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Ein Würfel

»Lass uns den Plan noch mal durchgehen«, sagt Antonia auf dem Weg zum Cockpit.

Beim Anblick dieser zarten Frau, fast einen halben Kopf kleiner als sie, verspürt Carla Ortiz einen seltsamen Neid. Antonia Scott ist zwar nicht hässlich, aber auch keine Schönheit. Carla beneidet sie weder für ihr Aussehen noch für ihren Verstand. Sondern für ihre ungebrochene Durchsetzungskraft. Antonia hat ihr im Tunnel Goya Bis das Leben gerettet, weshalb Carla für immer in ihrer Schuld steht.

Als Antonia sie vor wenigen Wochen anrief, glaubte Carla, sie wolle etwas von ihr. Eine Art Entschädigung. Natürlich wäre sie dazu bereit. Sie wünschte es sogar.

Der billigste Gefallen ist noch immer der, den man mit Geld aufwiegen kann.

Stattdessen erzählte Antonia Scott ihr eine Geschichte, die ihr auf den Magen schlug und den Schlaf raubte. Die Geschichte einer unbekannten Frau – nennen wir sie der Einfachheit halber Sandra Fajardo –, die einen Geisteskranken manipulierte und ihn glauben ließ, sie sei seine Tochter. Dass die beiden sie unter dem Vorwand, ihren Vater zu erpressen, entführt hatten. Dass die Leiche der falschen Sandra nie aufgetaucht war.

Dass alles, was sie zu wissen glaubten, eine ungeheuerliche Lüge war.

»Ich verstehe das nicht. Die Erpressung meines Vaters war nicht ernst gemeint?«

»Sie war nichts weiter als eine sorgfältig geplante Farce«, erwiderte Antonia. »Ich weiß zwar nicht genau, warum, aber das alles hat mit mir zu tun.«

Dann erzählte sie ihr von dem ungreifbaren, mysteriösen Mister White. Dem Mann, der bei Sandra Fajardo die Fäden zog.

»Ich kann es nicht glauben. Die vielen Polizisten, die beim Versuch, mich zu retten, gestorben sind. Die Frau in der Schule deines Sohnes. Wie viele Leben sind für diese Farce, wie du es nennst, ausgelöscht worden?«

»Acht, soweit wir wissen.«

»Ich dachte … es sei vorbei«, sagte Carla mit erstickter Stimme. Auf ein beruhigendes Wort von Antonia wartete sie vergeblich.

Da holte die Erinnerung sie ein.

Die Umleitung.

Der Mann mit dem Messer.

Die Verfolgungsjagd durch den Wald.

Der Stich in den Hals, als sie sich ergab.

Und dann der verzweifelte Kampf in der Dunkelheit. Die freundliche Stimme, die sich als Stimme ihrer Peinigerin herausstellte.

»Weißt du … Weißt du, was sie will?«

»Nein. Aber ich werde es herausfinden.«

Bevor sie auflegte, hatte sie Carla ganz klare Anweisungen dafür gegeben, was sie tun müsste, wenn ihr schlimmster Albtraum wahr werden sollte.

Vor zehn Stunden war es so weit.

Antonias Nachricht lautete:

Sie ist wieder da

Mehr brauchte Carla nicht. Eine Entschuldigung murmelnd verließ sie das Abendessen mit Geschäftspartnern, stieg in den Wagen und wies das Kindermädchen an, ihren Sohn zu wecken.

Der Flug von La Coruña nach Gloucester, um Großmutter Scott abzuholen, hatte zwei Stunden gedauert. Wieder abzuheben weitere vier Stunden. Aber jetzt waren sie endlich da.

Genau nach Plan.

»Keine Handys, keine elektronischen Geräte, auch keine Internetsuche über mich oder Nachrichten aus Spanien. Kein Abrufen meiner Mails, keinen Kontakt zu niemandem«, betet Carla herunter.

»Gib mir dein Portemonnaie.«

Carla wühlt in ihrer Tasche und reicht es ihr eher widerwillig. Antonia zieht die Kreditkarte, den Personalausweis und selbst die Bonuskarte von Sephora heraus, wirft sie in eine Spucktüte und diese in einen Papierkorb. Aus ihrer Umhängetasche holt sie ein Feuerzeug und eine brennbare Flüssigkeit und verwandelt damit Carlas Leben im Handumdrehen in eine stinkende Masse. Nur eine Karte in Schwarzmetallic bleibt verschont, die steckt sie in die eigene Jackentasche.

»Sei vorsichtig mit dieser Karte, Antonia. Sie hat kein Kreditlimit.«

»Ich neige nicht zu verschwenderischen Geldausgaben. Du wirst Geld brauchen.«

»Dieser Koffer steht seit Wochen bereit«, sagt Carla und zeigt auf einen großen Samsonite.

Antonia braucht ihn nicht zu öffnen. Sie weiß, was drin ist.

»Dollar?«

»Und Yen, Euro und Pfund.«

Antonia nickt zustimmend.

»Wohin sollen wir fliegen?«

»Es würde euch gefährden, wenn ich das weiß. Du darfst keine logische Entscheidung treffen. Aber ich habe etwas für dich, das dir helfen wird.«

Antonia drückt Carla einen zwanzig Millimeter großen Würfel in die Hand.

Carla starrt verdattert auf den Würfel, bis sie begreift, was Antonia damit sagen will.

»Für jede Entscheidung ein Wurf. Am nächsten Zielort nimmst du ein anderes Flugzeug. Und beim nächsten wieder, immer so weiter. Dann fährst du mindestens sechshundert Kilometer über Land und nimmst anschließend einen Linienflug. Danach fährst du in die entgegengesetzte Richtung wieder über Land. Es wird hart«, schließt sie mit Blick über Carlas Schulter hinweg.

Carla dreht sich zu Großmutter Scott um, die eingeschlafen zu sein scheint.

»Sei unbesorgt. Sie wird uns noch alle beerdigen.«

»Ich sehe nicht, warum mich das beruhigen sollte. Diese Möglichkeit ist zum Greifen nah.«

Erst Carlas entsetzter Gesichtsausdruck macht ihr bewusst, dass sie sich schon wieder von einer Redewendung in die Irre hat führen lassen. Wäre Jon da, hätte er mit einem flapsigen Kommentar die Situation erträglicher gemacht, aber er ist nicht da. Antonia entschuldigt sich auch nicht. Erstens, weil sie sich mit Trostpflastern nicht auskennt. Sie weiß nicht einmal, was der Ausdruck bedeutet. Und zweitens, weil die Gefahr tatsächlich sehr real ist.

Seit Sandras Wiederauftauchen ist niemand mehr in Sicherheit. Und erst recht nicht Carla – diese Trophäe ist ihr nur um Haaresbreite entgangen.

»Wir müssen los«, sagt die Unternehmerin und ringt sorgenvoll die Hände.

Antonia versteht, dass sie den Abflug nicht länger hinauszögern darf.