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Binnen einer Sekunde war Hendrik wieder hellwach. Der falsche Dr. Steinmetz war der ehemalige IT
-Leiter der Firma Hamburg Home Systems
und somit derjenige, der anfangs für Adam
verantwortlich gewesen war. Er hatte die ersten Tests durchführen lassen, und Hendrik hätte seine rechte Hand darauf verwettet, dass die nicht von Mitgliedern des Chaos Computer Clubs erledigt worden waren.
Hendrik lehnte sich zurück und schüttelte fassungslos den Kopf, weil er es selbst nicht glauben konnte, dass er den
Hinweis gefunden hatte, der aus seiner Sicht den Beweis dafür lieferte, dass Linda entführt worden war. Warum sonst sollte der Mann, der die Kontrolle über Adam
gehabt hatte, ihm unter falschem Namen eine Geschichte unterjubeln, um ihn davon zu überzeugen, dass Linda ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte?
Hatte dieser Kehrmann auch den echten Dr. Steinmetz ermordet?
Mit fahrigen Fingern griff Hendrik nach seinem Smartphone und rief Kommissar Sprang an. Es dauerte eine Weile, bis der das Gespräch annahm. Seine Stimme klang verschlafen.
»Ja?«
»Ich habe herausgefunden, wer der Kerl war, der sich bei mir als Dr. Steinmetz ausgegeben hat«, sprudelte es aus Hendrik heraus. »Es war der Vorgänger von Wolfsfelder. Der ehemalige IT
-Leiter von Hamburg Home Systems
. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Moment, langsam, ich bin noch nicht ganz da. Sie sagen, der falsche Steinmetz ist der ehemalige Chef der IT
-Abteilung?«
»Ja, genau, ich habe ein Foto von ihm entdeckt. Er ist es, ohne Zweifel. Er hatte alle Möglichkeiten, etwas in Adam
einzubauen, das ihm die Kontrolle über die Systeme gibt. Wahrscheinlich hat er es so versteckt, dass auch kein Hacker es finden konnte. Was weiß ich, welche Optionen es da gibt. Da kann uns vielleicht Alexandra
weiterhelfen. Aber wir haben jetzt einen Anhaltspunkt. Und es würde mich nicht wundern, wenn er den echten Dr. Steinmetz umgebracht hat. Verstehen Sie? Damit wäre Ihre Unschuld bewiesen. Und auch Kantstein muss jetzt einsehen, dass Linda mich nicht verlassen hat, sondern einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Und dass Sie …«
»Können Sie mir das Foto schicken? Oder noch besser den Link?«
»Ja, natürlich. Ist das nicht irre? Endlich haben wir einen Punkt, an dem wir ansetzen können. Ich rufe gleich Kantstein an und erzähle ihm davon. Ich würde zu gern sein Gesicht sehen, wenn …«
»Das sollten Sie nicht tun«, unterbrach Sprang ihn erneut.
»Aber … warum nicht?«
Hendrik hörte ein Schnauben, dann, nach einigem Zögern, sagte Sprang: »Ich wollte mit niemandem darüber reden, solange ich keine eindeutigen Beweise habe, aber … ich halte es für möglich, dass Georg irgendwie in dieser Sache mit drinhängt.«
Hendrik war nicht so überrascht, wie er es noch eine Woche zuvor gewesen wäre, wenn ein Polizist einen anderen verdächtigt hätte, mit einem Verbrechen zu tun zu haben.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Hendrik und kam sich scheinheilig vor, denn natürlich lag es auf der Hand, warum Sprang dies vermutete.
»Ich denke, Sie ahnen den Grund«, sagte Sprang leise, aber Hendrik ignorierte die Antwort.
»Und was sollen wir jetzt tun?«
»Wenn Sie mir den Link geschickt haben, klemme ich mich gleich dahinter und versuche, so viel wie möglich über diesen … wie war der Name?«
»Sebastian Kehrmann.«
»… diesen Kehrmann herauszufinden. Vielleicht haben wir ja sogar etwas über ihn in der Polizeidatenbank. Dann melde ich mich wieder bei Ihnen. Ich denke, das sollte nicht länger als eine Stunde dauern.«
Hendrik war jetzt hellwach. Nun gab es vielleicht endlich eine Spur zu jemandem, der mit Lindas Entführung zu tun hatte.
»Okay«, sagte er. »Dann warte ich auf Ihren Anruf.«
»Herr Zemmer … kann ich Ihnen vertrauen?« Sprangs Stimme
klang bedrückt.
»Ja, natürlich. Ich dachte, das sei klar zwischen uns.«
Es dauerte zwei, drei Atemzüge, dann sagte der Kommissar: »Ich schicke Ihnen gleich auch noch etwas.«
»Was denn?«
»Schauen Sie es sich einfach an. Sie können mir dann nachher sagen, was Sie davon halten. Und bitte … das muss absolut unter uns bleiben.«
»Okay. Dann bis gleich.«
Nur wenige Sekunden nachdem sie das Gespräch beendet hatten, vibrierte das Smartphone in Hendriks Hand und kündigte eine WhatsApp-Nachricht an. Sie kam von Sprang und enthielt ein Foto.
Die Aufnahme war irgendwo in einem Park gemacht worden. Hinter einer leeren Holzbank konnte man Bäume und Sträucher erkennen, davor standen sich zwei Männer gegenüber. Einer der beiden, ein dunkelhaariger Enddreißiger, hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und sah sein Gegenüber mit versteinertem Gesicht an. Hendrik kannte ihn nicht.
Der andere war älter, deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Brust des Dunkelhaarigen und redete offenbar wütend auf ihn ein. Ihn erkannte Hendrik sofort. Es war Hauptkommissar Kantstein. Das Smartphone vibrierte kurz, dann schob sich eine Nachricht von Sprang unter das Foto. Der Text lautete: Falls Sie ihn nicht kennen, der Mann, der Kantstein gegenübersteht, ist Jonas Krollmann.
Hendrik riss die Augen auf. Jonas Krollmann und der Hauptkommissar kannten sich? Und so wie es den Anschein hatte, war ihre Bekanntschaft nicht eben von freundschaftlicher Natur. Krollmann war verschwunden, und Kantstein hatte Hendrik glauben machen wollen, der Journalist hätte sich gemeinsam mit Linda abgesetzt, weil sie eine Beziehung hatten.
Hendrik legte das Telefon neben sich auf die Bettdecke, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Das wurde ja immer verrückter. Deshalb wollte Sprang also auf keinen Fall, dass Kantstein etwas von den Dingen erfuhr, die sie gerade herausfanden.
Hendrik versuchte, über die Schlüsse nachzudenken, die sich aus diesem Bild ergaben, ließ es aber gleich wieder sein. Er war zu
erschöpft und schaffte diese komplexen Überlegungen nicht mehr. Er musste dringend schlafen.
Seine Gedanken kehrten zu Sebastian Kehrmann zurück, und mit ihnen die Wut auf diesen Mann, der bei ihm zu Hause aufgetaucht war, um ihm seine Lügengeschichte aufzutischen. Er musste etwas mit Lindas Entführung zu tun haben. Definitiv.
Am liebsten wäre Hendrik aufgestanden und sofort losgefahren, um diesen Kehrmann zu suchen, was natürlich vollkommener Blödsinn gewesen wäre, da er nicht einmal wusste, wo der Kerl wohnte. Zudem musste er damit rechnen, dass Kehrmann gewalttätig war. Solange auch nur der Verdacht bestand, dass der auf irgendeine Weise etwas mit Lindas Verschwinden zu tun hatte, könnte jede überstürzte Reaktion fatale Folgen haben.
Blieb nur die Hoffnung, dass Sprang etwas herausfand, das ihnen weiterhalf, so dass auch Kantstein nichts mehr daran drehen konnte.
Hendrik öffnete die Augen, nahm das Smartphone wieder zur Hand und betrachtete erneut das Foto, das Sprang ihm geschickt hatte. Er fragte sich, wer es gemacht hatte. Sprang selbst? Weil er Kantstein schon länger verdächtigte? Hendrik nahm sich vor, Sprang danach zu fragen.
Kantstein hatte sich einige Male wirklich seltsam verhalten, dennoch fiel es Hendrik noch immer schwer zu glauben, dass der Hauptkommissar tatsächlich gemeinsame Sache mit einem Entführer oder gar einem Mörder machte. Aber noch vor einer Woche hätte er es nicht für möglich gehalten, dass ein Szenario, das er bestenfalls aus Krimis kannte, bei ihm zu Hause geschehen könnte. In Lindas und seinem Leben.
Er legte das Handy zur Seite und schloss die Augen, und ohne es zu steuern, schweiften seine Gedanken ab in die Vergangenheit, riefen Erinnerungen in ihm wach und zeigten ihm Bilder aus sorglosen, glücklichen Zeiten. Die Tage in Rom, die Bars und Cafés an der Piazza Navona, auf deren Terrassen sie im Schatten gesessen und wieder und wieder über ihre Hochzeit geredet hatten, schienen ewig her zu sein.
Er sah Lindas lächelndes Gesicht vor sich, ihren Blick, der ihm ohne Worte sagte, dass sie ihn liebte. Er wollte sich diesen Erinnerungen hingeben, als ihn das Läuten der Türglocke
aufschreckte.
Er stieg aus dem Bett, schlüpfte in die Jogginghose und fragte sich, wer ihm um diese Zeit noch einen Besuch abstattete.
Während er die Treppe hinunterlief, hatte er das Gefühl, dass etwas … falsch war. Er ignorierte es und war gespannt darauf, wer vor seiner Tür stand.
Alles war falsch in diesen Tagen.
Hendrik atmete tief durch, öffnete die Tür und stand Hauptkommissar Kantstein gegenüber.
»Sie?«, stieß er überrascht aus und war fast versucht, die Tür wieder zuzuschlagen.
»Ja, ich. Ich möchte mich kurz mit Ihnen unterhalten.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Ja. Sie suchen doch nach demjenigen, der Ihre Verlobte entführt hat, oder? Tun Sie das nur zu den üblichen Bürozeiten?«
Hendrik wurde hellhörig. »Wissen Sie etwas?«
»Können wir das vielleicht im Haus besprechen?«
Hendrik überlegte, ob er es wagen konnte, Kantstein ins Haus zu lassen. Was, wenn er tatsächlich etwas mit …
»Okay, lassen wir das.« Kantstein nahm ihm die Entscheidung ab. »Was ich Ihnen zu sagen habe, geht schnell. Im Grunde genommen ist es nur ein Rat, den ich Ihnen geben möchte. Hören Sie auf, auf eigene Faust in dieser Sache herumzufragen.«
»In dieser Sache?«, entfuhr es Hendrik. »Für Sie mag das nur eine ›Sache‹ sein, aber es geht um die Entführung meiner Verlobten, und Sie tun das anscheinend immer noch als lächerlich ab.«
»Ich tue gar nichts als lächerlich ab«, entgegnete Kantstein scharf. »Sie haben ja keine Ahnung. Hören Sie auf damit, Hobbyermittler zu spielen. Sie begeben sich in eine Gefahr, die Sie überhaupt nicht abschätzen können.«
»Drohen Sie mir?«, stieß Hendrik gereizt aus, Sprangs Worte im Ohr.
»Was?«, blaffte Kantstein. »Sind Sie jetzt vollkommen verrückt geworden? Ich versuche, Sie davor zu bewahren, eine Dummheit zu begehen, die schwerwiegende Folgen haben kann. Für Sie und vielleicht auch für Ihre Verlobte.«
Wenn das mal keine Drohung ist
, dachte Hendrik und sagte: »Ich werde nicht eher Ruhe geben, bis ich weiß, was
mit Linda geschehen ist. Davon können Sie mich mit Ihren … Warnungen nicht abbringen. Zumal Sie selbst ja rein gar nichts unternehmen.«
Kantstein blickte an Hendrik vorbei, als müsste er über dessen Worte nachdenken, bevor er ihm wieder in die Augen sah. »Ich habe noch einen gutgemeinten Rat für Sie.« Seine Stimme klang kalt. »Halten Sie sich von Kommissar Sprang fern. Er ist vom Dienst suspendiert und noch immer verdächtig.« Er ließ ein, zwei Sekunden verstreichen, dann fügte er hinzu: »Sie kennen ihn nicht.«
Damit wandte er sich ab und lief zu seinem Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen.