Was ich einmal werden möchte ...
Völlig außer Atem rutschten Albi und Lulu kurz nach dem Gong in ihre Bänke.
Nachdem sie gemeinsam alle Spinnen von Albi heruntergeklaubt hatten, waren sie erst nach der täglichen Begrüßung in ihr Klassenzimmer gestürmt.
Frau Brettschneider verzog säuerlich den Mund.
„Luise und Albert, wenn ihr auf dem Schulweg so trödeln könnt, dann habt ihr sicher auch genügend Zeit, morgen nach dem Unterricht alle Malunterlagen abzuwischen.“
Sie lief durch die Reihen und verteilte die Plastiksets, die die Kinder immer unter ihre Zeichen- blöcke legen mussten.
„Oh-oh!“, empörte sich Egon laut. Er hatte aus Albis Ranzen natürlich alles mitgehört. „Das ist so was von gemein.“
Albi stupste mit der Fußspitze leicht gegen seine Schultasche.
„Pssst!“
„Wie bitte?“ Frau Brettschneider erstarrte, nur ihre Schmetterlingsohrringe schaukelten leise. „Albert, du findest mich gemein?“
„Ähm … nein. Ich habe nur gesagt: So soll es sein.“
„Das will ich dir auch geraten haben.“
Frau Brettschneider legte die letzte Malunterlage vor Johanna, die ganz hinten bei der Tür saß. Dann schob sie sich das lilafarbene Tuch wieder zurecht, das sie in ihre Haare gewickelt hatte.
„Gut. Jetzt dürft ihr die Bilder herausnehmen, die ihr zu Hause fertig gemalt habt, damit ich sie einsammeln kann. Und auch eure Malkästen. Denn wir fangen gleich mit etwas Neuem an.“
Die Schüler begannen raschelnd unter den Tischen und in ihren Taschen zu kramen. Albi nutzte die Gelegenheit, um Egon über den Kopf zu streicheln. Auch wenn der Kleine dazwischenquakte – es war trotzdem ein schönes Gefühl für Albi, seinen liebsten Freund so nah bei sich zu wissen! Mit dem Zeigefinger kitzelte er den Krumpfling zärtlich am Bauch. Der kicherte lautlos.
„Meine Güte, Albert Artich, du gehörst heute wirklich nicht zur schnellen Truppe!“, sagte Frau Brettschneider.
Erschreckt zuckte Albi zusammen und sah auf. Er hatte gar nicht bemerkt, dass alle anderen Kinder ihre Bilder und Farben längst hervor-geholt hatten und nun zu ihm herüberstarrten. Götz, der in der Reihe neben ihm auf gleicher Höhe saß, streckte ihm die Zunge raus. Ohne nachzudenken, zog Albi das Nächste, was er erwischte, aus der Tasche … und legte seine Brotbox auf den Tisch.
„Also wirklich, Albert, das ist nicht ulkig!“ Frau Brettschneider schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Tuch halb über ihr rechtes Ohr rutschte. „Ich lass mich nicht von dir vergackeiern!“
Egon kicherte jetzt laut. Was für leckere Worte diese Lehrerin kannte!
Albi trat wieder gegen seine Tasche und zischte: „Sei doch still!“
„Werd mal nicht frech!“, empörte sich Frau Brettschneider. „So kenne ich dich überhaupt nicht, Albert. Anscheinend hast du heute einen Kasperl geschluckt.“
Die anderen Kinder kicherten jetzt auch. Nur Lulu stöhnte heimlich auf. Aber wie hätte sie dem armen Albi helfen können?
„Jetzt kommst du mal hierher, Albert, und machst zwanzig Kniebeugen an der frischen Luft. Das wird dir guttun“, befahl Frau Brettschneider. Sie trat zum Fenster und öffnete es. „Aber vorher räumst du die Brotbox weg und deine Sachen auf den Tisch. Ich bin schon gespannt, was du einmal werden möchtest. Vermutlich Zirkusclown!“
Albi biss die Zähne zusammen. Wenn Frau Brettschneider sein Bild erst sah, würde sie sich bestimmt nicht mehr über ihn lustig machen.
Er hatte sich richtig viel Mühe gegeben und das ganze Blatt voll mit Pflanzen und seltenen Tieren gemalt. Sogar ihre lateinischen Bezeichnungen hatte er aus einem Lexikon seines Vaters herausgesucht und darunter geschrieben. Dazwischen war er selbst mit Fernglas und Tropenhelm zu sehen. Albi wollte nämlich Dschungelforscher werden! Dann würde er neue, unbekannte Lebewesen wie die Krumpflinge entdecken.
Nachdem er sein Gemälde mitten auf seinen Tisch platziert hatte, trottete er brav zum Fenster, um die Kniebeugen zu machen. Frau Brettschneider begann in der ersten Reihe bei den beiden Annas die Zeichnungen einzusammeln. Die Locken-Anna erklärte der Lehrerin umständlich, welchen Schauspielerinnen sie als Friseurin Dauerwellen machen würde. Lulu nutzte die Zeit, um ihre Astronautin, die sie am Vorabend noch recht schlampig auf den Block gekritzelt hatte, zu verzieren. Und Egon öffnete in Albis Schulranzen die Brotbox, die nun direkt vor seiner Schnauze gelandet war. Es duftete so gut daraus!
Kurz: Keiner schaute zu Götz. Der schielte neidisch auf Albis Blatt hinüber. Es war zu ärgerlich, wie schön dieser Streber malen konnte! Und die Idee mit dem Dschungelforscher war auch toll. Götz träumte eigentlich davon, Torwart zu werden, aber sein Vater hatte ihn ausgelacht. Weil Götz im Tor meistens zur Seite sprang, um dem Ball auszuweichen. Daraufhin war ihm nichts Besseres als der Beruf seines Vaters eingefallen: Sachbearbeiter. Aber als er jetzt Albis Bild sah, platzte die Eifersucht in ihm wie eine Gewitterwolke. Götz angelte sich heimlich Albis Kunstwerk und tauchte seinen Pinsel in die Farbe …
Frau Brettschneider und Albi kamen ungefähr gleichzeitig an dessen Platz an. Albi wurde übel, als er sah, was Götz angerichtet hatte: Über all seine liebevoll gezeichneten Tiere waren fette, hässliche Spinnen geschmiert. Die dickste Spinne saß auf dem Tropenhelm des Forschers, hatte Schmetterlingsohrringe und einen lilafarbenen Tuchturban auf ihrem Kopf. Man konnte gleich erkennen, dass dies der Haarschmuck von Frau Brettschneider sein sollte. Hinter „Was ich einmal werden möchte …“ stand jetzt in fetten Buchstaben: „… Spinendomtör“.
Götz hatte Spinne nur mit einem N geschrieben. Der Anblick tat Albi in der Seele weh.
„D … d … das …“, stotterte er verzweifelt. „… ist die größte Frechheit, die ich in meinem Leben gesehen habe“, sagte Frau Brettschneider und zerriss Albis Arbeit vor den Augen aller Klassenkameraden.