliche Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, aber anders als sie sah er aus, als würde er jeden Augenblick einschlafen.
Schließlich kratzte Keyes all ihre Kraft zusammen, nahm die Tasse hoch und führte sie an ihre Lippen, doch es gelang ihr nicht, zu trinken. Es ging einfach nicht. Ihr fehlte die Kraft – und mit einem Mal begann die Welt um sie herum, sich zu drehen. Ein intensives, alles übertönendes Dröhnen brandete in ihrem Kopf auf; ihre Sicht verschwamm. Sie stand auf. Keine bewusste Entscheidung, sondern vielmehr die instinktive Handlung des Tieres, auf das Müdigkeit und Erschöpfung sie reduziert hatten. Sie trat neben den Tisch und wollte sich hinlegen, aber bevor sie auch nur den Boden berührte, fielen ihr bereits die Augen zu. Es war ein tiefer, traumloser Schlaf; die völlige Ermattung ihres Körpers.
»Agent Keyes?« Plötzlich eine Stimme unmittelbar über ihr. Sofort riss sie die Augen auf, schnappte nach Luft und setzte sich auf, nur um sich dem sonnengebräunten Gesicht eines türkischen Offiziers gegenüberzusehen, der den mächtigsten Schnurrbart besaß, den sie je gesehen hatte. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Abermals schnappte sie nach Luft, rieb sich die Augen und kämpfte sich auf die Beine. Es gelang ihr kaum, sich aufrecht zu halten. Ihr war schummrig. »Ich muss weggenickt sein. Entschuldigen Sie.«
»Ihre Leute sind da.«
»Was?«
»Der Hubschrauber ist vor zwei Minuten gelandet und tankt gerade auf.«
»Aber …« Keyes kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. »Aber das ist doch erst in ein paar Stunden!«
»Du hast sechs Stunden lang geschlafen«, brummte Nick.
»Sechs?!«
»Jup.«
»Ich …« Keyes schluckte schwer und sah zu dem Offizier. »Danke. Wir kommen sofort.«
»Lassen Sie sich Zeit«, ertönte auf einmal eine Stimme hinter dem Offizier, die sie nicht zuordnen konnte. Ihr haftete ein unüberhörbarer texanischer Akzent an. »Der Hubschrauber braucht ein paar Minuten.«
Jetzt endlich trat ein Mann in ihr Sichtfeld und nickte dem Offizier zu, der daraufhin salutierte und die Messe verließ. Ein bulliger Glatzkopf mit Dreitagebart, olivgrünem Einsatzoutfit und einem rot-karierten Halstuch.
»Agent Keyes?« Er hielt ihr die Hand hin. »Mein Name ist Maxwell. Ich leite die CIA-Operationen im Schwarzmeer-Gebiet.«
Keyes schlug ein, sagte aber nichts. Maxwell sah ihr ein paar Sekunden lang in die Augen, trat dann zum Tisch und setzte sich. Sie tat es ihm gleich.
»Wir haben eine Situation.«
»Wir haben immer eine Situation«, erwiderte sie.
»Achten Sie auf Ihren Ton, Agent«, knurrte er, konnte sich ein amüsiertes Grinsen aber nicht ganz verkneifen. »Walther – was wissen Sie über ihn?«
»Sir?«
»Sie haben mich verstanden.«
»Nicht viel«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Ich habe ihn zum ersten Mal in Rumänien getroffen, als …«
Sie hielt inne.
»Darüber hat man mich informiert.« Maxwell nickte. »Weiter.«
»Er scheint ziemlich erfahren zu sein. Laut eigener Aussage über 30 Jahre im Außeneinsatz auf der ganzen Welt. Er versteht sich auf Geheimdienstarbeit und scheint über ein breites Netz an Kontakten zu verfügen, allerdings hätte ich ihn nicht als Geheimdienstler eingeschätzt. Eher als Kommandosoldat. Er ist gut. Sehr gut.«
»Sie haben sich ihm in Polen angeschlossen?«
»Das ist korrekt.«
»Ihre Spur verliert sich danach.« Maxwell nahm ihre Tasse und trank sie in wenigen Zügen komplett leer. »Aus Ihren Zwischenmeldungen konnten wir Ihren Weg einigermaßen rekonstruieren.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Beantworten Sie einfach meine Fragen, Keyes.«
»Sie haben mir keine gestellt.«
»Das ist richtig.« Wieder lächelte er. »Dann erzählen Sie, was passiert ist. Bitte.«
»Walther wollte mir helfen, die russischen Linien zu durchbrechen. Bei Tonkiele hat er eine Brücke gesprengt – dahinter bin ich auf einen russischen Konvoi gestoßen, der Artefakte aus polnischen Einrichtungen abtransportiert hat. Ich habe ihn infiltriert und bin so nach Babrujsk gekommen. Walther hat mich begleitet. Über Babrujsk habe ich das Op-Com ausführlich unterrichtet.«
»Eine Forschungseinrichtung, in der Experimente mit Artefakten an Menschen durchgeführt werden.«
»Exakt. Walther hat die Daten eines Computers überspielt. Zusätzlich haben wir Dr. Pavel Morosow gefangen genommen. Ihn habe ich damals in Rumänien getroffen und er scheint der Leiter der Einrichtung gewesen zu sein. Als unsere Evac abgeschossen wurde, ist er gestorben. Das war auch der Zeitpunkt, an dem Walther verschwunden ist. Seither schlage ich mich mit Hargraves durch.«
»Die Festplatte, die Walther der deutschen Botschaft in Moldawien übergeben hat, ist leer.«
»Was?!«
»Die Festplatte ist leer. Walther hat dem Personal vor Ort die gleiche Geschichte erzählt, die Festplatte übergeben und ist verschwunden.«
Keyes hielt einen Moment lang inne und schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«
»Ach? Das müssen Sie mir erklären.«
»Walther war in die Kommandostrukturen der NATO eingebunden – die Infiltration der russischen Linien war mit dem polnischen Generalstab und dem deutschen Einsatzkommando abgesprochen. Er konnte nicht wissen, was passieren würde und … Verdammt, bei Babrujsk hat er sogar das Feuer auf sich gezogen, damit ich die Anlage betreten konnte! Seither hatte er wieder und wieder die Möglichkeit, mich zurückzulassen oder zu erledigen! Warum sollte er sich das alles antun, nur um eine leere Festplatte zu übergeben und sich abzusetzen?«
»Das ist die Frage, von der ich mir erhofft habe, dass Sie sie beantworten könnten«, gab Maxwell kühl zurück.
»Sir, wenn Sie andeuten wollen, dass ich …«
»Ich deute gar nichts an, Agent Keyes.«
»Maxwell«, warf Hargraves plötzlich ein, noch bevor Keyes etwas erwidern konnte, und kämpfte sich leise ächzend auf die Beine, ehe er sich ihm gegenüber an den Tisch setzte und nach vorne beugte. »Ich bin Nick Hargraves. Keyes weiß, wer ich bin, daher wissen Sie es vermutlich ebenfalls. Seit sie mich aus der Forschungsanlage bei Babrujsk befreit hat, habe ich sie die ganze Zeit begleitet. Sie hat durchgehend versucht, ihre Mission bestmöglich zu erfüllen, selbst dann, als wir uns verfickt noch mal zu Fuß durch die Sperrzone von Tschernobyl kämpfen mussten, um den Hubschrauber zu erreichen. Sie war ehrlich davon überzeugt, dass Walther die Informationen auf der Festplatte weiterleiten würde. Und ich bin zwar kein Agent, aber Walther hat zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gemacht, als hätte er Hintergedanken. Was, wenn sich die Daten von selbst gelöscht haben? Eine Sicherheitsmaßnahme?«
»Das ist vorerst nicht von Belang.«
»Ach?«
»Mr. Hargraves, Sie sind in keiner Position, einen solchen Ton anzuschlagen«, knurrte Maxwell. Einen Moment lang sah er aus, als wollte er nachlegen und ihm eine Drohung an den Kopf werfen, aber stattdessen lehnte er sich einfach nur zurück, holte tief Luft und seufzte. »Ich kann zwar nicht für die Agency sprechen, aber ich glaube Ihnen. Leider ändert das nichts an der faktischen Lage. Walther ist verschwunden und selbst wenn die Festplatte kein Täuschungsmanöver ist, fehlen uns wichtige und womöglich kriegsentscheidende Daten. Wir …«
»Sie haben uns«, unterbrach ihn Keyes. »Hargraves und ich besitzen zwar keine empirischen Daten, aber wir haben genug gesehen und uns mit Morosow unterhalten. Ganz davon abgesehen, dass wir das hier haben.«
Sie griff in ihre Tasche, zog die drei Festplatten hervor und legte sie auf den Tisch.
»Die sind aus der Ukraine.«
»Die Maschine bei Hontschariwske?«
»Ganz genau.« Sie nickte. »Keine Experimente an Menschen, aber trotzdem …«
»Schlimm«, vervollständigte Hargraves ihren Satz. »Trotzdem schlimm. Wir sind auf eine Gruppe russischer Deserteure gestoßen und …«
»Agent Keyes hat davon berichtet.« Maxwell nahm die drei Festplatten an sich. »Immerhin. Ein Etappensieg ist besser als gar nichts – und wenn diese Daten nicht den Russen in die Hände fallen, ist es umso besser. Gut. Bringen wir Sie beide zurück in die Staaten.«
»Maxwell.« Keyes sah ihn mit durchdringendem Blick an. »Da wäre noch eine Sache.«
»Ja?«
»Hargraves.«
»Was ist mit ihm?«
»Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. Er ist bei mir geblieben, obwohl er hätte fliehen können, und hat mich unterstützt, wo er nur konnte. Bei Hontschariwske hat er sogar zwei bewaffnete russische Soldaten angegriffen, als es zum Handgemenge kam. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die offiziellen Kommunikationskanäle beschleunigen und ein Dossier an die Agency schicken könnten.«
»Es ist nicht unsere Aufgabe, über Strafverfolgung zu entscheiden, Agent.«
»Das nicht. Aber als ehemaliger Prospektor besitzt er eine immense Erfahrung beim Aufspüren von Artefakten – und er hat aus erster Hand erlebt, was bei Babrujsk geschehen ist. Wir könnten jemanden wie ihn gebrauchen, vor allem angesichts der aktuellen Umstände. Als Berater oder freier Mitarbeiter.«
»Ich sehe, was ich tun kann.« Maxwell schnaubte leise. »Kommen Sie jetzt.«
Mit einer zackigen Handbewegung bedeutete er ihnen, aufzustehen und ihm zu folgen. Wenig später huschte Keyes bereits geduckt hinter ihm über den Hubschrauberlandeplatz des Schiffs und stieg mit Hargraves in die wartende Maschine. Obwohl der ehemalige Prospektor kein Wort sagte, genügte ein einziger Blick, um ihr klarzumachen, wie dankbar er ihr war. Vielleicht nicht unbedingt dafür, dass sie ihn vor dem Gefängnis bewahren wollte, sondern vielmehr dafür, dass sie ihm überhaupt eine solche Chance ermöglichte.
Während der Hubschrauber abhob, rasch an Höhe gewann und schließlich in Richtung der langsam untergehenden Sonne flog, lehnte sich Keyes zurück und schloss die Augen. An Schlaf war nicht mehr zu denken, aber das war in Ordnung. Es gab sowieso viel zu vieles, über das sie nachdenken musste; viel zu vieles, das ihr keine Ruhe ließ. Es waren nicht einmal Walther oder die leere Festplatte, die ihr Kopfzerbrechen bereiteten – denn zumindest sein Verschwinden passte perfekt zu dem Eindruck, den sie ohnehin von ihm hatte – sondern vielmehr die unausgesprochenen Unterstellungen, die Maxwell ihr gemacht hatte. Daran änderte selbst sein Zurückrudern nichts.
Tagelang hatte sie sich hinter den feindlichen Linien durchs tiefste Hinterland gekämpft, hatte einen Konvoi infiltriert und eine Forschungsanlage. Sie hatte zwei amerikanische Gefangene befreit, sich durch die Sperrzone um Tschernobyl gekämpft, einen Hubschrauberabsturz überlebt und trotzdem weitergemacht. Sie hatte gegen alle Wahrscheinlichkeiten angekämpft und gesiegt; verdammt, sogar nach dem Verlust von Morosow und dem Verschwinden von Walther hatte sie drei Festplatten geborgen. Und jetzt das?
Maxwell hatte es treffend ausgedrückt: Er mochte ihnen glauben, aber er konnte nicht für die Agency sprechen. Und genau das bereitete ihr mehr Sorgen, als sie sich eingestehen wollte. Wenn irgendwelche Analysten in der Agency zum Schluss kamen, dass sie in solche Vorgänge verstrickt war, dann bedeutete das mindestens das Ende ihrer Karriere und viel wahrscheinlicher noch, dass man sie verhaften und verhören würde. Dabei war es vollkommen unerheblich, was sie tatsächlich getan hatte oder wusste. Das Geschäft der Geheimdienste drehte sich leider nur zu einem relativ geringen Prozentsatz um Fakten und Tatsachen. Der überwiegende Großteil der Arbeit wurde bestimmt von Mutmaßungen, Verdächtigungen und Spekulationen. Und wer einmal zwischen die Zahnräder dieser Maschinerie geriet, kam vielleicht niemals wieder raus.
*****
Die nächsten Stunden – oder waren es Tage? – verschwammen zu einem farb- und formlosen Wirbel aus immer neuen Anstrengungen, Erschöpfung und Müdigkeit. Die völlige Unmöglichkeit, auch nur ein paar Stunden am Stück Ruhe zu finden und zu schlafen, zehrte an Keyes. Die kurze Zeit, die sie an Bord des türkischen Versorgungsschiffs geschlafen hatte, genügte kaum, um die Strapazen der letzten Tage wettzumachen. Auf den Beinen gehalten einzig von ihrer Disziplin und der Alternativlosigkeit dessen, was sie zu tun hatte, schleppte sie sich irgendwann vom Hubschrauber in einen Geländewagen des Militärs, an Bord eines Flugzeugs, abermals hinaus und schließlich an Bord der Maschine, die sie zurück in die Staaten brachte.
Das war der Zeitpunkt, an dem sie endgültig nicht mehr konnte. Kaum hatte sie die Gurte ihres Sitzes um sich geschlossen, fühlte sie sich, als würde sie in einen tiefen Abgrund aus totaler Ermattung und absoluter Kraftlosigkeit stürzen. Ihre Augen fielen zu und viel zu bereitwillig gab sie sich der süßen Versuchung des Schlafs hin. Sie wachte erst wieder auf, als ein heftiger Ruck durch das Flugzeug zuckte. Sie waren gelandet.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich die Laderampe des fensterlosen Militärtransporters öffnete, und kaum berührte sie das Rollfeld, stürmten auch schon zwei Dutzend Soldaten in voller Ausrüstung an Bord. Bevor Keyes auch nur wusste, wie ihr geschah, zerrten sie sie bereits aus ihrem Sitz, fesselten ihre Hände auf dem Rücken und zogen sie nach draußen, wo bereits ein Militärlaster mit laufendem Motor wartete.
Ihr blieben nur Sekunden, um sich umzusehen, aber selbst diese wenigen Augenblicke reichten vollkommen aus, um zu verstehen, wo sie sich befand: Das Flugzeug war nicht etwa auf irgendeiner Basis der Air Force gelandet, sondern auf einem provisorisch in den Wüstenboden planierten Rollfeld auf der Schriever Space Force Base. Von hier aus konnte sie sogar ihr Büro sehen.
»Agent Keyes«, begrüßte sie eine vertraute Stimme, kaum hatten sie die Soldaten auf die Ladefläche des Lasters gehievt. Colonel Roberts saß, von zwei weiteren Soldaten flankiert, auf einer Bank und sah ihr mit ernstem Gesichtsausdruck entgegen. »Willkommen zurück.«
»Colonel?«, fragte sie und starrte ihn an. »Was zum Teufel ist hier los? Bin ich verhaftet?«
»Nein.«
»Warum dann diese Behandlung?«
»Zeit ist ein Faktor.« Er zog eine kleine, vollkommen schwarze Schlüsselkarte aus einer Tasche, beugte sich zu ihr und verstaute sie in einer Seitentasche ihrer Hose. Das war dieselbe Schlüsselkarte, die dem Einsatzbefehl der Taskforce beigelegen hatte. »Die werden Sie brauchen. Sie haben sie in Ihrem Büro gelassen, bevor Sie nach Europa aufgebrochen sind.«
»Ich verstehe nicht, was hier passiert.«
»Sie werden gleich verstehen. Hatten Sie einen guten Flug?«
»Er wäre besser gewesen, hätte man mich gerade eben nicht gefesselt.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Warum befehlen Sie Ihren Leuten dann nicht …«
»Eine Vorsichtsmaßnahme.«
»Eine Vorsichtsmaßnahme?!«, wiederholte Keyes. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, ihn anzuschreien. »Colonel, ich …«
»Agent Keyes«, sagte er mit kühler Stimme und einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ. »Sie werden das akzeptieren und verstehen.«
Sie atmete tief durch und zwang sich, ihm zuzunicken. »In Ordnung. Was passiert mit Hargraves? Wo ist er?«
»In einem sicheren Areal der Basis.«
»Sicher?«
»Sie haben mich verstanden.«
Keyes blinzelte. »Moment – Sie halten uns für eine Bedrohung, oder?«
Der Colonel schwieg, aber er musste auch gar nichts mehr sagen. Sie hatte längst verstanden, was los war und was das alles zu bedeuten hatte: Man hielt sie und Hargraves tatsächlich für Bedrohungen, jedoch nicht wegen der Verdächtigungen, die Maxwell geäußert hatte, sondern wegen etwas ganz anderem. Etwas, das nicht mit dem Krieg zwischen der NATO und Russland zu tun hatte. Die Artefakte. Wegen dem, was in Tschernobyl mit Deer passiert war.
Mit ungläubig offen stehendem Mund starrte Keyes den Colonel an und bewegte immer wieder die Lippen beim Versuch, etwas zu sagen und ihm zu erklären, auf wie viele Weisen das Unsinn war, aber es gelang ihr nicht, auch nur einen Ton hervorzubringen. Wie zum Teufel konnte er das nur glauben? Was um alles in der Welt war geschehen, um eine solche Behandlung zu rechtfertigen? Sie hatte ihr gottverdammtes Leben riskiert, nur um erst des Verrats verdächtigt und nun wie ein verfluchtes Tier gefesselt zu werden! Das konnte, durfte, doch nicht wahr sein!
Roberts erwiderte ihren Blick und schien genau zu verstehen, wie entsetzt und empört sie war, aber er sagte kein Wort. Er saß einfach nur da und sah sie an, flankiert von seinen beiden Gorillas. Mit einem Mal wurde Keyes schlecht. Ihn anzusehen, in seiner sauberen und penibel gebügelten Uniform, während sie hier saß in verschwitzten, dreck- und blutdurchtränkten Kleidern, die sie seit Tagen nicht gewechselt hatte, erzeugte einen unvorstellbaren Ekel in ihr. Eine Abscheu.
»Warum sind Sie hier, wenn ich eine Gefahr darstelle?«, fauchte sie schließlich. »Wollen Sie mich aus nächster Nähe begaffen wie ein Kind ein Tier im Zoo?«
»Hüten Sie Ihre Zunge, Keyes, oder …«
»Oder was?!«, brüllte sie und sprang auf, nur um sofort von den beiden Soldaten wieder zu Boden gerissen zu werden. »Oder was, verdammt?! Sie und Ihre gottverdammten Lackaffen vom Militär! Sie haben keinerlei Befehlsgewalt über mich! Ich bin Agentin der CIA! Ich komme gerade aus einem Kriegsgebiet! Waren Sie jemals im Feldeinsatz? Wissen Sie überhaupt, wie es ist, wenn man Angst um das eigene Leben hat? Sie haben kein Recht, mich so zu behandeln!«
»Vier Jahre Irak, drei Jahre Afghanistan«, erwiderte der Colonel trocken und nickte seinen Soldaten zu, die sie daraufhin augenblicklich losließen. »Und ich bin hier, um Ihnen zu zeigen, dass wir Sie keinesfalls aufgegeben haben. Es erschien mir nicht richtig, sie gefesselt wegzerren zu lassen. Ich kann das Protokoll zwar nicht brechen, aber zumindest versuchen, einen Rest Würde zu bewahren.«
Der Lastwagen hielt an.
»Und ich denke, Sie werden gleich verstehen, warum das nötig ist.« Er stand auf, trat an ihr vorbei und sprang von der Ladefläche. »Kommen Sie.«
Keyes biss die Zähne zusammen, warf den beiden Soldaten einen vernichtenden Blick zu und sprang ebenfalls nach draußen. Dabei verlor sie zwar fast das Gleichgewicht, aber lieber landete sie mit dem Gesicht voraus im Dreck, als sich von diesen beiden Soldaten herumschleppen zu lassen.
Vor ihr erhob sich ein geradezu riesiger Komplex aus mehreren Zelthallen, die über breite Gänge miteinander verbunden waren. Umfangreiche Be- und Entlüftungsanlagen, Filter, Schleusen und andere Module ließen die Anlage so bedrohlich wie fremdartig wirken. Keyes schluckte schwer. Als sie zu ihrem Einsatz aufgebrochen war, hatte sich dieser Komplex noch nicht hier befunden. Rings um sich herum erkannte sie dutzende Soldaten in Überdruck-Schutzanzügen, und das wenige Personal, das keinen entsprechenden Schutz trug, war zumindest mit Gasmasken und Handschuhen ausgestattet. Auch ihr wurde nun eine Gasmaske übergezogen.
Der Colonel – ebenfalls geschützt – nickte ihr nun zu und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Er führte sie durch gleich drei hintereinanderliegende Schleusen, von denen die erste mit umfangreichen Sensoren und Messgeräten ausgestattet war, während in der zweiten ein feiner Nebel, vermutlich Desinfektionsmittel, auf sie niederging, und ihnen in der dritten ein bläuliches Pulver entgegenblies, das die ungeschützten Stellen ihrer Haut kribbeln ließ.
Nachdem sie die Prozedur hinter sich gebracht hatte, folgte Keyes dem Colonel tiefer in die Zelthalle hinein. Überall konnte sie unzählige Maschinen, Apparate und Geräte erkennen, von denen die allermeisten in Plastik eingeschweißt waren. Das Personal trug ausnahmslos Überdruckschutzanzüge und selbst die Waffen der Wachen schienen von Plastik geschützt zu sein. Was auch immer hier geschah, es war ernst.
Schließlich erreichten sie einen durch ein Stahlgitter verstärkten Käfig aus Plexiglas, der sie gnadenlos an das erinnerte, was sie in der Anlage bei Babrujsk gesehen hatte. Allerdings wurden die Gedanken daran innerhalb eines einzigen Augenblicks von dem verdrängt, was sie im Inneren des Käfigs auf einer Art Operationstisch erblickte.
Dort lag, von dicken Lederbändern gefesselt, ein … Wesen, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Es besaß eine Art langen, ovalen Hinterleib von gut zwei Metern Länge, dem einer Spinne nicht unähnlich, mit einer intensiv blauen Färbung, die von feinen, anthrazitfarbenen Mustern durchzogen wurde und im Licht der grellweißen Lampen intensiv schimmerte. Mehr als ein Dutzend mächtige, aber seltsam unförmige und geradezu verkrüppelt aussehende Beinpaare wuchsen aus der Stelle, an der der Hinterleib in den vorderen Teil des Körpers überging. Eines der Beine – das einzige, das nicht komplett unförmig aussah – endete in drei mächtigen, etwa fingerlangen Klauen.
Der Vorderleib, falls dieses Wesen denn einen besaß, war fast nicht zu erkennen. Eine blutige, kaum zusammenhängende Masse, aus der an manchen Stellen Knochen und andere Glieder und Organe ragten, die Keyes mit der den ihr zur Verfügung stehenden Worten kaum beschreiben konnte. Was auch immer mit dieser Kreatur geschehen war, es schien sie massiv verletzt zu haben.
»Das ist Anne Bloom«, sagte Colonel Roberts.
»Was?«
»Das ist Anne Bloom«, wiederholte er tonlos und sah die Kreatur ein paar Sekunden lang an, ehe er den Blick kopfschüttelnd abwendete. »Etwa zehn Stunden, nachdem Sie zu Ihrer Mission aufgebrochen sind, begann ihre – in Ermangelung eines besseren Wortes – Metamorphose. Es fing mit Halluzinationen an. Sie klagte über Kopfschmerzen, verfiel dann innerhalb kürzester Zeit erst in eine Art Psychose und schließlich in einen katatonischen Zustand. Körperliche Veränderungen waren zu dem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich.«
»Und …« Keyes schluckte schwer und versuchte mit aller Kraft, sich zur Beherrschung zu zwingen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Kehle wurde mit einem Mal staubtrocken. »Und …«
»Als unsere Sanitäter mit der Behandlung begonnen haben, haben sie erste Veränderungen festgestellt«, fuhr Roberts fort. »Verformungen im Abdominalbereich, Hautverfärbungen, Blutungen. Der gesamte Prozess dauerte etwa zwei Stunden, bis ihr Körper schließlich kollabiert ist. Wir stehen mit den Untersuchungen noch ganz am Anfang, aber Stand jetzt gehen wir davon aus, dass die Metamorphose hätte vollendet werden können, wäre sie nicht katatonisch geworden.«
»Wie meinen Sie das?«
»Bloom war durch die Katatonie nicht in der Lage, genügend Nährstoffe zuzuführen. Das hat zum Kollaps des Organismus geführt.«
»Nur Frauen«, entfuhr es Keyes.
»Was haben Sie gesagt?«
»Nur Frauen«, wiederholte sie und räusperte sich. »Colonel, wurden Sie bereits über die Ergebnisse meiner Mission informiert?«
»Das wurde ich.«
»Gut. Dr. Morosow, den wir bei Babrujsk gefangen genommen haben, hat angedeutet, dass diese Reaktion auf die Artefakte primär bei Frauen auftreten könnte. Die männlichen Probanden seiner Versuche sind allesamt verstorben, auch wenn er eine Zunahme des Zeitintervalls zwischen Kontakt und Tod festgestellt hat. Er hat Jennifer Deer, die Hehlerin, über Minuten hinweg einem Artefakt unmittelbar ausgesetzt – und als wir in Tschernobyl auf die Evakuierung gewartet haben, hat sie ebenfalls einen solchen Prozess durchgemacht. Walther hat sie erschossen, bevor es so weit kommen konnte. Allerdings haben wir radioaktive Strahlung als Auslöser vermutet.«
»Sie denken, es ist eine – verzeihen Sie den Ausdruck – Fortpflanzungskomponente im Spiel?«, fragte Roberts zögerlich.
»Es ist ein naheliegender Schluss.« Keyes schluckte schwer. »Colonel, ich bin keine Wissenschaftlerin, aber was ich in den letzten Tagen gesehen und gehört habe, deutet darauf hin. Diese Artefakte lösen möglicherweise einen Prozess im menschlichen Körper aus, der für uns in dieser Form nicht nachvollziehbar ist.«
»Das erklärt aber nicht, warum Menschen beim Kontakt sterben.«
»Doch«, erwiderte sie. »Doch, das tut es. Morosow konnte nachweisen, dass die Artefakte immer länger benötigen, um einen Menschen zu töten. Gleichzeitig konnte er ein Signal im Rückenmark und Gehirn nachweisen. In der Regel führt das zum Tod. Was also, wenn diese Artefakte uns scannen und versuchen, sich uns anzupassen? Wenn wir auf eine Art genetische Tauglichkeit hin untersucht werden?«
»Wenn diese Vermutung stimmt, sehen wir uns einer globalen Katastrophe gegenüber.« Roberts erbleichte. Er hatte sichtlich Mühe, seine Gesichtszüge nicht entgleiten zu lassen. »Unseren Hochrechnungen zufolge sind auf dem gesamten Planeten bislang mehrere tausend Artefakte aufgetaucht – und es werden immer mehr. Selbst dort, wo bereits welche gefunden worden sind und umfangreiche Untersuchungen des Geländes stattgefunden haben, tauchen neue auf. Wir haben keine Kapazitäten, sie alle zu finden. Ich muss meine Vorgesetzten informieren.«
Er drehte sich zum Gehen um.
»Colonel?«
»Was ist, Agent?«
»Was ist mit mir?«
Einen Moment lang starrte er sie verständnislos an, bevor er schließlich zu verstehen schien, was ihr Anliegen war. »Hatten Sie in den letzten Tagen direkten Kontakt mit Artefakten?«
»Negativ. Ich habe mich zwar immer wieder in ihrer Nähe aufgehalten, aber keines berührt. Dasselbe gilt, soweit ich sagen kann, für Hargraves.«
»Ich kenne Hargraves nicht und vertraue ihm daher nicht«, erwiderte er. »Er bleibt vorerst unter Beobachtung. Was Sie angeht – ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber ich muss Sie bitten, so schnell wie möglich einen vollständigen Bericht zu verfassen, inklusive aller möglichen Erklärungen für das, was Sie erlebt haben.«
Er löste ihre Fesseln.
»Haben Sie mich verstanden, Agent Keyes?«
»Das habe ich, Colonel.« Sie nickte und rieb sich die Handgelenke. »Ich werde mich sofort darum kümmern. Aber ich habe eine Bedingung.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Eine Bedingung?«
»Ja, eine Bedingung. Ich will, dass mir Nick Hargraves offiziell als Berater zur Seite gestellt wird. Er hat viel erlebt und besitzt eine natürliche Intuition für die Artefakte. Unter den derzeitigen Umständen können wir es uns nicht leisten, jemanden wie ihn ins Gefängnis zu werfen.«
Roberts seufzte. »Ich sehe, was ich tun kann. Falls Ihrer Bedingung stattgegeben wird, lasse ich ihn nach Ende seiner Beobachtung sofort zu Ihnen bringen.«
Mit diesen Worten marschierte er endgültig davon. Keyes setzte schon an, ihm zu folgen und die drei Schleusen so schnell wie möglich zu passieren, hielt dann jedoch inne und sah abermals zu der Kreatur hinter der verstärkten Plexiglasscheibe. Die Vorstellung, dass dieses Wesen ein Mensch gewesen sein sollte, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken, und der Umstand, dass sie sich mit Anne Bloom unterhalten und gesehen hatte, wie verstört sie wegen der Ereignisse gewesen war, machte es nur noch schlimmer.
Ob sie gewusst hatte, was geschehen war? Ob sie es mitbekommen hatte? Oder war von ihrem Verstand nach der Psychose und der Katatonie womöglich nicht mehr genug übrig geblieben, um das zu ermöglichen? Keyes wusste es nicht, aber sie hoffte von ganzem Herzen, dass Bloom diese Metamorphose nicht bewusst hatte durchleben müssen.
Mittlerweile gab es keinen Zweifel mehr an den Absichten der Außerirdischen. Was auch immer letzten Endes ihr Ziel war – ihre Mittel, es zu erreichen, ignorierten jedwedes menschliche Leben. Nein. Mehr noch. Sie ignorierten es nicht nur und nahmen in Kauf, dass Unzählige ihretwegen starben; sie gingen sogar einen Schritt weiter und begriffen die Menschheit als bloße Ressource. Als etwas, das es zu nutzen galt. Für sie waren die Menschen nichts weiter als Biomasse, die zu ihren Zwecken umgeformt werden konnte. Es ging hier nicht um Vernichtung, sondern um Verwertung. Und genau dieses Wissen empfand Keyes als schrecklicher als alles andere.
Kapitel 18
N ick schnaubte und sah auf seine mit einem Kabelbinder gefesselten Hände. Mit vielem hatte er gerechnet. Dass man ihn in einem CIA-Geheimgefängnis verschwinden ließ, an das FBI überstellte oder unter falschem Namen in einem Irrenhaus unterbrachte, damit ihm niemand glaubte, sollte er sich jemals entschließen, zu erzählen, was er gesehen und erlebt hatte. Verdammt, wenn er ehrlich war, dann hätte es ihn noch nicht einmal gewundert, hätte man ihn zur Seite genommen und ihm ohne Umschweife eine Kugel in den Kopf gejagt.
Aber das?
Er schnaubte erneut und schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich! Seit Stunden saß er in diesem verfluchten Zelt; in einem durchsichtigen Plastikwürfel von zwei Metern Kantenlänge, in dem es außer einem Stuhl und einer Belüftungsanlage buchstäblich nichts gab. Vor seinem Gefängnis, wenn man es denn überhaupt als solches bezeichnen wollte, standen zwei Soldaten in voller Montur und mit grimmigem Gesichtsausdruck. Die Art von menschlichen Bulldoggen, die man normalerweise als Drill Sergeant in irgendwelchen Werbespots der Army sah. Beinahe war er versucht, vor ihnen die Hose runterzulassen und sich zu erleichtern, einfach nur, um zu sehen, ob sie das Gesicht verziehen würden.
Aber er tat es nicht. Stattdessen saß er einfach nur da und starrte an den beiden vorbei auf nichts und wieder nichts. Links und rechts seiner ›Zelle‹ befanden sich jeweils zwei weitere Plastikwürfel, die jedoch nicht in Benutzung zu sein schienen, da sie anders als der seine größtenteils in sich zusammengefallen waren. Dahinter wiederum befand sich die Hülle des größeren Zelts. Womöglich gab es draußen noch ein drittes, wiederum bedeutend größeres Zelt, einfach nur um des Spaßes willen?
Was genau hier vor sich ging oder was man mit dieser Haft erreichen wollte, konnte sich Nick nicht erklären. Nachdem sie gelandet waren und eine Horde Soldaten Keyes aus dem Flugzeug gezerrt hatte, war er ebenfalls von einer Meute gefesselt und hierhergebracht worden. Keine Worte, keine Erklärungen, kein gar nichts.
Natürlich war ihm bewusst, dass sein Aufenthalt in diesem Plastikwürfel in irgendeinem Zusammenhang mit seinen Erlebnissen in Osteuropa stehen musste. Mit welchen genau, konnte er allerdings nicht sagen. Vermutlich galt er in irgendeiner Form als kontaminiert und befand sich deshalb in Quarantäne. Wegen seines Aufenthalts in Tschernobyl womöglich? Vielleicht hatte es im Flugzeug irgendwelche Apparate gegeben, die erkannt hatten, wie verstrahlt er war?
»Hey«, sagte er schließlich und sah einen der Soldaten an. »Kann ich hier was zu trinken kriegen?«
Der Soldat antwortete nicht.
»Hallo?«
Keine Reaktion.
»Ist das dein Ernst?« Nick stand auf und trat an die Plastikplane seines Würfels. Jetzt endlich meinte er, eine Art Regung bei ihm zu erkennen; ein kurzes Zucken. Ob er sein Gewehr heben wollte? »Stellen sie bei der Army nur noch Taube ein?«
Nichts.
»Na dann.« Er ließ die Schultern gespielt hängen. »Du weißt schon, dass ich buchstäblich aus diesem Würfel rauslaufen könnte?«
»Sir, wir haben Schießbefehl.« Jetzt endlich reagierte einer der beiden, wenngleich nicht der, der ihm gegenüberstand. »Bitte treten Sie zurück.«
»Anders als die Affen draußen beim Flieger habt ihr aber keine Gasmasken«, grinste Nick. »Buh-huh! Ich bin gefährlich!«
»Sir, treten Sie auf der Stelle zurück.«
»Oder was?«
»Oder wir schießen!«
»Wenn das Plastik reißt, seid ihr genauso kontaminiert wie ich!«
»Treten Sie zurück!«
»Einen Bullshit werde ich tun!« Nick wollte die Arme ausbreiten, aber es gelang ihm nicht. Verdammter Kabelbinder. »Das ist mein Plastikwürfel und ich bin mir sicher, irgendein Verfassungszusatz gibt mir die volle Kontrolle über diesen Plastikwürfel! Also – kann ich jetzt endlich etwas zu trinken haben?!«
Der Soldat antwortete nicht. Nick setzte schon an, ihn weiter zu provozieren, als auf einmal schnelle Schritte zu ihm hallten. Die beiden Wachen traten augenblicklich zur Seite und salutierten. Nur Sekunden später erschien auch schon ein Mann in Uniform, aber ohne Waffe, bei der Schleuse zum Zelt. Seinem Rangabzeichen zufolge ein Captain.
»Ich wusste nicht, dass sie einen Offizier schicken, um …«, setzte Nick an, hielt dann jedoch inne. Der Blick des Captains allein genügte, um ihm das Lachen im Hals abzuschnüren.
»Mr. Hargraves.« Der Offizier stellte sich unmittelbar vor seinen Würfel und verschränkte die Hände auf den Rücken. »Agent Veronica Keyes erbittet Ihre Anwesenheit.«
»Ich nehme an, dass ich dieser Bitte Folge zu leisten habe?«
»Das ist korrekt.«
»Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht mehr ansteckend bin? Oder weswegen auch immer man mich in diesen Würfel gesteckt hat?«
»Wir sind uns sehr sicher.« Der Captain nickte den beiden Soldaten zu, die daraufhin begannen, den versiegelten Reißverschluss seines Gefängnisses zu öffnen, und anschließend sogar den Kabelbinder um seine Hände durchschnitten. »Mr. Hargraves, dies ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit und diese Anlage steht unter DEFCON 1 . Jeder Fluchtversuch und jeder Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften kann mit sofortigem Schusswaffeneinsatz beantwortet werden.«
»Ich verstehe.«
»Gut.« Der Offizier nickte. »Dann folgen Sie mir.«
Nick zögerte einen winzigen Augenblick lang, war sich aber selbst nicht sicher, wieso, bevor er schließlich den Plastikwürfel verließ, an den beiden Soldaten vorbeiging und dem Captain durch die Schleuse folgte. Vorhin, als man ihn hergebracht hatte, war er dermaßen überrumpelt gewesen, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wo er sich überhaupt befand. Damit meinte er nicht nur sein temporäres Gefängnis, sondern die gesamte Basis. Er hatte bloß jede Menge Wüste gesehen.
Nachdem sie die Schleuse passiert hatten, führte ihn der Offizier mit schnellen Schritten über eine große, offene Fläche in Richtung einiger Gebäude. Zu seiner Linken erkannte Nick einen gewaltigen Komplex aus mehreren Zelthallen, der von dutzenden Soldaten in massiven Schutzanzügen umschwirrt wurde. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass acht von ihnen gerade eine verhältnismäßig große Trage in Richtung eines mit einem wuchtigen Aufbau versehenen Lastwagens schleppten. Was genau sich auf der Trage befand, konnte er nicht erkennen, da sie von einer dicken gelben Plane überspannt war, allerdings schien das, was sich darauf befand, gefährlich zu sein. Fast ein Dutzend Soldaten besprühten jeden Zentimeter der Umgebung mit etwas, das selbst aus der Entfernung massiv nach Chlor stank.
»Was ist das?«, fragte er und deutete in Richtung der Soldaten.
»Nicht Ihre Angelegenheit.«
»Natürlich nicht.«
»Mr. Hargraves.« Plötzlich blieb der Captain stehen und warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Diese Basis und das, was hier geschieht, ist für die Sicherheit der Vereinigten Staaten essentiell. Falls Sie es vergessen haben: Wir befinden uns im Krieg. Nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen eine Bedrohung aus dem All. Was Sie hier sehen, hören und lesen, wird dieses Gelände niemals verlassen. Haben Sie das verstanden?«
Nick holte tief Luft. »Ja. Ja, das habe ich.«
»Gut. Folgen Sie mir.«
Wenige Minuten und eine gute Handvoll Sicherheitskontrollen später fand sich Nick in den oberen Stockwerken eines weitläufigen, verwinkelten Gebäudes wieder. Und obwohl er die meiste Zeit über Schwierigkeiten hatte, mit dem Marschtempo des Captains Schritt zu halten, gelang es ihm, ein paar Blicke in abgedunkelte Besprechungsräume und Zimmer voller eindrucksvoll aussehender Computer und riesiger Bildschirme zu werfen. Zwar hatte er nach wie vor keinen blassen Schimmer, wo zum Teufel er sich hier befand, aber diese Basis schien gewaltig zu sein – und anscheinend auch verflucht wichtig.
Schließlich blieb der Captain bei einer geschlossenen Bürotür aus Milchglas stehen, klopfte an und öffnete sie, ehe er ihm bedeutete, einzutreten. Hinter einem Schreibtisch voller Dokumente und vertieft in ihre Arbeit erblickte er Keyes.
»Agent Keyes«, sagte der Captain mit fester Stimme. »Nick Hargraves.«
»Vielen Dank, Captain«, antwortete Keyes, ohne aufzusehen.
Noch während der Offizier das Zimmer verließ, trat Nick näher und setzte sich auf einen von zwei Stühlen vor Keyes’ Schreibtisch. Die Agentin sah noch immer nicht auf und schien ihn nicht einmal zu bemerken. Stattdessen tippte sie mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihrer Tastatur. Ob sie überhaupt mitbekommen hatte, dass er hier war? Oder hatte sie dem Captain einfach nur instinktiv geantwortet?
»Hargraves«, murmelte sie auf einmal, hielt den Blick aber weiterhin auf ihren Bildschirm gerichtet. »Wir haben ein riesiges Problem.«
»Das dachte ich mir schon«, antwortete er. »Was ist los?«
»Die Frau, die dich bei der Teton Range im Auftrag von Deer abgefangen hat – Anne Bloom – sie liegt in dem Quarantänezelt vor dem Gebäude. Oder besser gesagt: das, was von ihr übrig ist.«
Nick schnappte unwillkürlich nach Luft, als eine Ladung Adrenalin durch seine Adern pulsierte.
»Wie meinst du das?«, presste er schließlich hervor.
»Sie hat sich verwandelt.«
»Verwandelt?«
»Jup. Ein ähnlicher Vorgang wie bei Deer – nur vollständiger, um es so zu formulieren. Es sah wirklich schlimm aus. Sie ist gestorben, bevor der Prozess abgeschlossen werden konnte. Man vermutet einen Kollaps des Organismus, ausgelöst durch Nähstoffmangel. Sie hat sich quasi selbst verbraucht.«
»Und wie?« Nick schluckte schwer. »Wie hat sie sich verwandelt? Wie sah sie aus?«
»Das tut nichts zur Sache.« Jetzt endlich sah sie auf. »Ich fürchte ohnehin, dass wir das noch viel zu oft zu Gesicht bekommen werden. Viel wichtiger ist jetzt, dass wir schnell, präzise und entschieden reagieren. Ohne Walthers Festplatte und Dr. Morosow sind du und ich praktisch alles, was wir haben. Zumindest gemäß meiner Sicherheitsfreigabe führen die USA keine Tests an Menschen durch und die an Tieren sind bislang ohne Ergebnisse. Deswegen brauche ich deine Hilfe.«
»Natürlich. Was brauchst du?«
»Was hast du gesehen? Was hast du gehört? Alles, Hargraves, wirklich alles. Jedes noch so kleine Detail; alles, was dir noch so unwichtig erscheint. Auch deine eigenen Gedanken, deine Überlegungen und Mutmaßungen. Ich kenne dich mittlerweile ganz gut. Ich weiß, dass du viel nachdenkst. Und vielleicht sind es gerade deine Gedanken aus der Erfahrung heraus, die uns den entscheidenden Geistesblitz ermöglichen. Dieser Bericht wird die Entscheidungsgrundlage für das weitere Vorgehen der USA darstellen.«
Nick schwieg einen Moment lang, um seine Gedanken zu sammeln, und fühlte sich mit einem Mal furchtbar unsicher. Unsicher darüber, was er ihr erzählen und wie er es tun sollte. Aber als er dann ansetzte und ihr nicht nur von seiner Gefangennahme in der Sperrzone, sondern auch von seinem Weg dorthin und seinem Fund im Wald des Grenzgebietes erzählte, fühlte er sich, als würde eine tonnenschwere Last von seinen Schultern fallen. Er hielt kaum inne, um Luft zu holen, redete und redete. Aber während er sprach, fühlte er sich nicht nur erleichtert, sondern plötzlich unglaublich kurzsichtig und naiv. Die ganze Sache hatte von Anfang an zum Himmel gestunken und er konnte sich rückblickend nicht erklären, wie er überhaupt dazu gekommen war, Deer zu vertrauen. Beinahe kam es ihm vor, als hätte sein Weg gar nicht anders enden können als in russischer Gefangenschaft. Als er schließlich fertig war, holte er tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er fühlte sich, als wäre er einen Marathon gelaufen.
»Auf mich wirkt es, als hätten wir zwei Arten der Interaktion«, fasste Keyes schließlich den Gedanken zusammen, der ihm während des Sprechens ebenfalls gekommen war. »Auf der einen Seite ein – in Ermangelung eines besseren Wortes – Potenzial, auf der anderen die unmittelbare Beeinflussung des menschlichen Organismus.«
»Wundert dich das?«, fragte Nick. »Zuckerbrot und Peitsche. Diese Wesen sind nicht dumm. Sie passen sich an uns an. Alles, was am Anfang geschehen ist, war eine Art … Kalibrierungsphase. Testläufe, bis es richtig losgeht. Sie ködern uns mit den Artefakten, pokern auf unsere Neugierde – und das mit großem Erfolg. Die Leute zahlen bares Geld, um sie in die Finger zu kriegen, ohne zu wissen, was sie sind oder bewirken. Gleichzeitig gibt es eine unübersehbare militärische Nutzung. Die Maschine, die wir in der Ukraine gesehen haben, und der Ausfall der Atomwaffen. Radioaktive Strahlung ist also eine Komponente. Die Menschheit hat also allen Grund, diese Artefakte aufzusammeln.«
»Nur, um sich durch uns … fortzupflanzen?«
»Darum geht es unterm Strich doch, oder?«, erwiderte Nick. »Überleben. Keiner von uns weiß, wie diese Wesen aussehen; keiner weiß, wie sie denken. Womöglich können sie sich nur so fortpflanzen. Vielleicht ist das aber auch nur ein Versuch, mit uns zu kommunizieren und uns zu verstehen. Ich glaube, dass wir unsere Denkmuster und unsere Bemühungen um Interpretation nur bedingt anwenden können. Vielleicht ergibt irgendwann etwas davon Sinn, aber ob es auch wirklich zutrifft, werden wir nie genau wissen. Keyes, genau genommen wissen wir noch nicht einmal, ob sich Bloom oder Deer tatsächlich in eines dieser Wesen verwandelt hätten. Gott, vielleicht sind die Aliens auch nur auf der Suche nach Haustieren!«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst.« Keyes nickte. »Wir wissen, was passiert, aber das ist zu wenig.«
»Nicht zwangsläufig.«
»Das musst du mir erklären.«
»Du hast recht«, stimmte er ihr zu. »Wir kennen ihre Ziele nicht. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns nicht wehren können. Wenn es eine Flut gibt, handeln wir ja ebenfalls, bevor wir wissen, ob ein Damm gebrochen ist oder es einen Tsunami gab. Solange unsere Gegenmaßnahmen Erfolg haben, ist das alles, was wir für den Moment brauchen.«
Keyes seufzte.
»Was?«
»Versteh mich bitte nicht falsch, aber es wäre viel gewonnen, hätten wir eine Person, die die Metamorphose überlebt hat. So wüssten wir, wie diese Wesen funktionieren. Und vielleicht hast du ja recht und das ist tatsächlich nur ein Kommunikationsversuch.«
»Das kann nicht dein Ernst sein!«, hauchte Nick. »Genau dieses Denken hat Morosow …«
»Ich weiß.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »So war es auch nicht gemeint. Sorry. Ich versuche auch nur, einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Egal. Vergessen wir das. Danke, Hargraves. Ich denke, besser kriege ich den Bericht nicht hin. Gott, ich hätte die Festplatte niemals bei Walther lassen sollen!«
»Wünsch dir nichts, was du nicht wirklich willst.«
»Was soll das denn heißen?«
»Naja.« Nick legte den Kopf schief. »Du weißt nicht, ob er uns wirklich verraten hat. Vielleicht hat er mit den Daten auch einfach nur unwissentlich einen Virus überspielt, der die Festplatte unbrauchbar gemacht hat. Du musstest dir ja schon genug anhören. Stell dir vor, was passiert wäre, hättest du eine leere Festplatte abgeliefert. Nein, Keyes, ich glaube, es ist besser so. Der Bericht reicht aus.«
*****
Es war schon weit nach Mitternacht und Keyes war über ihrem Computer eingeschlafen, eine Hand auf der Tastatur und die andere an ihrer längst leeren Kaffeetasse, während ihr Kopf auf dem Mousepad lag. Schon ein paarmal hatte sich Nick überlegt, sie zu wecken, um ihr die Nacken- und Rückenschmerzen zu ersparen, die sie morgen garantiert haben würde, aber bislang hatte er sich stets dagegen entschieden. Keyes brauchte Schlaf. Mehr als alles andere.
Schon seit gut zwei Stunden saß er bereits da und sah ihr dabei zu, wie sie schlief, immer wieder zuckte und unverständliche Dinge murmelte. Ihre Arbeit ließ sie selbst in ihren Träumen nicht los – und das war ein Umstand, den er nur zu gut nachvollziehen konnte, schließlich hatte sie den gesamten Tag über wie eine Wahnsinnige an ihrem Bericht gearbeitet und innerhalb kürzester Zeit eine absolut gewaltige Analyse auf die Beine gestellt. Eine Analyse, die just in diesen Sekunden mit Sicherheit von Militärs und Spezialisten im ganzen Land als Grundlage für die nächsten Schritte im Kampf gegen die Gefahren des außerirdischen Schiffs herangezogen wurde.
Dass er hier saß und ihr stillschweigende Gesellschaft leistete, war zu großen Teilen dem Umstand geschuldet, dass er keinen blassen Schimmer hatte, wo er sonst hingehen sollte, und seiner Angst, von einem übereifrigen Soldaten erschossen zu werden, sobald er auch nur einen Fuß auf den Korridor vor dem Büro setzte. Aber nicht nur. Er wollte Keyes nicht allein lassen. Nicht nach allem, was geschehen war, nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten. Und vor allem nicht bei dem Wahnsinn, der gerade dabei war, in all seiner Gewalt entfesselt zu werden.
Nick schloss die Augen und lehnte sich so weit zurück, wie es sein Stuhl nur zuließ. Er war ebenfalls müde und hätte viel dafür gegeben, schlafen zu können, aber es ging nicht. Anders als Keyes war er noch nicht am Ende seiner Kräfte angelangt, sodass ihn die totale Erschöpfung überwältigen konnte. Angesichts dessen, was in diesen Stunden geschah, bezweifelte er ohnehin, jemals wieder Schlaf zu finden.
Außerirdische waren zur Erde gekommen. Sie waren aus dem Nichts aufgetaucht; kein Radar und auch sonst keine Technologie der Menschheit hatte sie entdeckt. Sie reagierten auf keinen Kommunikationsversuch und auf nichts anderes. Stattdessen brachten sie Artefakte auf die Erde, von denen er bislang gedacht hatte, dass sie Menschen einfach nur umbrachten. Artefakte, die mittlerweile dazu übergegangen waren, sich an die Menschen und ihre Physiologie anzupassen und sie zu … verwandeln.
Nick spürte, wie ein hoffnungsloses und geradezu verzweifeltes Seufzen aus seiner Kehle brach. Wie? Wie um alles in der Welt sollten sie diese Krise nur bewältigen? Nicht nur ›sie‹ im Sinne von ihm, Keyes und den USA, sondern die gesamte Menschheit. War überhaupt jemand in der Lage, sich dieser Bedrohung zu stellen, vor allem jetzt, da auf der ganzen Welt Krieg herrschte, tausende Soldaten jeden Tag ihr Leben ließen und gigantische Massen an Militärgerät zerstört wurden?
Niemand konnte absehen, wie viele Artefakte sich tatsächlich bereits auf der Erde befanden und wie viele ihnen nachfolgen würden. Selbst wenn man die Menschen vor der Gefahr warnte, die von ihnen ausging, würde das vermutlich kaum einen Unterschied machen. Menschen waren nicht gerade für ihre Besonnenheit bekannt. Verdammt, es würde ihn noch nicht einmal wundern, wenn irgendwann ein Kult entstand, der diese Dinger anbetete und die Aliens als nächste Stufe der Evolution betrachtete.
»Was machen Sie denn da?« Plötzlich eine Stimme bei der Tür. Ein Mann mit Brille und viel zu akkurat sitzender Uniform trat ein und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Seinem Rangabzeichen zufolge ein Colonel.
»Psst«, machte Nick, hob einen Finger und hielt ihn sich vor den Mund, ehe er aufstand und dem Offizier entgegentrat. »Sie schläft.«
»Was?« Er sah an ihm vorbei. Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Sie ist immer noch hier?«
»Jup.« Nick trat vor die Tür. »Und sie hat sich den Schlaf verdient.«
Der Colonel verließ ebenfalls Keyes’ Büro. »Sie müssen Nick Hargraves sein.«
»Das spricht sich aber schnell herum. Wer sind Sie?«
»Colonel Roberts. Bis vor kurzem war das hier meine Basis.«
»Jetzt nicht mehr?«
Er schwieg.
»Sie reden nicht darüber?«
»Nein.« Der Colonel sah erneut an ihm vorbei zu Keyes, bevor sein Blick wieder an ihm hängenblieb. »Keyes hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Sie hier zu halten.«
»Das habe ich gehört.«
»Wieso?«
»Was?«
»Wieso hat sie das getan? Agent Keyes ist eine herausragende Analystin und ihren Vorgesetzten bei der CIA zufolge eine exzellente Agentin für den Feldeinsatz. Wenn sie einen Grund sieht, jemanden wie Sie mit einer solchen Vehemenz zu protegieren, dann muss er wichtig sein.«
»Und was wollen Sie jetzt von mir hören?«, schnaubte Nick. »Dass ich ihr Leben gerettet habe und sie mir auf ewig dankbar ist?«
»Haben Sie das?«
»Nein. Eher andersherum.«
Der Colonel schwieg erneut.
»Sie misstrauen mir, oder?«
»Ist das so offensichtlich?« Roberts klang amüsiert. »Ein Zivilist, der sich als Artefaktjäger betätigt hat und nun frei in meiner Basis herumläuft?«
»Bis gerade saß ich still in Keyes’ Büro und habe mich um meinen eigenen Kram gekümmert.«
Roberts sah aus, als wollte er etwas erwidern, sagte aber nichts. Stattdessen lehnte er sich an die Wand gegenüber der Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn ein paar Sekunden lang an, ohne dabei auch nur eine Miene zu verziehen.
»Ich habe den Bericht gelesen«, sagte er schließlich. »Die Ereignisse in Weißrussland und der Ukraine – vor allem Ihre Einschätzung dazu. Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Und was?«
»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, warum die Außerirdischen tun, was sie tun?«
»Zur Fortpflanzung. Wieso?«
»Das meine ich nicht.« Roberts schüttelte kaum merklich den Kopf. »Wie gesagt, ich habe den Bericht gelesen. Ich kenne Ihre Schlussfolgerungen. Aber ich will von Ihnen wissen, ob Ihnen die ganze Sache nicht komisch vorkommt. Wenn diese Artefakte tatsächlich aus Gas bestehen und von den Aliens unbemerkt und zielgerichtet auf die Erde gebracht werden können, warum verlassen sie sich dann darauf, dass wir zufällig vorbeikommen und sie aufheben?«
Nick schwieg.
»Anders formuliert: Warum setzen die Aliens diesen Stoff nicht einfach in der Luft oder in unser Wasser frei und sorgen so dafür, dass wir uns alle in verdammte Biester verwandeln? Warum gehen sie selektiv vor?«
»Ich glaube, das ist eine Frage, die strategische Analysten …«
»Ich will keine strategische Analyse hören, Hargraves«, unterbrach ihn der Colonel. »Sondern Ihre Meinung. Ich denke, der Grund, warum Keyes Sie rekrutiert hat, ist Ihr Gespür für das, was da draußen vor sich geht. Nicht durch die Brille strategischer Analytik hindurch betrachtet, sondern mit gesundem Menschenverstand.«
Nick schwieg einen Moment lang, bevor er sich dem Colonel gegenüber ebenfalls an die Wand lehnte.
»Vielleicht tun sie es ja noch«, sagte er schließlich.
»Wie meinen Sie das?«
»Naja – Sie sehen ja, was aktuell passiert. Wochenlang ist so gut wie jeder gestorben, der diese Artefakte ungeschützt berührt hat. Morosow hat in seinen Experimenten festgestellt, dass der Zeitraum zwischen Berührung und Tod größer wird. Gleichzeitig beginnen derzeit die ersten … Metamorphosen. Ich bin kein Experte für sowas, aber wie Keyes im Bericht geschrieben hat: Das könnte eine Art Feldtest sein. Eine Technologie, die möglicherweise breit einsetzbar ist, aber erst kalibriert werden muss. Würden die Aliens diese Stoffe jetzt großflächig freigeben, könnten sie ein planetares Massensterben auslösen.«
Der Colonel schwieg.
»Roberts, unterm Strich sind das alles nur Spekulationen«, fuhr Nick fort, auch wenn er gerade seine eigenen Worte nicht glauben wollte. »Und ich bezweifle, dass ich der richtige Mann bin, um das zu beurteilen. Wir wissen so gut wie nichts. Wollen die Aliens auf der Erde leben? Wollen sie nur ein paar Menschen verwandeln und mitnehmen? Haben sie ein ganz anderes Ziel? Wir wissen es nicht. Gott, vielleicht sind das alles auch nur Fehlfunktionen – wissen Sie, worauf ich hinauswill?«
»Langsam beginne ich zu verstehen, warum Keyes Sie hergebracht hat.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Allein in dieser Basis verfügen wir über knapp 50 ausgebildete, erfahrene Männer und Frauen, die Tag und Nacht damit beschäftigt sind, Analysen der unterschiedlichsten Szenarien anzufertigen. Leute von der CIA, dem NRO, der NSA, NORAD, NASA – alles, was wir haben, arbeitet sich hinter den Kulissen an diesem fremden Schiff ab. Seit sich Keyes aus Weißrussland gemeldet und Blooms Metamorphose stattgefunden hat, hat der Präsident für diese Angelegenheit wieder große Mittel freigegeben. Aber bislang ist nicht einer unserer Analysten darauf gekommen, dass wir nichts wissen können.«
»Dafür wurden sie vermutlich nicht ausgebildet. Was haben Sie jetzt vor?«
Abermals schwieg Roberts. Nick schnaubte leise. Der Kerl war gut.
»Ruhen Sie sich ein wenig aus, Mr. Hargraves«, sagte der Colonel schließlich und nickte zu Keyes’ Bürotür. »Die kommenden Tage werden hart.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und marschierte mit schnellen Schritten durch den Korridor. Nick sah ihm nach, bis er wenige Augenblicke später um eine Ecke verschwand, bevor er leise seufzte und zurück in Keyes’ Büro ging, wo er sich wieder auf einen der beiden Stühle sinken ließ. Die Agentin schlief noch immer tief und fest, zuckte aber kurz, als er sich setzte.
Das hier, diese Stunden, waren das letzte Innehalten einer Welt, die sich bald für immer verändern würde. Die Ruhe vor dem Sturm, wie man sagte, auch wenn diese Umschreibung nur bedingt zutraf. Zum einen war es kein Sturm, dem sich die Menschheit gegenübersah, sondern ein ausgewachsener Orkan, und zum anderen herrschte keine Ruhe. Alles war in Bewegung, ohne sich von der Stelle zu rühren. Ein zähes Hinauszögern des Unausweichlichen, ein Kräftesammeln im Wissen, dass man nicht stark genug war.
Colonel Roberts mochte es nicht direkt ausgesprochen haben, aber seine Fragen hatten genügt, um Nick eine Sache klarzumachen: Die Regierung der Vereinigten Staaten wusste nicht weiter. Sie wusste nicht, wie sie auf diese Bedrohung reagieren sollte, wusste nicht, wie man den Artefakten, den Außerirdischen und den Kriegen in Europa und im Pazifik gleichzeitig begegnen sollte. Leider änderte das nichts daran, dass die Menschheit reagieren musste – und zwar bald.
Kapitel 19
S tille. Vollkommene, absolute, dröhnende Stille. Sie hatte sich über das zentrale Kommandozentrum der Schriever Space Force Base gelegt wie ein Leichentuch. Vermutlich war sie das auch. Das Leichentuch einer Spezies, die am Rande des Untergangs stand; nur einen einzigen Schritt vom Abgrund entfernt. Krieg tobte in Europa und im Pazifik. Hunderttausende waren ihm bereits zum Opfer gefallen und Millionen würden folgen. Doch es war nicht das wahnwitzige Aufeinanderprallen der Weltmächte, das den Untergang ihrer Spezies endgültig in so greifbare Nähe rückte, sondern das, was sie im Begriff waren, zu tun.
Gebannt, ungläubig, konzentriert und gleichzeitig seltsam gedankenverloren starrte Keyes auf die kaum merklich flimmernde Projektion, die eine gesamte Wand des Raumes einnahm. Um sie herum saßen hochrangige Militärs, Generale von Air Force und Army, Admirale der Navy, Direktoren der Geheimdienste, Wissenschaftler und Politiker. Und sie. Sie, weil sie so tief in diese Sache reingeraten war, dass sie sich vermutlich niemals wieder davon lösen konnte.
In diesen Minuten berieten sich der Präsident, seine engsten Vertrauten und die höchsten militärischen Befehlshaber nicht nur des Landes, sondern der gesamten NATO in einem geheimen Regierungsbunker. Sie berieten darüber, wie mit dem fremden Schiff im Orbit zu verfahren war; wie man auf die Bedrohung durch die Artefakte und die nicht mehr zu leugnenden Auswirkungen auf die Menschheit reagieren sollte. Ob man das Verhalten der Außerirdischen endgültig als feindlichen Akt einstufen sollte, unabhängig davon, was letztlich ihre wahren Intentionen sein mochten.
Die Situation war denkbar simpel. Die Ankunft der Außerirdischen und ihre Einflussnahme auf den Planeten hatten die Nuklearwaffen unbrauchbar gemacht und so den atomaren Frieden zerstört, der seit dem Ende des zweiten Weltkriegs zwar nicht alle Kriege verhindert hatte, aber zumindest den Weltenbrand, der in diesen Tagen so gnadenlos über den Planeten hinwegfegte und ganze Landstriche in Schutt und Asche legte. Die Menschheit war in den nächsten Weltkrieg geschlittert, aus dem einfachen Grund, dass sie die Chance dazu gehabt hatte, ohne ihre unmittelbare Auslöschung zu riskieren. Und obwohl es viele noch immer nicht sehen wollten, erreichte sie mit dem weltweiten Schlachten genau eine Sache: Sie schwächte sich selbst im Angesicht einer noch viel größeren Bedrohung.
Wenn der Präsident den Befehl zum Angriff gab – falls er es denn tat – dann würde von diesem Kontrollzentrum und dieser Basis aus die Koordination der vielleicht letzten Handlung der Menschheit anlaufen. Von hier aus würden die Raketenstreitkräfte des Landes koordiniert werden; hier würden die Informationen der Geheimdienste, NORAD und NASA zusammenlaufen. Und notfalls würde man von hier aus auch die Verteidigungsbemühungen am Boden koordinieren.
Keyes spürte, wie ihr beim Gedanken daran ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Ganz gleich, was auch geschah: Sie war dafür verantwortlich. Der Bericht, den sie und Hargraves verfasst hatten, stellte die Entscheidungsgrundlage dar, auf die sich die Führung des Landes stützte. All die Analysen, die von Wissenschaftlern, Militärs und Geheimdienstlern während der letzten Wochen angefertigt worden waren, stellten bloß den Unterbau dieser Entscheidung dar. Doch das, was sie gesehen und erlebt hatte, stellte das Gewicht dar, das auf der Waagschale der Entscheidung jenen Unterschied machte, der über das Schicksal des gesamten Planeten entschied.
Sie starrte auf die Projektion. Nach wie vor nichts. Keine Entscheidung, keine Informationen. Der Präsident ließ sich Zeit. Ein paar Minuten mehr Zeit. Sie selbst hielt einen Angriff für falsch. Ganz gleich, was auch geschehen war, ob sie nun davon wussten oder nicht, es war nicht richtig, das Schiff zu attackieren. Strategisch unklug, diplomatisch gesehen ohnehin eine Katastrophe. Ja, die Außerirdischen hatten die Atomwaffen lahmgelegt. Ja, sie waren indirekt für den Kriegsausbruch verantwortlich – und ja, vermutlich war die Schwächung der Menschheit auch exakt ihre Absicht. Sie hatten die Artefakte auf die Erde geschickt und mit ihnen fürchterliche Dinge angerichtet. Aber sie hatten sie nicht direkt angegriffen. Das Schiff hatte nicht das Feuer eröffnet und auch sonst keine Aggression gezeigt. Was also, wenn sie durch einen Angriff die totale Eskalation riskierten und durch Duldung der Aktivitäten eine bessere Ausgangsposition erreichen könnten?
Keyes seufzte leise und hielt sich die Hände vor den Mund. Und was, wenn nicht? Was, wenn ein Angriff jetzt die einzige Möglichkeit darstellte, die ihnen noch blieb? Wenn sie nur so viel Schlimmeres abwenden konnten? Wenn das alles – wie vom gesunden Menschenverstand vorgegeben – tatsächlich Akte der Aggression waren und ihnen nur der Gegenschlag blieb, um sich zu retten?
»Wir sollten das nicht tun«, flüsterte sie schließlich und sah hilfesuchend, beinahe flehend, zu Colonel Roberts, der mit versteinerter Miene neben ihr saß und unablässig seine Brillengläser mit einem Tuch säuberte. »Colonel, ich halte das für falsch. Wir wissen zu wenig.«
Einige im Kontrollzentrum warfen ihr kurze, teils zustimmende, teils offen missbilligende Blicke zu. Vielleicht wegen dem, was sie gesagt hatte, vielleicht aber auch nur, weil ihre Stimme die dröhnende Stille so gnadenlos zerrissen hatte.
Auch der Colonel hielt nun inne und verharrte für ein paar Sekunden regungslos auf seinem Stuhl, ehe er sich langsam die Brille aufsetzte und ihren Blick erwiderte.
»Agent Keyes, diese Entscheidung obliegt nicht uns.«
»Ich weiß. Ich halte einen Angriff trotzdem für falsch. Ohne die Gegenschlagkapazitäten der Außerirdischen zu kennen, ist ein Erstschlag unverantwortlich.«
»Ich bezweifle, dass wir nach allem, was geschehen ist, noch von einem Erstschlag sprechen sollten.«
»Colonel …«
»Was erwarten Sie von mir?« Roberts legte die Stirn in Falten. »Was soll ich tun? Selbst wenn ich hier ein rotes Telefon direkt zum Präsidenten hätte, würde er kaum wegen Ihres schlechten Bauchgefühls seine Entscheidung überdenken. Ganz davon abgesehen, dass er nach wie vor keine getroffen hat. Womöglich entscheidet er sich auch für ein friedliches Vorgehen.«
»Glauben Sie das wirklich?«
Der Colonel schwieg. Und obwohl Keyes sich zusammenreißen musste, um nicht nachzusetzen, sagte auch sie nichts mehr. Sie wusste, dass er recht hatte. Jetzt und hier blieb ihnen nur übrig, auf eine Entscheidung zu warten. Das galt für sie, für ihn, für die Militärs und auch jeden Soldaten auf dieser Basis. Trotzdem änderte das nichts an ihren Zweifeln.
Verdammt, konnte – durfte – sich die Menschheit überhaupt ein solches Vorgehen leisten? Im Orbit des Planeten befand sich ein einziges Schiff. Zwar war es beim Anflug auf die Erde nicht bemerkt worden, aber seither hatte man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln nach anderen Schiffen im Sonnensystem gesucht und nichts gefunden. Die Chancen standen gut, dass es allein war. Was aber, wenn es im Fall eines Angriffs Verstärkung rief? Wenn sie sich dann nicht mehr einem Schiff gegenübersahen, sondern einer ganzen Armada?
Aber auch hier der Gegengedanke: Was, wenn die Menschheit genau jetzt beweisen musste, dass sie nicht nur willens, sondern selbst ohne Nuklearwaffen in der Lage war, sich zu verteidigen? Wenn es galt, Zähne zu zeigen und die Außerirdischen von einer Fortsetzung oder gar Wiederholung ihrer Taten abzuhalten? Es …
Plötzlich war etwas anders. Es dauerte einen Moment, bis Keyes begriff, was genau es war, aber dann verstand sie, dass sich just in diesem Augenblick die Projektion veränderte. Anstelle von Aufnahmen des fremden Schiffs im Orbit und einer Karte der bisher gefundenen Artefakte wurde nun eine strategische Darstellung der Erde eingeblendet. Sie war in Sektoren untergliedert, die scheinbar willkürlich verliefen und von denen manche rot, andere wiederum grün unterlegt waren. Eine Reihe von Freigabecodes erschien über den jeweiligen Sektoren.
Die Stille, die bisher im Kontrollraum geherrscht hatte, spannte sich mit einem Mal an – nur um dann plötzlich zu reißen und den Strom der Ereignisse freizugeben, die nun endgültig und unwiderruflich über sie hereinbrachen. Während der Großteil der anwesenden Wissenschaftler beinahe augenblicklich die Hände über den Köpfen zusammenschlugen und die Geheimdienstmitarbeiter zu telefonieren begannen, beugten sich die Militärs über den zentralen Tisch aus dunklem, schwerem Holz. Jedem von ihnen standen unterschiedliche Grade der Anspannung ins Gesicht geschrieben.
»Wir haben Freigabe für einen begrenzten Erstschlag«, ergriff einer der Generale das Wort. »Wir informieren Russland und China über den bevorstehenden Angriff. Teilen Sie dem NATO-Hauptquartier mit, was geschieht. Für die Dauer der Operation verlegen wir uns auf die Defensive. Falls Russland und China mit Beschuss antworten, unternehmen wir keine Gegenschläge. Unsere Streitkräfte sollen so gut wie möglich geschont werden.«
»Die Air Force geht in den USA in Bereitschaft«, übernahm ein General der Air Force. »Patrouillenflüge über dem ganzen Land, engmaschige Überwachung des Luftraums. In der Schwarzmeerregion stehen Gunships bereit, um eventuelle Gegenreaktionen sofort abzufangen.«
»Wäre es möglich, einen kurzfristigen Waffenstillstand mit Russland auszuhandeln, damit wir ungehindert über dem Schwarzen Meer operieren können?«
»Unwahrscheinlich, aber wir werden es versuchen. Wenn wir eine Tolerierung …«
»Wir wissen nach wie vor nicht, ob Russland und China womöglich in Abstimmung mit den Außerirdischen agieren«, unterbrach ihn einer der Geheimdienstmitarbeiter. »Ich halte eine solche Vorwarnung in jeder Hinsicht für riskant.«
»Dieses Risiko müssen wir eingehen, wenn wir keine großangelegten ballistischen Gegenschläge gegen möglicherweise weiche Ziele riskieren wollen. Der Zivilschutz soll sich bereithalten. Öffentliche Gebäude werden geschlossen. Polizei und Rettungsdienste müssen sämtliche Mitarbeiter in den Dienst stellen. Wir mobilisieren die Nationalgarde.«
»Unser Offensivplan?«
»Wir beginnen mit einem mehrstufigen Beschuss durch Interkontinentalraketen. Die fünfte und sechste Flotte übernehmen den Erstschlag. Anschließend …«
»Sie übersehen etwas«, fiel Keyes ihm ins Wort.
Der General kniff die Augen zusammen. »Und was?«
»Ihre Angriffsplanung ist konventionell. So würden Sie einen menschlichen Gegner angreifen. Sie wissen aber nicht, über welche Verteidigungsmaßnahmen die Außerirdischen verfügen. Diese Wesen waren in der Lage, unsere Atomwaffen zu deaktivieren, ohne dass es irgendjemand erklären kann oder auch nur mitbekommen hat. Wir müssen also davon ausgehen, dass sie in der Lage sein werden, den Angriff zu überstehen oder ihn abzuwenden. Und danach wird es eine Gegenreaktion geben. Darauf sind wir nicht vorbereitet.«
»Der Zivilschutz und die Nationalgarde …«
»Sind für ein solches Szenario weder ausgebildet noch ausgerüstet«, unterbrach sie ihn abermals. »Was tun Sie, wenn plötzlich überall Artefakte auftauchen? Wenn sie sich nicht länger verfestigen, sondern sich gasförmig ausbreiten? Wenn eine völlig unvorhergesehene Reaktion erfolgt?«
»Niemand weiß, ob diese Reaktionen erfolgen – oder ob es überhaupt zu einer Reaktion kommt. Zwischen dem Start unserer Raketen und dem errechneten Einschlag liegen nur wenige Minuten.«
»Und wenn doch?«
»Agent Keyes, wenn Sie einen Vorschlag zur Lösung dieser Problematik haben, dürfen Sie ihn gerne äußern. Andernfalls überlassen Sie die strategische Planung uns. Fakt ist, dass wir die Bedrohung durch dieses Schiff nicht länger tolerieren werden.«
Keyes öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn dann jedoch gleich wieder. Nein, sie hatte keinen Vorschlag, kannte keine Lösung und wusste auch sonst nicht, was sie tun sollte. Gerade fühlte sie sich einfach nur hilflos, gefangen in einem Albtraum, der kein Traum war und aus dem es auch kein Erwachen gab. Und während die anwesenden Militärs weiter über Truppenbewegungen, Angriffspläne und andere militärische Notwendigkeiten diskutierten, saß sie einfach nur da, starrte vor sich hin und versuchte, möglichst nichts zu fühlen.
Es gelang ihr nicht.
Dass etwas getan werden musste, war ihr klar. Sie hatte gesehen, wozu die Artefakte in der Lage waren, hatte gesehen, welche Abscheulichkeiten in Babrujsk begangen wurden, und hatte auch gesehen, was mit Deer und nicht zuletzt Bloom geschehen war. Sie selbst war in ihrem Bericht immer und immer wieder zum Schluss gelangt, dass die Außerirdischen mit einer womöglich kriegerischen, auf jeden Fall aber aggressiven Absicht hergekommen waren. Ein Angriff und damit die Selbstverteidigung der Menschheit waren nicht nur logisch, sondern geradezu notwendig.
Trotzdem waren sie nicht vorbereitet. Nicht einmal ansatzweise. Sie wusste das mit jeder Faser ihres Körpers. Niemand verstand diese Wesen, ihre Absichten, Ziele, Intentionen. Sie wussten nichts über ihre Möglichkeiten. Weder zur Abwehr noch zum Gegenschlag.
Aber blieb ihnen etwas anderes übrig? Nein. Die Menschheit konnte nicht noch länger untätig bleiben. Nicht nach dem, was geschehen war. Jeder Tag, nein, sogar jede Minute, die sie zögerten, barg ein immenses Risiko, rückte es doch den Augenblick näher, an dem es den Aliens endgültig gelang, ihre Artefakte an die menschliche Physiologie anzupassen und Unaussprechliches auf dem Planeten anzurichten. Es war eine ausweglose Situation.
Der Plan der Generale und Admirale nahm derweil immer konkretere Formen an. Es wurde festgelegt, von welchen Raketensilos aus die Interkontinentalraketen gestartet werden würden, welche Einheiten und Verbände absicherten und eingriffen, wie man im Fall russischer Gegenaktionen reagieren würde. Einfach alles, was man sich vorstellen konnte, und doch nicht genug, fußten all diese Planungen auf der Annahme, dass der Angriff Erfolg haben würde.
In weniger als drei Stunden würden die ersten Raketen starten.
»Agent Keyes?« Colonel Roberts riss sie aus ihrer Trance. »Alles in Ordnung?«
»Nein«, antwortete sie leise. »Was soll denn in Ordnung sein?«
»Wir werden es schaffen.«
»Und wenn nicht?«
Der Colonel atmete tief durch. »Agent, was ist in Europa geschehen? Warum haben Sie kein Vertrauen mehr in unsere Fähigkeiten?«
»Weil ich gesehen habe, wozu diese Artefakte in der Lage sind«, gab sie tonlos zurück. »Weil ich gesehen habe, was sie mit uns anrichten. Damit meine ich nicht nur Bloom, sondern alles. Sie entfachen die Gier in uns, leiten uns zu schrecklichen Grausamkeiten an, treiben uns in den Krieg. Colonel, ich habe kein Vertrauen in die Menschheit. Ich glaube nicht, dass wir dieser Bedrohung als Spezies gewachsen sind. Wenn dieser Angriff misslingt …«
»Falls er misslingt.«
»Er wird misslingen. Colonel, wenn er schiefgeht, stehen wir ohne Verteidigung da. Ohne Plan B. Wir befinden uns in einem Raum ohne Licht und uns bleibt nur ein einziges Streichholz. Wenn es nicht brennt, sind wir verloren. Und selbst wenn es brennt, können wir nicht wissen, ob wir die Wände des Raumes erkennen werden. Diese Wesen sind in der Lage, Atomwaffen lahmzulegen. Wären ballistische Raketen eine Gefahr, hätten sie garantiert auch die Antriebe lahmgelegt.«
*****
Es war soweit. Der Angriff begann. Keyes verfolgte ihn nicht im Kontrollzentrum. Sie ertrug die Anwesenheit der Generale und Admirale nicht; dieses blinde und gleichzeitig alternativlose Hineifern auf die militärische Konfrontation mit Wesen, die nicht einer von ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Stattdessen saß sie in ihrem Büro, eine Tasse Kaffee in den Händen und den Blick auf den Bildschirm ihres Computers gerichtet. Nick Hargraves stand hinter ihr, mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt, und verfolgte genau wie sie die letzten Sekunden des Countdowns.
»Es ist surreal, oder?«, fragte er leise.
»Total.«
»Hättest du dir vorstellen können, dass es so weit kommt?«
»Weiß nicht. Du?«
»Du weißt es wirklich nicht?« Er klang ehrlich überrascht. »Was hast du gedacht, als dieses Schiff über dem Schwarzen Meer aufgetaucht ist?«
Sie lachte leise. »Scheiße.«
»Im Ernst?«
»Jup. Colonel Roberts und ich saßen im Kontrollraum, zusammen mit ein paar Analysten. Das SPACECOM war für die Evaluierung der Ereignisse zuständig. Nach den ersten Berichten haben es die meisten vermutlich für nichts weiter als Weltraumschrott gehalten oder sonst etwas, das sich erklären lässt. Als dann die Bestätigung kam, dass dieses Objekt tatsächlich extraterrestrischer Herkunft und dazu vermutlich ein Schiff war … Gott, im Rückblick weiß ich nicht einmal, wie ich es damals geschafft habe, mich auf den Beinen zu halten. Ich glaube, ich war so überrascht und fassungslos, dass ein Automatismus angesprungen ist. Dann kam die Angst.«
»Kann ich verstehen. Man weiß nicht, was zu tun ist.«
»Doch.«
»Echt?«
Sie nickte. »Man ist nur ein kleines Rädchen in der Maschinerie. Man erledigt seine Aufgabe. Genau wie alle anderen. Und auch wenn vielleicht niemand wirklich wusste, was zu tun war, hat diese Maschinerie funktioniert und uns weitergebracht. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann konnte ich mir bis heute nicht vorstellen, dass das geschehen würde. Irgendwie war da immer diese Schranke in meinem Verstand. Was gerade passiert, sprengt alle Dimensionen.«
Sie hielt inne. Just in diesem Augenblick starteten die Raketen. Es ging los. In etwa 30 Minuten würden die ersten Einschläge folgen. Sieben Treffer in schneller Folge, sofern sich am Angriffsplan des Militärs nichts geändert hatte. Die kommende halbe Stunde war dann vermutlich die letzte Atempause der Menschheit, bevor der Konflikt mit den fremden Wesen endgültig eskalierte. Vorausgesetzt selbstverständlich, sie bemerkten den Angriff nicht ohnehin und fingen die Raketen ab.
Irgendwann in den nächsten Minuten würde sich auch der Präsident an die Nation wenden und eine Erklärung abgeben. Er würde die Menschen informieren, über deren Schicksal längst entschieden worden war. Es würde Eilmeldungen in den Nachrichten geben, Sondersendungen, vielleicht sogar einen öffentlichen Aufschrei und Proteste. Das Leben würde stillstehen in gebannter Erwartung dessen, was geschehen würde. Geschehen musste.
Was mit China und insbesondere Russland war, wusste Keyes nicht, aber vermutlich spielte es ohnehin keine Rolle. Es herrschte längst Krieg. Wenn sie sich entschlossen, den USA freie Hand zu lassen, gut, aber wenn nicht, machte es kaum einen Unterschied.
»Als Kind wollte ich Astronaut werden«, sagte Hargraves auf einmal. »Jahrelang. Ich war nur nie gut genug in der Schule, damit das denkbar gewesen wäre.«
»Kinder dürfen träumen.«
»Nicht, wenn die Träume idiotisch sind.« Er lachte leise. »Irgendwie hatte ich immer gehofft, dass ein Kontakt mit Außerirdischen friedlich ablaufen würde. Und selbst wenn nicht … Vergiss es.«
»Was?«
»Es tut nichts zur Sache. Lass uns über etwas anderes reden. Ich habe das Gefühl, wir haben bisher über kaum etwas anderes geredet.«
»Haben wir auch nicht.«
Nick seufzte leise. »Meine Schwester hatte die letzten Wochen sicher einen riesigen Spaß. Sie liebt alles, was mit dem Weltall zu tun hat.«
»Miranda, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«
»Der Barkeeper in Tombstone hat sie erwähnt. Er hat gesagt, wie viel sie dir bedeutet.«
»Das tut sie.«
»Willst du über sie sprechen?«
»Es gibt nicht viel zu sagen«, brummte er. »Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen, aber ich versuche, sie zu unterstützen. Sie ist krank. Die meiste Zeit über bleibt sie daheim.«
»Und …«
»Ein Gendefekt. Aber frag mich nicht, wie er heißt. Sie hat gute Tage und schlechte. Ich glaube, sie würde dich mögen. Verschwörungstheorien sind genau ihr Ding und die CIA mischt bei ihren Helden ganz weit oben mit.«
»Wie alt ist sie denn?«
»In ein paar Tagen wird sie 20.«
»Dann ist sie deutlich jünger als du.«
»Ja, das ist sie«, stimmte er ihr hörbar resigniert zu. »Ich liebe sie. Aber seit ich von Zuhause weg bin, wird mir immer mehr klar, dass ich vor ihr geflohen bin. Ich habe es nicht ausgehalten, sie leiden zu sehen. Sie ist so ein guter Mensch. Sie hat das nicht verdient.«
»Die wenigsten Menschen haben verdient, dass es ihnen schlecht geht.«
»Miranda ist etwas Besonderes«, flüsterte er. »Wenn sie lächelt oder ihre Augen vor Freude glitzern … Gott, ich würde alles tun, damit es ihr besser geht. Das Geld, das ich beim Artefaktsuchen verdient habe, habe ich ihr geschickt. Hoffentlich hilft es ein wenig.«
»Garantiert.«
»Was ist mit dir, Keyes? Familie?«
»Keine, die ich so bezeichnen würde.«
»Soll heißen?«
»Zu meinen Eltern habe ich keinen Kontakt mehr.« Sie trank einen Schluck Kaffee. Längst kalt. Natürlich. »Früher sind wir ständig umgezogen. Ich weiß bis heute nicht so genau, wieso. Länger als ein Jahr waren wir an keinem Ort. Ich habe es so sehr gehasst. Als ich dann die Chance hatte, mir etwas Eigenes aufzubauen, bin ich von Zuhause weg. Der Kontakt hat sich irgendwie verlaufen.«
»Das tut mir leid.«
»Muss es nicht. Wirklich nicht. Ich bin kein Familienmensch. Als CIA-Agent hat man nicht gerade viel Freizeit. Ich liebe meinen Job – meistens jedenfalls.«
»Gerade wahrscheinlich nicht?«
»Hält sich in Grenzen.«
»Wie lange noch bis zum Einschlag?«
»Etwa 20 Minuten.«
Hargraves gab ein unverständliches Brummen von sich, sagte aber nichts mehr. Keyes konnte es ihm nicht verdenken. Das Gespräch war zwar eine Ablenkung gewesen, die sie mehr als nur dankbar angenommen hatte, aber offensichtlich hatte es nicht gereicht, um die Zeit vollständig zu überbrücken und die elende Ungewissheit an ihnen vorüberziehen zu lassen. Das hatten sie wohl davon, dass sie beide nicht unbedingt zu den gesprächigsten Menschen gehörten.
Keyes stand auf, trat zum Fenster und sah hinaus. Obwohl auf der gesamten Basis rege Betriebsamkeit herrschte, schien alles stillzustehen. Die Soldaten, Lastwagen und Hubschrauber – alles wirkte irgendwie deplatziert und willkürlich. Als versuchten diese Männer und Frauen nur, sich zu beschäftigen und so ebenfalls die Zeit zu überbrücken, bis das Unvermeidliche eintrat.
Schließlich ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch und warf einen Blick auf den Bildschirm. Noch zehn Minuten. Gott, sie hielt es kaum mehr aus! Unwillkürlich ballte sie die Hände zu Fäusten und war schon versucht, auf die Tischplatte zu schlagen, hielt sich jedoch zurück. Das hatte keinen Sinn. Sie musste sich beherrschen, ganz gleich, wie schwer es ihr auch fiel.
Noch fünf Minuten. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken, starrte auf den Bildschirm. Vier Minuten. Sie trank ihren Kaffee aus. Drei Minuten. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Ihre Finger begannen zu zittern. Zwei Minuten. Anderthalb. Eine Minute. Schließlich 30 Sekunden. Dann zehn.
Einschlag.
Keyes erschauderte. Von nun an würde alle 15 Sekunden eine weitere Rakete das außerirdische Schiff treffen, jede einzelne beladen mit hunderten Tonnen Sprengstoff. Raketen, die normalerweise darauf ausgelegt waren, Bunkeranlagen zu zerstören. Kriegsschiffe. Die stärksten Ziele, die die Menschheit aufbieten konnte. Aber war es genug?
»Agent Keyes.« Plötzlich eine Stimme bei der Tür. Ein junger Sergeant salutierte zackig. »Colonel Roberts fordert Ihre sofortige Anwesenheit im Kontrollzentrum an. Dasselbe gilt für Sie, Mr. Hargraves.«
Keyes nickte, stand auf und wollte zur Tür gehen, nur um plötzlich festzustellen, dass es ihr unglaublich schwerfiel, ihre Beine zu bewegen. Sie fühlten sich an, als wären sie aus Blei gemacht; als würde sich jeder einzelne ihrer Muskeln weigern, ihren Befehlen zu folgen. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, der Aufforderung des Soldaten nachzukommen und ihm durch den Korridor zum Kontrollzentrum zu folgen. Dort erwarteten sie neben Colonel Roberts eben jene hochrangigen Militärs, die auch vorhin bereits hiergewesen waren. Die Architekten dieses Krieges.
Kaum war sie eingetreten, wanderte ihr Blick zur Projektion an der Wand, wo sie – neben unzähligen taktischen Informationen – eine Aufnahme des fremden Schiffs in Echtzeit erkannte, offensichtlich unbeschädigt, obwohl ein Zähler unmittelbar darüber bestätigte, dass alle sieben Raketen ihr Ziel getroffen hatten und detoniert waren.
»Nichts?«, fragte sie und sah zu Colonel Roberts, der sich mit kreidebleichem Gesicht am Tisch abstützte.
»Nichts«, bestätigte einer der anwesenden Generale. »Keine Wirkung. Wir halten es für möglich, dass unsere Raketen unmittelbar vor dem Einschlag von einer Art Nahbereichsabwehr zerstört wurden und …«
»Das ist nichts weiter als Spekulation«, unterbrach ihn ein anderer General. »Wir wissen nicht, was geschehen ist. Fakt ist, dass unser Angriff keinerlei wahrnehmbaren Effekt hatte.«
»Und sonst? Gibt es eine Veränderung?«
»Nichts. Das Schiff hält nach wie vor seine Position.«
»Artefakte?«
»Deswegen sind Sie beide hier.«
»Was meinen Sie?«
»Agent Keyes, Sie und Mr. Hargraves haben in Osteuropa wertvolle Informationen gesammelt und Ihre Mission trotz Rückschlägen erfolgreich beendet. Im Moment steht uns kaum Personal zur Verfügung, das über eine ähnliche Expertise verfügt. Ihr Bericht dient nicht nur den USA, sondern der gesamten NATO als Entscheidungsgrundlage. Viele ihrer Vermutungen lassen sich zwar nicht ohne weiteres überprüfen, werden von unseren Analysten jedoch als wahrscheinlich zutreffend eingestuft.«
»Sie schicken uns wieder raus?«
»Das ist richtig. Allerdings bleiben Sie diesmal in den USA.«
»Und warum?«
Der General deutete auf die Projektion. »Bislang ist keine Reaktion des Schiffs erfolgt – zumindest nicht unmittelbar und auf eine für uns wahrnehmbare Weise. Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine gibt. Sie beide sollen herausfinden, ob es tatsächlich so bleibt oder ob die Außerirdischen ihre Vorgehensweise in Bezug auf die Artefakte ändern. Colonel Roberts wird Sie über die genauen Missionsparameter informieren.«
Keyes sah zum Colonel, der ihren Blick jedoch nicht erwiderte. Stattdessen stand er wortlos auf, drehte sich um und verließ das Kontrollzentrum, wobei er kaum merklich die Hand hob und ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Keyes holte mit schnellen Schritten zu ihm auf.
»Colonel, ich …«
»Denken Sie ernsthaft, ich kann dem direkten Befehl eines Generals widersprechen?«
»Das sage ich nicht! Gottverdammt, bleiben Sie endlich stehen!«
Augenblicklich hielt Roberts inne. »Agent Keyes …«
»Ich werde nicht schweigen!«, knurrte sie und sah ihm direkt in die Augen. Mittlerweile hatte auch Hargraves zu ihnen aufgeholt. »Colonel, sehen Sie nicht, was gerade passiert? Wir wiederholen das, was wir längst hinter uns haben! Sie haben mich schon einmal in die sprichwörtliche Wüste geschickt – genau genommen sogar dreimal! Deutschland, die Suche nach Hargraves und Osteuropa! Es ist jedes Mal dasselbe: Wir wissen nichts, aber man schickt mich trotzdem los! Ich hatte in Osteuropa nur Glück, mehr nicht! Es kann doch nicht unser bester Plan sein, dass Hargraves und ich durch die Pampa marschieren und Artefakte suchen!«
»Keyes, was denken Sie eigentlich, was wir wissen?«, erwiderte Roberts lakonisch.
»Colonel?«
»Nichts«, sagte er. »Wir wissen nichts! Außer Form und Abmessung des Schiffs wissen wir praktisch nichts! Aufbau, Zusammensetzung, Lebensformen, Signale – all das entzieht sich unserer Wahrnehmung. Dieses Ding ist einfach nur da und tut nichts! Zumindest nichts, was wir erkennen können. Ihre Erkenntnisse sind alles, was wir haben, aber selbst das sind nur Mutmaßungen! Haben Sie eigentlich eine Vorstellung, wie das SPACECOM dasteht? Seit dieses verfluchte Ding aufgetaucht ist, arbeite ich Tag und Nacht und trage sämtliche Informationsfetzen zusammen, die ich nur finden kann, aber wir haben noch immer nichts! Ich …«
Er hielt einen Moment lang inne, bevor er leise seufzend die Brille abzog und sich die Augen rieb.
»Keyes, ich höre mich an wie ein kaputter Plattenspieler, wenn ich sage, dass mir das nicht gefällt. Aber wir wissen uns schlichtweg nicht anders zu helfen. Die Artefakte stellen die einzig greifbare Interaktion der Außerirdischen mit uns dar. Der Gedanke ist naheliegend, dass sie auf diese Weise auf den Angriff reagieren werden. Und wenn nicht, ist das ebenfalls ein Ergebnis.«
»Also lautet mein Befehl, mich ins Auto zu setzen und mich umzuschauen?«
»Nein. In den vergangenen Tagen konnten wir einen Hotspot der Artefakt-Aktivität ausfindig machen: Die Mojave-Wüste. Zwei unserer Leute sind dort bereits im Einsatz. Sie treffen sie in Fort Irwin. Bereiten Sie sich vor. Ihr Flug geht in einer Stunde.«
Kapitel 20
N ick hob den Kopf, atmete tief durch und blinzelte. Ein aussichtsloser Versuch, die dröhnenden Kopfschmerzen loszuwerden, die ihn nun schon begleiteten, seit er an Bord dieses Militärhubschraubers gegangen war. Selbstverständlich brachte es nichts. Hitze, Müdigkeit und Erschöpfung verschworen sich mit dem Dröhnen der Rotoren zu einer unbarmherzigen Mischung, die sich tief in seinen Kopf bohrte und ihm das Gefühl gab, als wollte er jeden Augenblick platzen.
Doch es half alles nichts. Er musste es erdulden, ganz gleich, wie schwer es ihm auch fiel. Und so richtete er den Blick einmal mehr auf das mehrseitige Missionsdossier, das man ihm vor dem Abflug in die Hand gedrückt hatte. Ein Provisorium aus maschinen- und handschriftlichen Notizen, manche davon geschwärzt, andere wiederum um Kommentare an den Seiten erweitert. Besonders viel Nützliches stand nicht darin, oder besser gesagt: besonders viel Neues.
Nichtsdestotrotz war es nicht uninteressant, die offiziellen Stellungnahmen des US-Militärs und der Regierung zum kürzlich erfolgten Angriff auf das fremde Schiff zu lesen, erweitert durch erste Analysen und Messungen. Anscheinend hatten die Interkontinentalraketen ihr Ziel zwar erreicht und waren auch detoniert, aber eben nicht unmittelbar an, beziehungsweise in der Hülle des Schiffs, sondern einige Meter davon entfernt. Zumindest war das die Erklärung, mit der das Militär aktuell arbeitete. Was dafür verantwortlich war, wusste keiner. Vermutlich eine Art Abwehrmechanismus, ähnlich einem Hard-Kill-System, mit dem sich Kampfpanzer vor Raketenbeschuss schützten.
Nick hielt einen Moment inne und sah zu Keyes, die auf der anderen Seite des Hubschraubers saß und mit ausdruckslosem Blick aus dem Fenster starrte. Ihr Widerwille gegen diese Mission – oder genauer gesagt: gegen die Umstände – war unübersehbar. Verdenken konnte er es ihr nicht, schickte man sie beide doch mehr oder weniger ins Blaue und hoffte, dass sie mehr herausfanden als alle anderen.
Trotzdem hielt er ihre Reaktion für übertrieben, denn wenn man genau darüber nachdachte, ließ sich der Gedankengang der befehlshabenden Generale nachvollziehen: Bisher war keine Interaktion des fremden Schiffs mit der Erde oder der Menschheit erfolgt. Zumindest nicht direkt. Es hatte keine Signale gegeben, keine Übertragungen, nicht einmal Bewegung. Die einzige Form der direkten Interaktion stellten die Artefakte und ihre Auswirkungen dar. Es lag nahe, unter diesen Umständen bei ihnen anzusetzen und zu versuchen, über sie herauszufinden, ob und wie die Außerirdischen auf den Angriff reagierten.
Nick erschauderte unwillkürlich. Seit ihm Keyes erzählt hatte, was mit Bloom geschehen war, versuchte er die meiste Zeit über, nicht zu viel darüber nachzudenken, aber gerade gelang es ihm nicht mehr, es von sich fernzuhalten. Wenn das Dossier recht behielt und es in der Mojave tatsächlich zu einem gehäuften Aufkommen von Artefakten kam, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie dort auf weitere … Betroffene stießen.
Ein plötzliches, dafür aber intensives Ekelgefühl stieg in ihm auf, als seine Gedanken einmal mehr zu all den Spekulationen und Horrorvorstellungen abschweiften, die ihn bereits quälten, seit er zum ersten Mal davon erfahren hatte. Sofort schüttelte er den Kopf, sah aus dem Fenster und versuchte, sich abzulenken. Hauptsache, er musste nicht …
»Alles okay, Hargraves?«, rauschte auf einmal Keyes’ Stimme durch das Funkgerät seines Helms. »Du siehst ein wenig blass aus.«
»Es geht schon.«
»Sicher? Ich glaube, es gibt irgendwo Kotztüten.«
»Das ist es nicht.«
»Was dann?«
»Nichts. Ich will nicht darüber sprechen.«
»Wie du meinst.«
»Ich bin jetzt offiziell dabei, oder?«, fragte er nach kurzem Zögern. »Bei dieser Sache?«
»Jup.«
»Ist das nicht seltsam?«
»Nicht so seltsam, wie du denkst«, gab sie zurück. »Wir sind ziemlich gut darin, neues Personal anzuwerben, glaub mir. Die Umstände spielen dabei nur selten eine Rolle. Ich habe einen Freund bei der Agency, den mein Vorgesetzter vor Jahren aus einem Bordell in Deutschland geschleift hat, einfach nur, weil er ein herausragender Hacker ist. Diese, nennen wir sie ›Beraterpositionen‹, sind für die Agency sehr wichtig. So bleiben wir flexibel. Wenn du wüsstest, wer im Lauf der Jahrzehnte schon für uns oder andere US-Behörden gearbeitet hat …«
Sie hielt einen Moment lang inne, doch ihre Lippen bewegten sich weiter.
»Hargraves, ich bin froh, dass du hier bist«, fuhr sie schließlich fort. »Es ist eine Sache, mit anderen Agents zusammenzuarbeiten. Sicher, es ist effektiv und alles, aber man neigt dazu, Dinge durch die CIA-Brille hindurch zu betrachten, und verliert gewisse Nuancen aus dem Blick, die jemandem wie dir auffallen. Ganz davon abgesehen, dass ich dir vertraue.«
»Danke«, sagte Nick nur.
»Dafür musst du dich nicht bedanken. Es ist die Wahrheit.«
»Hey, Turteltäubchen«, rauschte plötzlich die Stimme des Piloten durch den Funk. »Darf ich kurz unterbrechen? ETA fünf Minuten.«
»Verstanden«, antwortete Keyes.
Sie warf Nick noch einen kurzen Blick zu und er meinte sogar, den Anflug eines Lächelns zu erkennen, aber dann drehte sie den Kopf auch schon wieder zur Seite und sah aus dem Fenster. Er tat es ihr gleich. Wenig später setzte der Hubschrauber zur Landung an, wirbelte dabei eine riesige Menge Staub in die Luft und setzte schließlich auf. Und noch während der Rotor langsamer wurde, öffnete sich bereits die Tür und zwei Männer in khakifarbenen Einsatzoutfits bedeuteten ihnen mit Handzeichen, sofort auszusteigen.
Ein paar Meter entfernt wartete ein Militärgeländewagen mit laufendem Motor auf sie, der auf seiner Ladefläche mit einer kompliziert aussehenden, wuchtigen Maschine ausgestattet war, die über eine ganze Reihe von Antennen und Messgeräte verfügte.
»Schön, dich wiederzusehen!«, begrüßte sie schließlich eine rauchige Stimme, kaum hatten sie das Fahrzeug betreten.
»Jackson?!«, hauchte Keyes und lachte. »Was machst du denn hier?«
»Meistens hole ich mir einen Sonnenbrand«, erwiderte der Mann lakonisch. »Seit unserem kleinen Intermezzo bei der Taskforce gelte ich beim NRO als erste Instanz, wenn es um diese verfluchten Artefakte geht. Ein paar Tage nach dem Ende unseres Einsatzes hat man mich dem SPACECOM unterstellt. Seither bin ich hier.«
Jackson warf einen Blick nach hinten, während sein Begleiter den Motor aufheulen ließ, und reichte Nick die Hand.
»Sorry, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Fabio Jackson. Mein Kollege hier ist Hakon Gunnar. Wir nennen ihn Gun.«
»Nick Hargraves.«
»Der berühmte Artefaktjäger.« Er grinste. »Wir waren so kurz davor, dich zu schnappen.«
»Wir?«
»Hat es Keyes gar nicht erzählt?«
»Nein, zwischen russischen Geheimlaboren, Tschernobyl und abgeschossenen Helikoptern ist es irgendwie unter den Tisch gefallen«, gab Keyes bissig zurück und sah zu Nick. »Hargraves, das ist Jackson. Bei der Jagd nach dir waren wir Partner. Also, Jackson, wie ist die Lage?«
»So schnell zum beruflichen Teil?«
»Ich glaube nicht, dass wir aktuell die Zeit haben, über Nebensächlichkeiten zu reden.«
»Ein paar Minuten hätten wir schon. Gun fährt ja. Aber wie du willst. Also, die Situation ist folgende: In den letzten zehn Tagen sind täglich zwischen 40 und 50 Artefakte im Bereich der Mojave runtergekommen. Im Death Valley sind es ähnlich viele, aber das ist nicht unsere Zuständigkeit. Auf Basis eures Berichts vermuten wir, dass besondere atmosphärische Bedingungen dafür verantwortlich sind. Der gasförmige ›Träger‹ der Artefakte – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – wird hier zur Manifestation gezwungen.«
»Die Maschine hinter uns?«
»Kann die Artefakte aufspüren.«
»Was?«, fragte Nick sofort. »Wie?!«
»Ein indirekter Prozess. Kurz zusammengefasst: Die Maschine ist ein hochsensibles Barometer, das über eine Reihe von Messstationen in der gesamten Mojave Luftdruckveränderungen trianguliert, bei denen ein Artefakt auftauchen könnte. Aktuell haben wir eine Erfolgsquote von etwa 80 Prozent.«
»Das ist ordentlich.«
»Finde ich auch. Unsere Leute sind zuversichtlich, bald auf 90 oder mehr Prozent zu kommen, aber für den Moment reicht aus, was wir haben.«
»Wie ist heute die Lage?«
»Bislang keine Artefakte.«
»Ist das ungewöhnlich?«
»Nicht unbedingt.« Jackson schüttelte den Kopf. »Die Artefakte tauchen nicht regelmäßig auf. Es hängt alles vom Luftdruck ab und der verändert sich ständig. Ein paar Stunden ohne Aktivität sind nicht ungewöhnlich. Wie genau lauten eure Missionsparameter?«
»Hat man euch nicht informiert?«
»Nur oberflächlich. Wir sollten euch hier aufsammeln und zu unserem mobilen HQ in der Mojave bringen.«
Nick sah zu Keyes. Sie nickte.
»Wir sollen die Scherben zusammenkratzen«, übernahm er. »Das SPACECOM geht davon aus, dass eine Reaktion auf den Raketenbeschuss am ehesten bei den Artefakten erfolgen wird. Wir sollen herausfinden, ob das wirklich so ist.«
»Und wie soll das aussehen?«, schnaubte der Mann am Steuer, Gun. »Ich garantiere euch, dass wir Artefakte finden werden. Tödlicher als tödlich werden sie kaum sein. Denkt ihr, die Aliens schreiben eine Beleidigung drauf? From space with love?«
»Wir wissen es nicht.«
»Ihr wisst es nicht?«
»Nein«, knurrte Nick. »Letzten Endes liegt es auch im Bereich des Möglichen, dass wir nichts finden. Vielleicht empfinden diese Aliens den Beschuss nicht einmal als kriegerische Handlung.«
»Wie kommst du darauf?« Gun lachte. »Ich würde es als sehr kriegerisch empfinden, wenn mir jemand eine Rakete ins Gesicht schießt.«
»Wir wissen nicht, ob die Aliens das Konzept von Krieg überhaupt kennen.«
»Das …«, setzte er an, hielt dann aber inne. »Okay, ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst.«
Mittlerweile hatten sie die befestigte Straße verlassen und folgten einem im Wüstenboden kaum zu erkennenden Pfad in Richtung einiger Berge – wobei das angesichts des schroffen, felsigen Terrains rings um sie herum vermutlich eine adäquate Beschreibung für buchstäblich jede Richtung darstellte. Immer wieder konnte Nick Metallwürfel von etwa anderthalb Metern Kantenlänge erkennen, die mitten in der Wüste standen. Das mussten die Messstationen sein, von denen Jackson gesprochen hatte.
Nick hatte zwar keine Vorstellung davon, wie diese Dinger funktionieren, aber er begriff sehr wohl, wie simpel der dahinterstehende Gedanke war: Die Artefakte kamen gasförmig auf der Erde an. Der Vorgang der Verfestigung ging zwangsläufig mit einer Veränderung im Luftdruck einher, schließlich waren sie bislang ausschließlich während Gewittern aufgetaucht. Selbst wenn man sie nur indirekt nachweisen konnte, war das eine mehr als nur nützliche Technologie. Vielleicht würde es irgendwann ja möglich sein, sie abzufangen, bevor sie überhaupt den Boden berührten?
»Wir sind da«, sagte Jackson irgendwann, während Gun den Wagen bei einem verhältnismäßig großen, khakifarbenen Militärzelt zum Stehen brachte, das aus der Entfernung unmöglich zu erkennen war. Zu gut fügte es sich in die beinahe monochrome Farbgebung der zerfurchten Felslandschaft der Mojave ein.
»Von hier aus erreichen wir innerhalb von maximal zwei Stunden jeden Punkt im Überwachungsgebiet«, erklärte Jackson. »Wir haben Vorräte für zwei Wochen, Kommunikationsausrüstung, Medizin. Wenn es sein muss, sind wir komplett autark. Ganz in der Nähe befindet sich eine Lagereinheit aus Stahlbeton im Boden. Bis die Artefakte abgeholt werden, lagern wir sie dort.«
»Sind gerade welche da?«, wollte Keyes wissen.
»Etwa 200.«
»200?!«, hauchte Nick. »Das ist unglaublich!«
»Mhm«, brummte Gun. »Unsere Freude ist grenzenlos. Wenn es so weitergeht, müssen wir diese Drecksteile zurück ins All schießen, weil uns auf der Erde der Lagerraum ausgeht.«
»Ich schlage vor, ihr macht euch mit dem HQ vertraut«, übernahm Jackson. »Unsere Sensoren schlagen an, sobald eine der Messstationen etwas empfängt. Mit dem Wagen lokalisieren wir es anschließend präzise.«
Nick wollte ihm schon ins Zelt folgen, hielt dann aber inne. Irgendetwas fühlte sich plötzlich unglaublich falsch an. Deplatziert. Einfach nicht richtig. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Sofort schaute er sich um, konnte aber nichts erkennen. Zumindest nichts, was auf eine unmittelbare Gefahr hingedeutet hätte. Trotzdem war da nicht nichts. Er wusste nicht, wie er es anders beschreiben sollte. Der Horizont kam ihm seltsam verfärbt vor. Nicht richtig. Und auch der Himmel über seinem Kopf erschien ihm viel zu dunkel, obwohl nicht eine einzige Wolke zu sehen war.
Er biss die Zähne zusammen, versuchte sich zu beruhigen, aber es gelang ihm kaum. Längst spürte er, wie Adrenalin durch seine Adern pulsierte. Irgendetwas stimmte hier nicht, und was es auch war, es war groß. Groß genug, um selbst den Horizont in Beschlag zu nehmen und den Himmel zu verdunkeln.
»Seht ihr das?«, fragte er und drehte sich zu den anderen um, doch sie waren längst im Zelt verschwunden. Verdammt, war ihnen das nicht aufgefallen?! »Hey! Keyes! Jackson!«
Keine Reaktion. Hatten sie ihn nicht gehört? Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen. Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Das Zelt befand sich nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Er trat darauf zu und streckte schon die Hand aus, um die Plane am Eingang beiseite zu schieben, berührte sie dann aber nicht. Die Luft um ihn herum kam ihm seltsam schwer vor. Geradezu zäh. Als würde er durch eine gasförmige Melasse greifen. Was zum Teufel …
»Keyes!«, brüllte er mit aller Kraft und riss die Plane zur Seite. »Gottverdammt, Keyes!«
»Was denn?!« Plötzlich trat sie ihm entgegen und starrte ihn vollkommen perplex an. »Himmel, Hargraves, ich höre dich! Was … Oh Gott.«
Ihr Blick wanderte an ihm vorbei – und plötzlich griff sie nach ihrer Pistole.
Nick wirbelte auf der Stelle herum, aber er konnte seinen Augen nicht glauben, was er dort sah: Etwa 50 Meter von ihnen entfernt begann die Luft just in diesen Sekunden, violett zu schimmern. Innerhalb kürzester Zeit nahm sie eine derartige Intensität an, dass er sich kaum noch überwinden konnte, direkt hinzusehen, aber gleichzeitig war er nicht in der Lage, den Blick abzuwenden.
Es war unmöglich zu sagen, wie lang dieses Schauspiel andauerte. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, vielleicht ein paar Minuten, aber irgendwann verlor das Schimmern plötzlich die gerade erst gewonnene Intensität. Es graute aus, verlor an Farbe, wurde weniger hell – und auf einmal klaffte im Wüstenboden ein Loch von sicherlich 20 Metern Durchmesser. Nick konnte nichts darin erkennen, aber er war mit jeder Faser seines Leibes davon überzeugt, dass sich dort die Lagereinheit der Artefakte befand.
Während er gebannt auf das Loch starrte, unfähig, sich zu bewegen oder auf andere Weise zu reagieren, stieg erst langsam und dann immer schneller ein dichter Nebel daraus auf. Das mussten die Artefakte sein, die dort gelagert worden waren! Hatte dieses Licht – was auch immer es war und woher es auch gekommen sein mochte – etwa eine Art Dematerialisierung ausgelöst? Aber wie? Und wieso? Es …
Plötzlich drang ein durchdringendes, tiefes Brummen zu ihm – und das mit einer derartigen Wucht, dass er sich unwillkürlich die Hände auf die Ohren drückte. Aber es half nichts. Sein gesamter Körper bebte unter der schieren Wucht des Geräuschs und selbst die feine Sandschicht auf den umliegenden Felsen wurde mehrere Zentimeter in die Luft geworfen. Nick schnappte nach Luft, wieder und wieder. Es gelang ihm kaum, zu atmen, geschweige denn, etwas anderes zu tun. Er war gelähmt.
Dann, so schnell, wie es gekommen war, verstummte das Geräusch. Zurück blieb ein Objekt, das aus demselben Material zu bestehen schien wie die Artefakte. Eine lange, violett schimmernde Säule, die senkrecht in den Himmel ragte und von deren Basis aus feine, symmetrisch angeordnete Linien an die Ränder des Lochs ragten, dort komplexe Muster im umliegenden Wüstenboden bildeten und schließlich verschwanden. Wie es ihnen möglich war, diese massive Säule über dem Loch zu halten, war Nick ein Rätsel.
»Jackson.« Keyes war die Erste, der es gelang, etwas zu sagen, aber ihre Stimme war bloß ein Flüstern. Sie schnappte nach Luft. »Jackson. Jackson. Jackson!«
Jetzt endlich gelang es ihr, zu schreien. Und ihr Schrei war es, der Nick aus seiner Trance riss. Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, wirbelte er herum, stürmte ins Zelt und rannte zu Jackson, der bereits schwitzend und keuchend an der Kommunikationsausrüstung saß und verzweifelt auf die Knöpfe hämmerte.
»Nichts!«, rief er. »Die Ausrüstung ist tot!«
»Der Wagen!«, erwiderte Nick. »Wir müssen zur Basis fahren! Wo ist der Schlüssel?«
Plötzlich eine Bewegung in seinem Augenwinkel. Er wirbelte herum. Keyes stand beim Eingang. Ihre Lippen bebten.
»Was ist?!«
Sie starrte ihn an. »Da kommt etwas.«
*****
Keyes hatte recht. Da war etwas. Ein Objekt am Himmel; ein dunkles Etwas, das schnell näherkam, in seiner Form unmöglich zu identifizieren. Nicht aus dieser Entfernung. Ohne sichtbare Antriebstätigkeit schwebte es in Richtung Erde; ein Absinken bei absolut konstanter Geschwindigkeit. Sein Kurs führte genauso exakt senkrecht nach unten, wie die Säule in den Himmel zeigte. Es wich nicht einen Millimeter zur Seite hin ab und schien auch sonst von keiner physikalischen Kraft des Planeten beeinflusst zu werden. Es war fremd. In jeder Hinsicht.
Nick sah, wie Jackson und Gun zum Wagen rannten; wie sie versuchten, ihn zu starten, nur um schließlich verzweifelt aufs Lenkrad zu schlagen und wieder auszusteigen. In ihren Händen hielten sie Sturmgewehre, von denen sie eines ihm und eines Keyes in die Hand drückten, aber obwohl Nick die Waffe entgegennahm, wusste er, dass sie nutzlos war. Mit etwas so Simplem wie einem Gewehr würde er sich gegen solche Mächte nicht verteidigen können. Diese Wesen beherrschten Technologien, die der Menschheit wie Magie vorkamen; sie waren ihnen in jeder Hinsicht überlegen und konnten selbst von mächtigen Raketen nicht bezwungen werden.
Es war aus. Nick wusste es mit jeder Faser seines Körpers. Sie waren verloren. Er, Keyes, Jackson und Gun. Hier draußen in der Wüste gab es nichts, was ihnen helfen konnte. Kein Versteck, keine Unterstützung, kein gar nichts. Wenn diese Wesen landeten – falls sich denn welche von ihnen an Bord befanden – dann gab es nichts, was sie tun konnten. Sie waren ihnen ausgeliefert. Vielleicht geschah in diesen Sekunden etwas Vergleichbares auf der ganzen Welt; vielleicht hatten die Aliens nach dem Angriff beschlossen, dass es an der Zeit war, direkt einzugreifen. Vielleicht …
Plötzlich ein lautes Brüllen unmittelbar neben ihm, dicht gefolgt vom peitschenden Rattern eines Gewehres. Gun hatte seine Waffe angelegt und feuerte auf das Objekt, das sich nur noch wenige Dutzend Meter über ihnen befand. Salve um Salve jagte er ihm entgegen, griff sogar an seine Weste und lud nach, aber weder verlangsamte das Objekt seinen Anflug, noch geschah sonst etwas.
Schließlich erreichte es den Boden. Jetzt endlich wurde es langsamer und senkte sich mit einer solchen Perfektion auf die Säule, dass es geradezu künstlich aussah; nicht natürlich. Es gab keinerlei Geräusche von sich. Nicht einmal dann, als es auf dem feinen Geflecht aufsetzte, das über dem Loch gewachsen war und selbst jetzt nicht brach, als das Objekt auf ihm aufsetzte. Das Objekt, das exakt denselben Durchmesser besaß wie das Loch, das in den Boden gerissen worden war.
Gun hatte mittlerweile aufgehört, zu schießen. Es hatte sowieso nichts gebracht. Stattdessen stand er einfach nur da, das Gewehr nach wie vor erhoben, und starrte das Objekt an. Sein Finger am Abzug zuckte. Allerdings war er der Einzige von ihnen, der seine Waffe angelegt hatte. Weder Keyes noch Jackson oder Nick selbst taten es ihm gleich. Nichts wäre sinnloser gewesen, als jetzt kämpfen zu wollen.
»Was, wenn wir reden können?« Wieder war es Keyes, die als Erste die Kraft fand, etwas zu sagen. »Was, wenn sie in friedlicher Absicht kommen?«
»Denkst du das wirklich?«, knurrte Jackson.
»Wir wissen es nicht«, stimmte Nick ihr zu. »Wir kennen diese Wesen nicht. Ich denke, wir sollten es versuchen. Wir sind ihnen sowieso unterlegen. Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, lebend hier rauszukommen, müssen wir es versuchen. Wollten sie uns töten, hätten sie es längst getan. Sie …«
Er hielt inne, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, wie dumm seine Worte waren. Natürlich wollten diese Wesen sie nicht töten. Warum denn auch? Jeder von ihnen war Biomasse, die die Aliens zur Umwandlung nutzen konnten; ein potenzieller Kandidat für die Metamorphose. Was, wenn sie beschlossen hatten, dass die Umwandlung durch die Artefakte nicht schnell oder effizient genug gelang, und persönlich kamen, um das zu tun?
Nick starrte das Objekt an. Noch immer war keinerlei Aktivität feststellbar. Und obwohl er es bereits anstarrte, seit es gelandet war, nahm er nun zum ersten Mal bewusst wahr, wie es aussah. Es besaß eine sechseckige Grundform, wie eine Bienenwabe von etwa 20 Metern Durchmesser von Kante zu Kante, und war etwa acht Meter hoch. Seine Hülle, wenn man sein Äußeres denn so bezeichnen konnte, war vollkommen makellos wie auch die Artefakte, allerdings schimmerte es nicht violett, sondern besaß einen dunkelgrauen, beinahe anthrazitfarbenen Farbton. Fenster, Sensoren oder sonst etwas waren nicht zu erkennen.
»Wir sollten von hier verschwinden, solange wir noch können.« Jackson sah sich um. »Los, kommt! Wir …«
Zu mehr kam er nicht, denn jetzt plötzlich öffneten sich die drei zu ihnen gerichteten Flächen des fremden Objekts. Sofort riss Jackson sein Gewehr hoch und legte an, aber außer Dunkelheit war im Inneren nichts zu erkennen.
»Nimm die Waffe runter, Jackson!«, fauchte Keyes. »Wir haben …«
Nick hörte, dass sie etwas sagte, aber er war unfähig, ihr weiter zuzuhören. Denn just in diesem Augenblick tauchte auf einmal eine Gestalt in der Dunkelheit auf; eine Silhouette, die sich kaum merklich von der Schwärze abhob. Nein. Nicht nur eine, sondern vier. Ein paar Sekunden lang verharrten sie beinahe regungslos im Inneren des Objekts, bevor sie sich schließlich nach draußen bewegten.
Die Wesen besaßen einen langgezogenen – und in Notwendigkeit irdischer Vergleiche – schlangenartigen Unterleib, der allerdings nicht aus einem einzigen Glied zu bestehen schien, sondern vielmehr aus einer Vielzahl langer, dünner Extremitäten ohne sichtbare Gelenke, die miteinander verschlungen waren. An manchen Stellen waren dornartige Fortsätze zu erkennen. Dieser Unterleib, falls es denn tatsächlich einer war, ging in einen kräftigen, segmentierten Oberkörper über, aus dessen Rücken zwei Armpaare sprossen, von denen das untere über deutlich ausgeprägte, flexibel wirkende Greifzangen verfügte. Der langgezogene, nach hinten geschwungene Kopf dieser Wesen wiederum saß auf einem langen, breiten Hals, der an eine Königskobra erinnerte und anders als der Rest ihres Körpers keinen gräulichen Farbton besaß, sondern ein relativ intensives Blau. Er wurde von einem, schnabelartigen Maul dominiert, über dem drei große, dunkle Augenpaare saßen. Flexible Mandibeln dominierten seine Unterseite.
Waffen oder andere Ausrüstung trugen sie nicht bei sich.
Nick starrte die Wesen an. Mit einem Mal wurde ihm schwindelig. Es gelang ihm kaum, zu begreifen, was er vor sich sah. Unwillkürlich taumelte er einen Schritt zurück und um ein Haar wäre ihm das Gewehr aus den Händen geglitten. Er war nicht in der Lage, direkt in die Augen dieser Wesen zu blicken. Es ging einfach nicht. Trotzdem zwang er sich mit aller Kraft, sie nicht eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen.
Die Aliens schienen weder von ihnen noch von ihrer Bewaffnung beeindruckt zu sein. Nick war sich nicht einmal sicher, ob sie sie überhaupt wahrnahmen oder gar als Bedrohung ansahen. Vielmehr schienen sie sie komplett zu ignorieren – zumindest für den Moment. Während sich zwei der Wesen nun mit unglaublicher Flexibilität durch den nur wenige Zentimeter breiten Zwischenraum zwischen dem hexagonalen Objekt und dem Wüstenboden zwängten und im darunterliegenden Loch verschwanden, kamen die anderen beiden weiter auf sie zu.
Sie sahen vollkommen identisch aus.
»Zurück!«, brüllte Gun plötzlich und trat ihnen entgegen. Seine Hände am Gewehr zitterten. »Zurück! Im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika befehle ich euch, sofort zurückzutreten!«
Selbstverständlich ignorierten sie ihn. Stattdessen näherten sie sich ihnen weiter. Jackson wich zurück und auch Keyes hob nun ihre Waffe, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
»Zurück!«
Nichts.
»Stehenbleiben! Sofort stehenbleiben oder ich werde das Feuer eröffnen!«
Gun feuerte eine Salve in die Luft. Jetzt endlich blieben die beiden Aliens stehen. Sie befanden sich weniger als zwei Meter von ihm entfernt. Eine Gefühlsregung war bei keinem von ihnen festzustellen und abgesehen von ihrem Innehalten auch sonst keine Reaktion. Sie gaben nicht einmal einen Laut von sich, allerdings meinte Nick, ein langsames, leise zischendes Atemgeräusch zu hören.
»Nimm die Waffe runter, Gun!«, flüsterte Keyes. »Das ist zu riskant! Wollten sie dich töten, hätten sie es schon getan!«
»Zurück!«, befahl dieser, ohne auf sie einzugehen, nahm eine Hand vom Gewehr und deutete auf das Objekt hinter den Aliens. »Sofort zurück!«
Wieder reagierten sie nicht.
»Zurück!«, brüllte Gun und richtete das Gewehr direkt auf das Alien, das ihm am nächsten war. »Ich befehle dir …«
Plötzlich schossen die Glieder des Aliens hinter seinem Rücken hervor und durchbohrten ihn mit spielerischer Leichtigkeit. Doch obwohl Nick sah, wie die Eingeweide aus seinem Leib gerissen wurden und mit den Armen des Aliens aus seinem Rücken brachen, fiel Gun nicht zu Boden, sondern wurde von dem Außerirdischen weiter aufrecht gehalten.
Für einen winzigen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Gun zuckte im Todeskampf, die beiden Aliens verharrten regungslos – aber dann zerfetzte plötzlich peitschendes Gewehrfeuer die Luft. Jackson feuerte seine Waffe ab und jagte dem Alien, das Gun getötet hatte, sein komplettes Magazin entgegen. Einen Moment lang schien es seinem Feuer zu widerstehen, aber dann gab seine Haut tatsächlich nach. Zwar brach es nicht zusammen, als die Kugeln in es eindrangen, aber es ließ von Gun ab – nur um sich plötzlich und vollkommen unvermittelt mit immenser Geschwindigkeit auf Jackson zu stürzen. Dabei schlug sein Unterleib Keyes zur Seite und warf sie ins Zelt.
»Keyes!«, schrie Nick und sah sich nach ihr um, konnte sie bei der zusammengefallenen Zeltplane jedoch nicht erkennen.
Instinktiv, beinahe wie ferngesteuert, hob er sein Gewehr und drückte ab – oder zumindest wollte er es, doch keine Kugel verließ den Lauf. Die Waffe war noch gesichert. Verzweifelt griff er an den Sicherungsschalter, aber seine Hände zitterten so sehr, dass es ihm nicht gelang, ihn zu betätigen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass sich das Alien auch auf ihn stürzen würde, aber nichts dergleichen geschah.
Er sah auf. Die beiden Aliens, die unmittelbar vor ihm gestanden hatten, zogen sich gerade in das Schiff zurück und zogen dabei die Leichen von Jackson und Gun hinter sich her. Das, das getroffen worden war, sonderte ein zähflüssiges, durchsichtiges Sekret ab. Von den anderen beiden, die gerade eben unter dem Objekt verschwunden waren, war nichts zu sehen. Nick wusste nicht, ob sie bereits wieder an Bord gegangen waren oder nicht, aber das schien die beiden anderen nicht zu interessieren. Die ihm zugewandten Flächen des Sechsecks schlossen sich wieder und gingen nahtlos in die Perfektion der übrigen Hülle über.
Dann bewegte sich das Objekt. Vollkommen geräuschlos und ohne Vorankündigung oder irgendeine Form von wahrnehmbarer Aktivität hob es ab und stieg mit exakt derselben Geschwindigkeit nach oben, mit der es vor wenigen Minuten erst gelandet war.
Nick starrte ihm nach, bis er es nicht mehr erkennen konnte, und sah auch dann noch in den Himmel, als es längst verschwunden war. Mittlerweile hatte die Luft wieder die Farbe angenommen, die sie haben sollte, und nichts und absolut gar nichts deutete mehr auf das hin, was gerade geschehen war.
Er sah sich um. Hinter ihm kämpfte sich Keyes gerade ächzend aus dem zusammengefallenen Zelt und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie in Ordnung war. Er bückte sich nach seinem Gewehr. Irgendwann musste es ihm aus den Händen geglitten sein, ohne dass er es bemerkt hatte. Warum er das tat, wusste er nicht. Schusswaffen waren nutzlos. Nichtsdestotrotz entsicherte er die Waffe, ehe er auf das Loch im Boden zutrat.
Das Artefaktlager war leer. Einzig die Wände aus Stahlbeton und ein Rest der Leiter waren noch zu erkennen. Von dem violetten Licht, den feinen Linien, der Säule oder sonst etwas war nichts mehr zu sehen. Auch die Luft fühlte sich nicht länger schwer und zäh an.
»Ist das gerade wirklich passiert?« Keyes humpelte zu ihm und stützte sich an seiner Schulter ab. »Hargraves, bitte sag mir, dass ich mir das nicht nur eingebildet habe.«
»Das ist passiert«, stimmte er ihr tonlos zu. »Das ist wirklich passiert, Keyes.«
*****
Zwei Wochen waren seit den Ereignissen in der Mojave-Wüste vergangen. Zwei Wochen, die Nick gemeinsam mit Keyes in Isolation verbracht hatte, auch wenn ihm die Bezeichnung ›Haft‹ naheliegender erschien. Ein fensterloses Zimmer, zwei Feldbetten, WC, Dusche, Fernseher und drei Mahlzeiten am Tag. Niemand sprach mit ihnen, niemand erkundigte sich nach ihnen. Jeder Kontakt mit der Außenwelt fand vollautomatisiert über Maschinen statt – vor allem dann, wenn man ihnen etwas zu essen brachte. Nur ein einziges Mal in dieser Zeit war es ihm gelungen, einen Blick auf einen Mann im Schutzanzug zu erhaschen, der die defekte Essensklappe repariert hatte. Es war, als hätte die Welt sie vergessen. Oder als wollte sie sie vergessen.
Nach dem Verschwinden der Außerirdischen hatten sie es nicht einmal geschafft, den Wagen zu starten und sich auf den Weg zurück zur Basis zu machen, als bereits eine ganze Flotte an Militärhubschraubern am Himmel aufgetaucht war. Das Militär hatte das gesamte Areal abgeriegelt, sie beide eingehend befragt – und anschließend weggeschafft. Seither nichts. Keine Informationen, keine Aufklärung, keine Nachbesprechung. Nicht einmal eine ärztliche Untersuchung. Selbst im Fernsehen liefen nur Unterhaltungssendungen. Was in der Welt vor sich ging, wussten sie nicht.
Wie so oft lag Nick auf seiner Pritsche und starrte zur Decke. Er ertrug das Gebrabbel im Fernsehen nicht mehr und sonst gab es nichts zu tun. Keyes lag an der anderen Seite des Zimmers auf ihrem Bett, genau wie er nackt bis auf die Unterwäsche. Wo auch immer sie sich hier befanden, es war dermaßen warm und schwül, dass es anders kaum auszuhalten war. Für eine Klimaanlage hatte das Budget wohl nicht gereicht.
»Sie wollen, dass wir uns umbringen«, murmelte Keyes irgendwann. »Deswegen haben sie uns unsere Kleidung gelassen. Wir sollen uns an unseren Gürteln erhängen.«
»Wenn es so weitergeht, ist das nicht das Schlimmste, was uns passieren kann«, meinte Nick lakonisch.
»Bist du zu einem Ergebnis gekommen?«
»Wobei?«
»Du hast doch vor ein paar Tagen gemeint, dass wir irgendwas falsch gemacht hätten. Ist dir eingefallen, was das sein könnte?«
»Wir haben überlebt«, schnaubte er. »Das muss es sein.«
»Wahrscheinlich. Ich …«
Sie hielt inne. Er hatte es auch gehört. Ein Geräusch bei der Tür. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen, sah zu Keyes und setzte sich auf. Essenszeit war erst in ein paar Stunden. Das konnte nur eines bedeuten. Oder? Er sah zur Tür. Es hörte sich tatsächlich an, als würde sie jemand entriegeln – und tatsächlich: Bereits wenige Augenblicke später schwang sie auf und ein grimmig dreinblickender Mann in Generalsuniform trat herein, flankiert von vier grimmig dreinblickenden Soldaten, die ihre Gewehre auf der Stelle auf sie richteten.
»Ist es soweit?«, spöttelte Nick. »Werden wir endlich erschossen?«
»General Snyder?«, hauchte Keyes.
»Du kennst den?«
»Ja, sie kennt mich«, nahm ihr der General die Antwort vorweg. »Aber dieser Umstand tut nichts zur Sache. Ich bin aus einem anderen Grund hier.«
»Der da wäre?«, fauchte Keyes mit unüberhörbarer Wut in der Stimme.
Der General nickte einem der Soldaten zu, der daraufhin sein Gewehr sinken ließ und beiseitetrat. Keine Sekunde später erschien auch schon ein fünfter Soldat bei der Tür, der dem General zwei dicke Papierstapel reichte.
»Dies sind Ihre Schweigeverpflichtungen«, sagte Snyder. »Sie werden Sie unterschreiben.«
»Sonst?«
»Sonst bleiben Sie hier, ganz einfach.« Er reichte jedem von ihnen jeweils einen der Stapel und einen Stift. »Sparen Sie sich das Lesen und hören Sie mir zu: Was in der Mojave geschehen ist, unterliegt völliger Geheimhaltung. Keiner von Ihnen wird auch nur ein Wort darüber verlieren. Nicht öffentlich, nicht privat, nicht einmal im Gespräch zwischen Ihnen beiden. Was dort geschehen ist, ist niemals geschehen. Sollte ein einziges Wort nach außen dringen, werden Sie es bereuen.«
Nick schwieg, genau wie Keyes.
»Ich werte das als Zustimmung«, fuhr der General fort. »Die Regierung der Vereinigten Staaten betrachtet diese Angelegenheit vorläufig als beendet. Seit den Ereignissen in der Mojave sind keine weiteren Artefakte aufgetaucht – und die, die sich noch auf der Erde befinden, scheinen ihre Auswirkungen auf Menschen und andere Lebewesen verloren zu haben. Auch das außerirdische Schiff zeigt keinerlei Aktivität.«
»Und warum erzählen Sie uns das?«, fragte Nick. »Wenn wir sowieso die Fresse halten sollen, wäre es doch besser, wenn wir nicht noch mehr wissen, oder?«
»Das ist richtig, allerdings werden Sie beide wieder in den aktiven Dienst gestellt, sobald Sie die Schweigeverpflichtungen unterschreiben. Ihre Fähigkeiten und Erfahrung sind für uns unersetzlich. Solange das fremde Schiff seine Position im Orbit hält, können wir es uns nicht leisten, auf Sie zu verzichten. Sie bleiben weiterhin dem SPACECOM unterstellt und kümmern sich ausschließlich um Ereignisse extraterrestrischer Ursache.«
»Also war’s das?«, fragte Keyes.
»Wie ich bereits sagte: Wir betrachten diese Angelegenheit als vorläufig beendet. Sie beide übernehmen fortan eine Beobachterposition.«
»Was ist mit dem Krieg?«
»Die NATO ist letzte Woche in die Offensive gegangen. Gestern wurde Kiew zurückerobert und morgen beginnt der Sturm auf Minsk.«
»Und die Atomwaffen?«
»Nach wie vor inaktiv.« Der General räusperte sich. »Unterschreiben Sie.«
Keyes warf Nick einen kurzen Blick zu, den dieser leise seufzend erwiderte. Etwas anderes blieb ihnen nicht übrig, wenn sie jemals wieder hier rauskommen wollten. Also nickte er, blätterte auf die letzte Seite des Papierstapels und unterschrieb. Keyes tat es ihm gleich. Und kaum hatten sie die Stifte zurückgezogen, trat auch schon einer der Soldaten auf sie zu und nahm die Dokumente an sich.
»Ziehen Sie sich an und machen Sie sich abmarschbereit«, befahl der General. »Eine Maschine wird Sie zurück zur Schriever Space Force Base bringen.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ ihre Zelle. Die Soldaten folgten ihm und zogen die Tür hinter sich zu, schlossen sie allerdings nicht ab.
»Er täuscht sich«, sagte Keyes sofort und griff nach ihren Kleidern. »Diese Sache ist nicht vorbei.«
»Mein Reden«, stimmte Nick ihr zu. »Die Atomwaffen funktionieren noch immer nicht – das heißt, dass die Aliens weiter auf den richtigen Moment warten. Vielleicht hat ihnen unser Aufeinandertreffen in der Mojave zu denken gegeben.«
»Oder sie wollten wirklich nur Körper.«
»Es spielt keine Rolle. Sie sind immer noch da draußen. Wir haben gesehen, wozu sie in der Lage sind. Der Krieg geht weiter. Die Menschheit nutzt sich weiter ab. Noch ein paar Monate und es gibt schlichtweg nicht mehr genug Soldaten, um den Planeten gegen irgendetwas zu verteidigen. Diese Mistviecher warten nur auf den richtigen Zeitpunkt zur Invasion. Gott, wie kann die Regierung nur so dumm sein?«
»Sie braucht gute Nachrichten für die Heimatfront«, murmelte Keyes tonlos. »Während der Offensive gegen Russland können sie sich keine offene Flanke in der Heimat leisten. Vielleicht haben wir tatsächlich ein paar Wochen Zeit zum Durchatmen, während diese Wesen ihr Vorgehen überdenken, aber früher oder später kommen sie zurück. Sie und die Artefakte. Wer glaubt, dass es vorbei ist, belügt sich selbst.«
»Was tun wir jetzt?«
»Wir tun, was wir können.« Keyes hielt einen Moment lang inne. »Und wir müssen wachsam bleiben. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Immerhin sind wir dazu an der richtigen Stelle. Komm jetzt. Je schneller wir wieder da draußen sind, desto schneller können wir herausfinden, wie lange uns noch bleibt, bis es wieder losgeht.«
Nick folgte ihr. Sie hatte recht. Es würde wieder losgehen. Wann, das wusste er nicht. Aber er wusste, dass es geschehen würde. Ganz gleich, was die Aliens auch vorhatten, jetzt hatten sie die Menschheit an dem Punkt, an dem sie am verwundbarsten war: Heillos im Krieg gegeneinander versunken, die eigenen Kräfte abnutzend und siegessicher über eine Bedrohung, die man überwunden glaubte, ohne sie zu verstehen oder auch nur ansatzweise absehen zu können, wie gewaltig sie wirklich war.
Vielen Dank fürs Lesen!
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