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Eine Matratze

Es ist drei Uhr nachts, und Jon wälzt sich im Bett.

Richtig wach ist er nicht, aber er schläft auch nicht. Diffus spürt er Wärme und Gewicht seines Körpers auf der Matratze, ein Modell der neuesten Technologie. Sie ist eindeutig viel besser als die Matratze in seiner Wohnung. Nur in Unterhose – die Bettdecke hat er am Fußende zusammengeschoben – dreht er sich eine Stunde lang von einer Seite zur anderen, bis er endlich eine passende Lage gefunden hat und vor sich hin dämmert. Aber einschlafen kann er nicht.

Einerseits, weil er nach neun Stunden Schlaf um drei Uhr nachts aufgewacht ist. Zur Unzeit aufzuwachen und sofort wieder einzuschlafen konnte er noch nie.

Andererseits, weil ihm ununterbrochen Bilder der letzten Stunden durch den Kopf gehen.

Das Gefängnis.

Die Frau.

Der Fahrstuhl.

Das Piepen, das er nicht aus seinen Ohren verbannen kann.

Und was danach geschah.

Sie mussten viele Erklärungen abgeben.

Zu viele.

Zuerst mussten sie dem Polizisten erklären, wie es zu der Schießerei gekommen war. Nur das Nötigste, aber die Stimmung blieb angespannt. Die zuständigen Behörden neigen zu vielen neugierigen Fragen, wenn es in einem Wohngebäude voller Militärs und ihren Angehörigen eine Schießerei mit schweren Waffen gegeben hat. Selbst wenn neun von zehn im Ruhestand sind und der Rest von der Gesundheitsbehörde grässliche Broschüren mit Slogans erhält wie: Deine Zeit läuft ab , oder: Herzlich willkommen in Gottes Wartezimmer . Na gut, vielleicht nicht ganz in diesem Wortlaut, denkt Jon, der das Alter mehr fürchtet als Schüsse.

Aber weniger als Bomben.

In einem Gebäude voller Militärs das Wort »Bombe« auszusprechen, konnte die Polizei leider nicht zufriedenstellen. Sogleich kamen die Kollegen vom Sprengstoffkommando zum Einsatz, die aber weit weniger Fantasie als Mister White aufwiesen. Sie suchten überall, nur nicht unter Inspector Gutiérrez’ Haut, dem man eine Decke über die Schultern gelegt und einen recht akzeptablen Kaffee in die Hand gedrückt hatte. Sein Blick verlor sich in der Ferne oder dem großen Innenhof voller Hortensien und Glyzinien. Wie immer zum Winterende in voller Blüte.

Stumm stand Jon in einer Ecke, während um ihn herum die Nacht fieberte wie ein Vogel in Flammen, um es mit Sabina zu sagen.

Die Sanitäter versorgten die Kopfwunde des Pförtners, den der Schütze mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt hatte. Ein Dutzend Kollegen der Spurensicherung rannte herum wie ein Haufen kopfloser Hühner, dazu ein paar aufgebrachte Kommissare. Die Öffentlichkeitsarbeit überließ Jon diesmal liebend gern Antonia. Was unter normalen Umständen eher keine gute Idee ist.

Oder unter gar keinen Umständen.

Jon schenkte den Gesprächen keine Beachtung. Es drangen nur gedämpft einzelne Wortfetzen zu ihm durch, als läge er mit dem Kopf unter Wasser in der Badewanne und hörte im benachbarten Zimmer jemanden reden. Er reagierte auf das ferne Gemurmel mit der Gleichgültigkeit, die das Universum einem verleiht, wenn man die Nähe des Todes gespürt hat. Der nicht an deine Tür klopft, sondern dein Haus einfach besetzt und sich aneignet, indem er die Schlösser austauscht und dir von drinnen zuwinkt.

Es fiel das eine oder andere laute Wort, es gab befremdete Blicke sowie die leise Frage – aber nicht leise genug: »Und wer ist dieser Blödmann?«

Dann traf Mentor ein, gefolgt von den Anrufen wichtiger Persönlichkeiten, und die Fragen verstummten. Allerdings nur widerwillig angesichts des Ortes, der Situation und der vielen Pensionäre, die – aus alter Gewohnheit, Regimenter anzuführen – im Pyjama auf ihren Terrassen standen und widersprüchliche Befehle erteilten.

Irgendwann kam Mentor dann endlich zu Jon. Als er sah, in welchem Zustand sich der Inspector befand, verzog er das Gesicht, wahrscheinlich auch, weil er so nahe vor ihm stand, dass er ihn riechen konnte. Inspector Gutiérrez war eingehüllt in eine Wolke aus Schweiß und verbrauchtem Adrenalin. Zwei wahrlich unangenehme Gerüche.

Wenigstens beklagt sich Antonia darüber nie, dachte Jon. Eindeutig ein Vorteil ihrer Zusammenarbeit.

Es folgten weitere Erklärungen, kürzere, glaubwürdigere. Antonia und Jon fuhren mit Mentor ins Hauptquartier, wo sie duschen und sich zurückziehen konnten, weil es dort einen Flügel mit winzigen Zimmern gibt. Nicht dass man sich darin großartig bewegen könnte, aber immerhin kam Jon ein wenig zur Ruhe – auch dank einer Spritze, die ihm Doktor Aguado zusammen mit einem Antibiotikum verabreicht hatte.

Erst am frühen Nachmittag wachten sie wieder auf.

Es folgte eine Lagebesprechung.

Sie wechselten ein paar Worte.

Und wurden sich bewusst, dass sie am Arsch waren.

»Ich rekapituliere«, sagte Mentor nach langem, düsterem Schweigen. »Wir kennen die Identität von Raquel Planas’ Mörder nicht, weil das Handy zerstört ist. Was ist mit der Cloud?«

Aguado schüttelte den Kopf.

»Desgleichen haben wir noch immer nicht die geringste Ahnung, warum White euch mit der Aufklärung dieses Verbrechens beauftragt hat«, fuhr Mentor fort.

Antonia schüttelte den Kopf.

»Ebenfalls ausgeschlossen haben wir, dass White etwas mit Víctor Blázquez zu tun hat«, sagte Mentor. »Der im Augenblick übrigens der einzige Nutznießer unserer Bemühungen ist.«

Jon schüttelte den Kopf.

Nun folgte das, was ihm am schwersten fiel.

Nach dem Geständnis von Señora de Planas standen sie in der Pflicht, etwas zu tun, um Blázquez’ Situation im Gefängnis zu verbessern. Wahrscheinlich die Kollegen anrufen, die in seinem Fall damals ermittelten. Mit doppeltem Effekt. Erstens würden sie darauf gestoßen, dass sie schlecht gearbeitet hatten, weil sie sich auf Vorurteile gestützt und einen Unschuldigen ins Gefängnis gesteckt hatten. Zweitens würde es ihnen die Möglichkeit geben, ihren Fehler wiedergutzumachen, indem sie selbst die neuen »Beweise« der Staatsanwaltschaft vorlegten. All das würde große Beschämung bei einigen und noch größere Geschäftigkeit bei anderen hervorrufen, gewiss auch eine Gefängnisstrafe für Señora de Planas. Von genau zwei Jahren, damit sie keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen müsste. Denn jegliche Strafe von zwei Jahren oder weniger muss in Spanien nicht vollzogen werden.

Gewiss, es handelte sich um einen Cold Case, der fast vier Jahre zurücklag. Für dessen Aufklärung man im besten Falle Monate, ein großes Team und ausreichend Mittel benötigte. Im schlechtesten Falle wäre sie schlicht unmöglich.

Und sie beide hatten ihn in sechs Stunden aufgeklärt.

Dennoch …

Fühlte es sich keineswegs nach Erfolg an.

Gerechtigkeit ist Wahrheit im Wandel, dachte Jon. Und auch das einzige Spiel, bei dem alle verlieren.

»Und nicht nur das«, fügte Mentor hinzu. »Jetzt gibt es noch einen dritten Faktor in dieser Geschichte. Einen geheimnisvollen Schützen, der mit Feuerwaffen umgehen kann und ein schweres Sturmgewehr benutzt. Dessen Identität wir ebenfalls nicht kennen, weder seine Gründe noch seine Beziehung zu White noch warum er euch von der Landkarte löschen wollte. Und von dem wir nur eine dubiose Beschreibung haben.«

»Wir haben doch die Handyaufnahmen von den Terrassen«, sagte Jon, immer hilfsbereit.

»Gewiss, gewiss. Sechs Videos von alten Männern, die uns wegen der Qualität ihrer Handys, den Lichtverhältnissen und ihren zittrigen Händen ein wunderbar verwackeltes Ergebnis liefern.«

»Sonst irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Jon in die Runde.

»Absolut keine«, antwortete Mentor etwas zu laut und zu schnell, mit Blick zu der stummen Doktor Aguado. »Wir haben noch immer keine Spur, der wir folgen können. Weshalb wir erneut Whites Befehlen ausgeliefert sind. Unsere einzige Strategie ist warten.«

»In elf von zwölf Fällen ist warten das Beste, was man tun kann«, sagte Antonia mit fester Stimme, um eine Statistik, die sie sich offensichtlich aus den Fingern gesaugt hatte, glaubwürdig klingen zu lassen.

»Also null Verdächtige, null Identifizierte, null Spuren. Ist das richtig zusammengefasst, oder habe ich etwas vergessen?«

Antonia, Jon und die Pathologin nickten.

»Bleibt noch hinzuzufügen, dass wir ziemlich am Arsch sind«, schloss Mentor.

Darin hatte Jon ihm recht gegeben und tut es auch jetzt.

Im Hauptquartier sind die Zimmer – eher Kabinen in diesem Betonmeer – gut ausgestattet, wenn auch spartanisch. Die viscoelastische Matratze besteht aus Latex und ist eine der teuersten auf dem Markt, ebenso das Kopfkissen. Sie schmiegt sich perfekt an deinen Körper, passt sich deinem Gewicht und deiner Körperwärme an. Jede Mulde und jede Rundung werden ausgeglichen, und Jon fragt sich, ob das Kopfkissen auch die Stelle an seinem Hals registriert, wo die Bombe seine Haut aufwirft. Denn die viscoelastische Matratze hat ein Gedächtnis, weshalb die hinterlassenen Abdrücke noch ein Weilchen zu sehen sind, bevor sie wieder ihre ursprüngliche Form annimmt.

Jon fragt sich, wie lang dieses Gedächtnis vorhält. Zum Beispiel, wenn jetzt die Bombe explodieren würde. Wenn sie seinen Hals zerfetzen, Metall- und Knochensplitter durch sein Rückenmark jagen und ihn auf der Stelle töten würde. Hätte sein Herz aufgehört zu schlagen, bevor das Kopfkissen sein Gedächtnis verloren hätte? Würde seine Silhouette noch erkennbar sein, wenn Antonia ins Zimmer käme?

Jon stellt sich vor, wie zwei Sanitäter seinen Körper auf eine Bahre legen. Eher drei Sanitäter, das ist etwas realistischer. Wie sie diese Leichenbahre anheben und in Doktor Aguados Labor bringen. Ein kurzer Weg, kaum zwanzig Meter. Dort würde die Pathologin die Überreste der Explosion untersuchen, auf der verzweifelten Suche nach einer Spur in seinem zerstörten Gehirn. Sie würde alle Teile beiseitelegen, die noch vor einer Minute Jon Gutiérrez ausmachten. Und noch warm sind.

Antonia würde natürlich weinen. Und dann die Ärmel hochkrempeln und unermüdlich auf Rache sinnen. Oder sie verfiele in eine ihrer Depressionen und schlösse sich weitere drei Jahre in ihrer Mansarde ein.

Bei Antonia Scott weiß man nie.

Sie tut gern, was du am wenigsten von ihr erwartest.

Wie, zum Beispiel, um 3:26 Uhr in der Nacht an deine Tür zu trommeln.

Als er sie öffnet, steht Antonia in Büstenhalter und Slip vor ihm, die Klamotten in der einen Hand, die Schuhe in der anderen, das Handy zwischen den Zähnen.

Als Jon sieht, dass sie etwas sagen will, nimmt er es ihr aus dem Mund.

»Es ist eine Nachricht eingetroffen«, keucht sie. »Vor dreißig Sekunden.«

Während sich Antonia eiligst im Flur anzieht, starrt Jon auf das Display.

Calle del Cisne, 21

»Wo ist das?«

»Keine Ahnung«, sagt sie, während sie ihr Hemd zuknöpft.

Jon bemüht sich, in das erste Wort, das er gleich aussprechen wird, all die Boshaftigkeit zu legen, zu der er um diese Uhrzeit, noch im Halbschlaf, fähig ist. Und das ist eine ordentliche Portion.

»Du kennst eine Straße in Madrid nicht, Schätzchen?«

»In Madrid gibt es 9187 Straßen, Jon. Ich kann sie nicht alle kennen.«

Antonia blinzelt – sie hat noch den Kissenabdruck auf den Wangen, das Haar ist zerzaust, das Gesicht gerötet – und macht eine bedeutungsvolle Pause, während sie die Beine in die Hose steckt.

»Ich meine, ich könnte es . Was aber nicht der Fall ist. Schau nach in Google Maps!«

Jon öffnet die App und tippt den Namen ein.

»Hast du Mentor informiert?«

»Ich habe ihm die Nachricht weitergeleitet.«

Google Maps geht auf, während das Signal in Zehntelsekunden Kontakt zum Satelliten aufnimmt, Antonias Handy ortet, eine Karte der Flughafenumgebung und gleich darauf die genaue Entfernung bis zur Calle del Cisne anzeigt. Das alles in weniger Zeit, als man beispielsweise zweiunddreißig Worte lesen kann.

»Zeig mal«, sagt sie, als sie den Gürtel schließt.

Jon gibt ihr das Handy zurück und zeigt auf die Karte.

Sie schaut sie sich anderthalb Sekunden lang aufmerksam an.

Da begreift Jon, warum Antonia sich so seltsam verhält, warum sie halbnackt auf den Flur gelaufen ist und ihm das Handy gegeben hat, damit er die Adresse heraussucht.

Er begreift es genau in dem Augenblick, als sie sagt:

»Zieh dich an, ich warte im Wagen auf dich.«

Dann rennt sie barfuß los, mit ausreichend Vorsprung.

Verdammtes Miststück …