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»Was ist?« Gerdes hatte offensichtlich bemerkt, dass Hendriks Gesichtsausdruck sich verändert hatte, und sah ihn alarmiert an.
Hendrik richtete sich auf. »Adam
!«
»Was?« Die Verwirrung war dem Chefarzt deutlich anzusehen.
»Mein Smart-Home-System! Wir haben doch bei deinem Besuch bei mir noch darüber geredet.«
»Ich erinnere mich, ja. Aber was ist damit?«
»Was ich eben gesagt habe, stimmt nicht. Vollkommener Quatsch. Ich habe
Aufnahmen von diesem falschen Dr. Steinmetz. Er war doch bei mir im Wohnzimmer. Dort hängt eine Überwachungskamera, die auf Bewegung reagiert und alles aufzeichnet. Das heißt, der Kerl muss auf der Aufnahme zu sehen sein.«
Der Gedanke, vielleicht herausfinden zu können, wer dieser Betrüger war, der sich als Dr. Dirk Steinmetz ausgegeben hatte, machte Hendrik Hoffnung und ließ seine Laune gleich ein bisschen besser werden. Endlich ein Lichtblick. Falls der Kerl irgendwie in dieser Sache mit drinsteckte, hatte er mit seinem Besuch bei Hendrik einen Fehler gemacht. Und falls Alexandra recht hatte und Adam
tatsächlich dazu benutzt worden war, ins Haus einzudringen und Linda zu entführen, war es sogar ein extrem dummer Fehler.
Gerdes’ Gesicht hellte sich kurz auf. »Das ist doch mal eine gute Nachricht. Aber …« Er runzelte zweifelnd die Stirn. »Du sagst, diese Kamera reagiert auf Bewegung. Das würde ja bedeuten, wenn du zu Hause bist, nimmt sie permanent auf. Ich bin kein IT
-Spezialist, aber sind das nicht riesige Datenmengen, die da produziert werden?«
»Doch.« Hendrik stand auf. Er musste so schnell wie möglich nach Hause, um sich die Aufnahmen anzuschauen. »Aber die Aufzeichnungen werden nur für eine Woche gespeichert und dann überspielt. Die Datei mit dem falschen Steinmetz muss also auf jeden
Fall noch vorhanden sein.« Er hielt inne und fasste sich wie vom Donner gerührt an die Stirn. »O mein Gott.«
»Was ist?«
Hendrik starrte an seinem Chef vorbei. Wie hatte er das nur übersehen können?
»Eine Woche … weißt du, was das bedeutet?«
Gerdes blickte ihn verständnislos an und zuckte mit den Schultern.
»Paul, die Nacht, in der Linda verschwunden ist … das ist noch keine Woche her.«
Mit wenigen Schritten war er um den Schreibtisch herum, klappte sein Notebook zu, das noch immer vor Gerdes stand, und nahm es an sich.
»Die Aufzeichnungen der Kamera von dieser Nacht müssen ebenfalls noch vorhanden sein. Und vielleicht ist darauf zu erkennen, was passiert ist. Ich bin ein solcher Idiot. Wie konnte ich das nur übersehen?«
Während er sich abwandte, sagte Gerdes: »Halt mich auf dem Laufenden.«
»Ja, klar«, antwortete Hendrik, dann war er auch schon durch die Tür und hetzte den Flur entlang. Die Aussicht, zumindest eine kleine Chance zu haben, herauszufinden, was in der Nacht von Lindas Verschwinden passiert war, machte Hendrik Hoffnung. Zum ersten Mal seit dem Moment, als er in jener Nacht nach Hause gekommen war.
Er musste sich zusammennehmen, um nicht auf dem Weg von der Klinik zu seinem Haus in Winterhude das Gaspedal bis zum Anschlag durchzutreten.
Zwischendurch dachte er daran, dass er Adam
wieder hochfahren musste, wenn er Zugriff auf die gespeicherten Videodateien haben wollte, aber das nahm er in Kauf. Und falls Alexandra anrief, würde er das Gespräch nicht annehmen, sondern sie zurückrufen, sobald er Adam
wieder heruntergefahren hatte.
Fast wäre Hendrik auf den dunklen Audi aufgefahren, der direkt in seiner Auffahrt geparkt hatte, und noch bevor er den Mann entdeckte, der vom Haus her auf ihn zukam, wusste er, zu wem das Fahrzeug gehörte.
»Da sind Sie ja«, sagte Kantstein, als Hendrik ausstieg, und bemühte sich gar nicht erst, den Anschein von Freundlichkeit zu erwecken. Hendrik war irritiert, den Hauptkommissar zu sehen.
»Gibt es Neuigkeiten zu Linda?«
Kantstein schüttelte den Kopf. »Nein, und bei Ihnen? Haben Sie etwas von Ihrer Verlobten gehört?«
»Nein.« Hendrik verzichtete darauf, zu fragen, weshalb Kantstein zu ihm gekommen war. Er wollte so schnell wie möglich ins Haus und sich die Aufzeichnungen ansehen.
»Ich bin wegen Dirk Steinmetz hier«, erklärte der Hauptkommissar. »Wegen seines Besuchs bei Ihnen.«
Hendrik zögerte kurz, entschloss sich dann aber, Kantstein zu erzählen, was er mittlerweile in Erfahrung gebracht hatte.
»Nicht Dr. Steinmetz hat mich besucht.«
Wenn Kantstein überrascht war, konnte er das gut verbergen. »Ach? Wer denn dann?«
»Ich habe im Internet Fotos von Steinmetz gesehen. Das ist nicht der Mann, der bei mir war.«
»Und wissen Sie, wer es war?«
»Noch nicht, aber vielleicht bald. Und nicht nur das.«
Hendrik erzählte dem Polizisten von den Aufzeichnungen, sowohl von Steinmetz als auch von der Nacht, in der Linda verschwunden war.
Kantstein runzelte die Stirn. »Und das fällt Ihnen erst jetzt ein?«
»Ja. Sie als Ermittler sind ja auch nicht auf den Gedanken gekommen.«
»Woher sollte ich denn wissen …« Kantstein winkte ab und deutete zum Haus. »Dann los. Das möchte ich mir auch ansehen.«
Hendrik nickte und setzte sich in Bewegung. Er wusste nicht, warum, aber Kantsteins Anwesenheit war ihm unangenehm. Egal, in wenigen Minuten würde er vielleicht endlich herausfinden, was mit Linda geschehen war.
An der Haustür angekommen, zog er den Schlüssel aus der Tasche und dachte beim Aufschließen darüber nach, wie ungewohnt es mittlerweile für ihn war, die Tür auf diese althergebrachte Art und nicht per Fingerscan zu öffnen.
Adam
hochzufahren dauerte keine zwei Minuten, in denen
Kantstein hinter ihm stand und ihn interessiert beobachtete. Kurz darauf saßen sie am Tisch, und Hendrik klappte das Display des Notebooks auf. Bisher hatte er sich – wenn überhaupt – Aufzeichnungen immer auf dem Smartphone angesehen, doch da er die Adam
-App so oder so neu installieren musste, konnte er das ebenso auf dem Notebook tun, wo er ein größeres Bild haben würde.
»Wo hängt diese Kamera?«, wollte Kantstein wissen, während Hendrik sein Passwort eintippte. Hendrik sah auf und zeigte zur Decke in der Zimmermitte. »Dort, die Halbkugel, die aussieht wie eine kleine Lampe.« Nach einer kurzen Pause, in der er die Kamera anstarrte, fügte er grimmig hinzu: »Dabei fällt mir etwas ein. Einen Moment, bitte.«
Obwohl er es nicht erwarten konnte, sich die Aufzeichnungen anzusehen, stand er auf, verließ das Wohnzimmer und lief durch die Zwischentür in der Diele in die Garage. Dort nahm er die kleine Treppenleiter vom Haken neben der Tür und ging zurück ins Wohnzimmer. Nachdem er die Leiter unter der Kamera aufgestellt hatte, holte er sich aus der Küche eine Rolle braunes Paketband und eine Schere.
Kantstein beobachtete schweigend, wie Hendrik nervös an der Halbkugel herumhantierte, bis er die Kamera schließlich mit dem Paketband umwickelt hatte. »Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Hendrik knapp, als er den fragenden Blick des Ermittlers bemerkte.
Obwohl die Kamera nicht mehr aufzeichnen konnte, drehte er den Computer auf dem Esstisch so, dass der Bildschirm nicht erfasst wurde.
»Sie wollen aber zu hundert Prozent auf Nummer sicher gehen, was?«, kommentierte Kantstein.
Hendrik ging nicht darauf ein, sondern konzentrierte sich auf den Bildschirm.
Nachdem er die Adam
-App installiert und sich erfolgreich per Code, den er verdeckt eingab, und Eyescan über die Kamera als Administrator identifiziert hatte, navigierte er mit fahrigen Bewegungen im Applikations-Menü zu den gespeicherten Aufnahmen der Kamera.
»Wie lange bleiben die Aufnahmen gespeichert?«, wollte Kantstein wissen.
»Eine Woche, dann werden sie überschrieben«, erklärte Hendrik, während er das Sicherungsverzeichnis anklickte.
Die Dateinamen begannen mit dem Präfix WoZi-,
gefolgt von Datum und Uhrzeit der jeweiligen Aufnahme.
Es dauerte nicht lange, bis er die Dateien von der Nacht gefunden hatte, in der Linda verschwunden war. Er ging die angegebenen Uhrzeiten durch und fand eine Aufnahme von vier Uhr dreiunddreißig.
»Hier!« Er deutete aufgeregt darauf. »Das war die Zeit, als ich nach Hause gekommen und bei meiner Suche nach Linda das Wohnzimmer betreten habe. Die Datei davor ist von ein Uhr fünf. Das muss es ein.«
Sein Puls raste, als er das Video mit einem Doppelklick startete. Es begann mit … Linda! Sie kam ins Wohnzimmer, blickte sich um, ging zum Tisch. Sie schien ruhig, ihre Gesichtszüge waren völlig entspannt. Nach einem weiteren Rundumblick wandte sie sich ab und sagte im Hinausgehen etwas, das Hendrik zwar nicht verstand, dessen Sinn aber klar war, als der Raum dunkel wurde. Zehn Sekunden später war das Video zu Ende.
Hendrik starrte auf das Display. »Das war’s?«, hörte er sich leise sagen.
»Ist das die einzige Kamera im Haus?«, fragte Kantstein »Was ist mit dem Eingangsbereich und der oberen Etage?«
»Nein, ich … oben wollte ich keine Kameras. Aber draußen hängen insgesamt drei. Moment.«
Er navigierte durch das Dateisystem zu dem Ordner Aussen-
1
,
in dem die Aufzeichnungen der Kamera über der Haustür gespeichert waren, und anschließend im Verzeichnis dann zu der Nacht von Lindas Verschwinden.
»Mist!«, stieß er aus, als er die entsprechenden Dateien vor sich hatte. »Die letzte Aufzeichnung ist von achtzehn Uhr zehn. Da bin ich von der Tagschicht im Krankenhaus nach Hause gekommen. Die nächste stammt dann erst wieder von dem Zeitpunkt, als ich am frühen Morgen von meinem nächtlichen Einsatz zurückkam. Alles dazwischen fehlt.«
In den Verzeichnissen Aussen-
2
und Aussen-
3
,
die die Bereiche um die Garage und die Terrasse abdeckten, zeigte sich ein ähnliches
Bild. Auch dort gab es von der entsprechenden Nacht keine Aufzeichnungen.
»Nichts«, stellte Hendrik mit einer Mischung aus Resignation und Wut fest und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Verdammt!«
»Also nur die hier im Wohnzimmer, das Ihre Verlobte ganz friedlich verlassen hat, wie wir sehen konnten. Das ist schade, aber auch nicht weiter verwunderlich. Wenn sie oben ihren Koffer gepackt und dann das Haus verlassen hat, kann diese Kamera das kaum aufzeichnen.«
»Dann müsste das aber die Außenkamera über der Tür aufgenommen haben. Hat sie aber nicht. Und die anderen auch nicht.«
»Hm …«, machte Kantstein. »Aber müsste es solche Aufzeichnungen aus dem Außenbereich nicht auch geben, wenn sie entführt worden wäre? Wenn ich das richtig verstehe, kann man Ihr Haus weder betreten noch verlassen, ohne von einer der Kameras erfasst zu werden. Wie also hat ein möglicher Entführer es geschafft, sie hinauszuschaffen, ohne dabei gefilmt zu werden?«
»Ganz einfach«, fuhr Hendrik ihn an. »Wenn ein Fremder Adam
von außen so steuern kann, dass er ins Haus gelangt, dann kann er über das System auch die Dateien löschen, auf denen etwas zu sehen ist, was niemand sehen soll. Das ist doch wohl logisch, oder?«
Kantstein zuckte mit den Schultern. »Hat Ihre Verlobte Zugriff auf das System?«
»Natürlich.«
»Könnte sie Dateien löschen, die niemand sehen soll?«
Hendrik musste sich sehr zusammenreißen, um Kantstein nicht anzuschreien, konnte aber nicht verhindern, dass er lauter wurde. »Ja, verdammt, das könnte sie, aber das heißt gar nichts.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber Fakt ist, dass wir noch immer keinen Beweis dafür haben, dass Ihre Verlobte entführt wurde. Also sind wir genauso weit wie zuvor.«
Als Hendrik nicht antwortete, deutete Kantstein auf das Display. »Was ist mit diesem Kerl, der sich als Steinmetz ausgegeben hat? Schauen wir uns noch das Video von seinem Besuch an?«
Hendrik fühlte sich mit einem Mal kraftlos. Er wusste nicht genau,
was er sich von den Aufzeichnungen erhofft hatte, doch das, was sie gerade gesehen, oder besser, was sie eben nicht
gesehen hatten, half tatsächlich kein bisschen weiter. Aber es nutzte nichts, er musste weiter nach Hinweisen suchen.
Hendrik nickte und überlegte kurz, wann der falsche Doktor Steinmetz bei ihm aufgetaucht war. Es dauerte nicht lange, dann hatte er das entsprechende Video gefunden und startete es.
Zu sehen war ein Ausschnitt des Wohnzimmers mit der Couch, dem niedrigen Tisch, einem der beiden Sessel und der Wohnzimmertür dahinter – die normale Einstellung der Kamera. Auf der Couch, wo der falsche Dr. Steinmetz bei seinem Besuch gesessen hatte, saß … er selbst. Hendrik beobachtete sich eine Weile dabei, wie er an seinem Smartphone herumtippte, es dann zur Seite legte und sich mit einem Lächeln dem großen Glaselement zuwandte, das den Blick auf die Terrasse freigab. Im selben Moment schwenkte die Kamera herum, was bedeutete, dass es eine Bewegung gab. Hendrik wunderte sich, Steinmetz hatte doch auf der Couch gesessen.
In der nächsten Sekunde hatte das Objektiv die Person erfasst, die, von der Terrasse kommend, das Wohnzimmer betreten hatte. Hendriks Unterkiefer klappte auf. Die Person, die ihn vom Bildschirm seines Notebooks aus anlächelte, war … Linda.