22
Nach einer Weile stand Hendrik auf und ging zum Esstisch, auf dem sein Notebook stand. Er klappte es auf und entsperrte das Display. Er wollte wissen, was es mit diesem Arzt auf sich hatte. Welchen Grund konnte ein Kollege, der gerade entlassen worden war, gehabt haben, ihn zu Hause aufzusuchen, um ihm mitzuteilen, dass er Linda mit Krollmann zusammen gesehen hatte? Und welchen Grund konnte jemand anderes – ein Polizist? – gehabt haben, ihn daraufhin zu erschießen?
Von Kantstein würde er nichts erfahren. Laufende Ermittlungen … gegen seinen eigenen Partner. Er schob die Gedanken an den mürrischen Polizisten beiseite, öffnete den Browser und gab in das Suchfeld Dr. Dirk Steinmetz
ein.
Im selben Moment, in dem Hendrik die Entertaste drückte, klingelte sein Smartphone. Es lag noch auf dem Sessel, also stand er auf und ging hinüber. Es war Alexandra.
»Na, wie sieht es aus, haben Sie mittlerweile entschieden, ob Sie Ihrer Verlobten vertrauen und endlich etwas unternehmen wollen, um sie zu finden? Oder wollen Sie sie lieber im Stich lassen?«
»Das nenne ich ja mal eine Begrüßung.«
»Und?«
»Es gibt so viele Ungereimtheiten in dieser Sache … Kantstein war eben hier und hat mir erzählt, dass Kommissar Sprang wegen des Verdachts des Mordes an Steinmetz festgenommen worden ist.«
»Was? Thomas? Aber das kann doch nicht sein. Wie … ich meine, aus welchem Grund sollte er jemanden umbringen?«
»Die Kugel, mit der Steinmetz erschossen worden ist, stammt wohl aus Sprangs Dienstwaffe, die die Polizei in der Nähe des Tatorts gefunden hat.«
»Ich glaube das nicht.« Hendrik konnte das Entsetzen in Alexandras Stimme hören. »So sehr kann ich mich nicht in einem
Menschen täuschen.«
»Ich kann es mir auch nicht vorstellen, vor allem weil die angeblichen Beweise so offensichtlich sind. So dumm kann doch niemand sein.«
»Mit seiner Waffe, die dann am Tatort gefunden wird … nein. Das kann nur manipuliert sein. Irgendwer möchte ihn als Mörder inszenieren.« Sie atmete schnaubend ins Telefon. »Aber das ist eine andere Sache. Darüber denke ich später nach. Lassen Sie uns zu Ihrer Verlobten zurückkehren. Glauben Sie, dass sie Sie freiwillig verlassen hat? Das ist wichtig, denn wenn es so ist, kann ich mir meine Zeit auch sparen.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Und nein, ich denke nicht, dass sie mit diesem Krollmann unterwegs ist. So sehr kann ich mich nicht in ihr getäuscht haben. Ich denke, sie ist entführt worden, und ich möchte sie finden. Auch wenn ich noch immer nicht verstehe, was es mit diesem Dr. Steinmetz auf sich hat und welche Rolle er in der Sache spielt. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
»Na endlich. Dann kann ich Ihnen ja erzählen, was ich mittlerweile herausgefunden habe. Ich habe nämlich keine Sekunde daran gezweifelt, dass Ihre Verlobte aus Ihrem Haus entführt wurde.
Also, ich habe alle meine Kontakte aktiviert, um herauszufinden, welche Computerfreaks als Tester für Adam
in Frage gekommen waren. Es fielen verschiedene Namen von Gruppen und auch Einzelpersonen, sogar der Chaos Computer Club wurde erwähnt, aber ein Name begegnete mir immer wieder, egal wen ich gefragt habe: Marvin
.
Alle, mit denen ich geredet habe, sprachen mit einer gewissen Ehrfurcht von ihm. Es soll angeblich kein System geben, das er nicht knacken kann, es sei denn, er hat es selbst programmiert oder getestet und die Lücken aufgezeigt. Der Kerl ist in der Szene so etwas wie ein Phantom. Keiner weiß wirklich, wie er aussieht. Es gibt hier und da Beschreibungen, aber die gehen so weit auseinander, dass jeder Marvin sein könnte.«
»Wie haben Sie das alles herausgefunden? Ich meine … woher haben Sie als Psychologiestudentin diese Kontakte? Und warum
erzählen Ihnen diese Leute all diese Dinge?«
»Na ja, zum einen kenne mich recht gut mit der menschlichen Psyche aus, und außerdem bin ich nicht auf den Kopf gefallen. Das hat den Vorteil, dass man Menschen, sagen wir mal, in eine gewisse Richtung lenken kann, ohne dass sie es merken.«
»Gerade bekomme ich ein ganz seltsames Gefühl, wenn ich mich mit Ihnen unterhalte.«
Sie stieß ein kurzes, helles Lachen aus, schaltete jedoch sofort wieder um. »Aber bleiben wir bei Marvin. Er hat wohl allen Grund, inkognito zu bleiben, denn es gibt da einige Aktionen von ihm, für die er sogar in den Knast wandern könnte. Er war schon auf den Websites verschiedener Bundesministerien und hat dort witzige Nachrichten hinterlassen als Zeichen, dass er Zugang hatte. Bei einigen Firmen hat er es allerdings nicht damit bewenden lassen. Seine Spezialität ist es wohl, die Seiten größerer Firmen oder Konzerne zu hacken und die eigentlichen Administratoren auszusperren. Dann stellt er dort ein bisschen Unfug an und lässt sich dafür bezahlen, den Eigentümern wieder Zutritt zu verschaffen und zu verraten, wie es ihm gelungen ist, ihre Firewalls zu überwinden und ihr System zu knacken. Letztendlich nichts anderes als Erpressung. Angeblich ist es ihm sogar gelungen, in das interne Netz von Microsoft einzudringen. Man sagt, die haben ihm daraufhin eine bemerkenswerte Summe bezahlt, damit er das nicht an die große Glocke hängt, ihnen aber verrät, wie er es geschafft hat.
Mit der Zeit sind dann wohl immer mehr Firmen von sich aus auf ihn zugegangen, um ihre Netzwerke, Anlagen oder Computer von ihm checken zu lassen. Ich schätze mal, er ist mittlerweile ein wohlhabender Mann. Tja, und wenn Adam
wirklich so sicher ist, wie Buchmann das behauptet, und kein anderer Hacker es geschafft hat, dort einzudringen, dann liegt die Vermutung nahe, dass Marvin ihn getestet und optimiert hat.«
»Aber wenn dieser Kerl so viel Geld von großen Firmen bekommen hat, warum sollte er sich dann mit einem verhältnismäßig kleinen Laden wie Hamburg Home Systems
abgeben? Die haben doch höchstens dreißig Mitarbeiter oder so.«
»Knapp fünfzig, aber das spielt keine Rolle. Der Grund liegt auf der Hand, wenn man sich ein wenig mit der Psyche von Menschen
auskennt. Gerade mit der von Typen wie diesem Marvin. Sehen Sie, da haben wir es schon wieder.« Sie lachte wieder, dann fuhr sie fort. »Er ist ein Star, er wird in der Szene verehrt, und wie schon erwähnt, ist er inzwischen wahrscheinlich recht vermögend, so dass er kleine Aufträge wie Adam
nicht mehr annehmen müsste. Es sei denn, es hat ihn der Gedanke gereizt, Zugriff auf dieses System zu bekommen und damit Herrscher über alle Häuser und Wohnungen zu sein, in denen Adam
verbaut ist. Wir reden hier nicht über Webseiten oder Firmennetzwerke, mit denen er sich normalerweise beschäftigt. Totem Programmiercode. Hier geht es um die Macht über ganze Familien. Menschen, mit denen er spielen kann, wenn er es möchte.
Sie haben mir davon erzählt, wie das Licht in Ihrem Haus wie von Geisterhand gedimmt und wieder hochgefahren wurde. So etwas meine ich. Oder wann immer er es möchte, fremde Häuser betreten zu können. In die intimsten Bereiche vorzudringen. Die Schlafzimmer, Badezimmer … sogar, wenn jemand zu Hause ist. Marvin könnte nachts neben Ihrem Bett gestanden und Sie beim Schlafen beobachtet haben.«
Der Gedanke jagte Hendrik einen kalten Schauer über den Rücken.
»Er kann sich in die internen Kameras einklinken, mit denen Adam
ausgestattet ist, und die Bilder von ihnen empfangen. Die Leute bei allem beobachten, bei dem sie sich unbeobachtet fühlen. Intimste Momente. Das ist es, was Typen wie ihn reizt. Die uneingeschränkte Macht über ihm völlig fremde Menschen.«
Im Schlafzimmer und im Bad hatte Hendrik keine Überwachungskamera installiert, aber neben den drei Außenkameras gab es auch eine im Wohn- und Essbereich. Hendrik hob den Kopf und richtete den Blick auf die Halbkugel aus Glas, die als Lampe getarnt in der Mitte des Raumes unter der Decke hing und unter der sich unsichtbar die 360
-Grad-Kamera befand. Bilder schossen ihm durch den Kopf, Situationen … mit Linda. Der Sex hatte sich bei ihnen noch nie nur auf das Schlafzimmer beschränkt. Der Esstisch, die Couch, der Wohnzimmerboden, vor dem Kaminofen … alles Bereiche, die die Rundumkamera erfassen konnte, wenn sie über die App gesteuert wurde. Er hatte das schon ausprobiert. Die Bilder waren gestochen scharf. Er war versucht, die
Kamera von der Decke zu schlagen.
»Sind Sie noch da?«, riss Alexandra ihn aus seinen Gedanken.
»Ja … keine schöne Vorstellung. Wenn ich das also richtig verstanden habe, müssen wir diesen Marvin finden, ein Phantom
, von dem niemand weiß, wie es aussieht, und das einen guten Grund hat, sich nicht zu erkennen zu geben. Sehe ich das richtig?«
»Ganz genau. Wobei nicht gesagt ist, dass Marvin wirklich derjenige ist, der hinter alldem steckt.«
»Das verstehe ich nicht. Ich dachte …«
»Die Beschreibung, die ich Ihnen gerade gegeben habe, passt auch auf andere. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Marvin uns bei der Suche nach demjenigen helfen kann, ist recht groß, weil er ähnlich tickt. Ich werde auf jeden Fall versuchen, ihn zu finden.«
»Aha! Und wie soll das funktionieren?«
»So wie Firmen ihn auch finden. Man hinterlässt auf einschlägigen Seiten im Darknet eine Nachricht für ihn, in der steht, was man von ihm möchte. Wenn es ihn interessiert, wird er sich melden.« Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: »Man muss eben dafür sorgen, dass es ihn interessieren könnte.«
»Darknet? Ich habe zwar schon einiges davon gehört, aber ich habe keine Ahnung, was genau das ist. Außer dass man dort wohl alles kaufen kann, was illegal und verboten ist.«
»Ja, so ungefähr. Und Sie müssen sich damit auch nicht auskennen, darum kümmere ich mich. Ich kenne da jemanden, der jemanden kennt …«
»Ich glaube, das möchte ich gar nicht wissen. Aber wenn das alles so ist, wie Sie es annehmen, würde das ja bedeuten, dieser Marvin könnte
etwas mit Lindas Verschwinden zu tun haben. Und das wiederum bedeutet, es könnte gefährlich werden, wenn er bemerkt, dass wir nach ihm suchen.«
»Ich kann mich im Web ebenso gut verstecken wie er. Falls ich recht habe, wäre es viel gefährlicher gewesen, Adam
weiter in Betrieb zu lassen. Gut, dass Sie das System ausgeschaltet haben.«
Binnen weniger Sekunden bildete sich ein kalter Schweißfilm auf Hendriks Stirn.
Adam
.
»Ich …«, sagte er leise. »So ein Mist. Adam
ist aktiv.«
»Was? Aber warum? Ich habe Ihnen doch gesagt, wie
gefährlich das sein kann.« Hendrik merkte, wie aufgebracht Alexandra mit einem Mal war.
»Ja, ich weiß«, entgegnete er scharf und mit dem Gefühl, sich verteidigen zu müssen. »Ich dachte auch, ich hätte das System heruntergefahren. Und nachdem dieser Steinmetz mir von Linda und Krollmann erzählt hat … Es klang so plausibel und hat genau zu dem gepasst, was die Polizei mir gesagt hat. Da dachte ich, diese Geschichte mit Adam
ist übertrieben, und wollte das System wieder aktivieren. Dabei habe ich festgestellt, dass es noch lief. Ich habe wohl beim Runterfahren etwas übersehen.«
»Wissen Sie, was das bedeutet?« Alexandra sprach nun ganz leise »Das bedeutet, wenn ich recht habe, und daran zweifle ich keine Sekunde, dass wir jetzt wahrscheinlich in großen Schwierigkeiten sind.«
»Es tut mir leid«, antwortete Hendrik ebenso leise.
»Schalten Sie Adam
, um Gottes willen, aus. Löschen Sie die App, falls Sie die auch wieder installiert haben. Ich rufe Sie später noch mal an. Jetzt muss ich darüber nachdenken, was wir tun können. Bis später.« Ohne ein weiteres Wort legte Alexandra auf.
Hendrik ließ das Smartphone sinken. Er kam sich vor wie ein Idiot. Blieb nur zu hoffen, dass, falls jemand sich tatsächlich in Adam
einklinken konnte, derjenige ihr Gespräch nicht belauscht hatte. Verunsichert hob er das Telefon wieder an, wischte über das Display und starrte dann fassungslos darauf. Er war sicher, nein, er wusste
, er hatte die App gelöscht und auch nicht wieder installiert, und doch war das blaue Rechteck mit dem stilisierten weißen Haus darin zu sehen.
»Wie ist das möglich?«, flüsterte er und registrierte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Mit einem leichten Druck auf das Icon öffnete sich ein kleines Menü, das ihm anbot, die App zu löschen, sie zu teilen oder den Home-Bildschirm zu bearbeiten. Er tippte auf den roten Menüpunkt mit dem angedeuteten Papierkorb dahinter. In einem neuen Fenster musste er bestätigen, dass er Adam
löschen wollte, was er tat. Gleich darauf war das Icon verschwunden. Zur Sicherheit blätterte er alle Seiten durch, aber Adam
war dieses Mal tatsächlich verschwunden. Vielleicht hatte er
vergessen, den ersten Löschversuch zu bestätigen. Er versuchte, sich zu erinnern – vergeblich, zu vieles war in den letzten Tagen passiert.
Ein wenig beruhigt fiel sein Blick auf das Notebook, auf dem er Adam
zwar nicht installiert hatte, aber nach der Erfahrung gerade eben wollte er lieber auf Nummer sicher gehen.
Er trat zum Esstisch, setzte sich vor das aufgeklappte Gerät und entsperrte den Monitor. Die Browserseite mit seiner Suche nach Steinmetz war noch geöffnet und zeigte ihm neben einer ganzen Liste an Textvorschlägen, in denen der Name des Arztes auftauchte, auch drei Beispiele des Ergebnisses der Bildersuche in Form von stark verkleinerten Fotos. Es war dreimal derselbe Mann, einmal im Anzug, zweimal mit einem weißen Arztkittel bekleidet.
Hendrik betrachtete die Bilder und beugte sich dann nach vorn, um das Gesicht des Mannes besser erkennen zu können. Zwei, drei Atemzüge starrte er darauf, dann klickte er mit zitternden Händen auf den Link darüber: Ergebnisse der Bildersuche anzeigen.
Die sich öffnende Seite präsentierte Dutzende von Fotos, auf denen – mal einzeln, mal in einer Gruppe – immer wieder derselbe Mann zu sehen war, und in den Bildunterschriften stand sein Name – Dr. Dirk Steinmetz. Bei einem Bild sogar mit dem Zusatz: Stellv. Chefarzt der Chirurgie, Evangelisches Krankenhaus Alsterdorf.
Kein Zweifel, das musste Dr. Steinmetz sein. Was Hendrik jedoch veranlasste, schockiert aufzustöhnen, war die Tatsache, dass es sich definitiv nicht um den Mann handelte, der ihn besucht und ihm von Linda und Jonas Krollmann erzählt hatte.