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Ein freundliches Gesicht

Der Polizist am Empfang lächelt. Eher verhalten, aber er lächelt. Schließlich hat die Frau ein freundliches Gesicht.

Niemand würde einem freundlichen Gesicht wie diesem misstrauen.

Er sieht keine Veranlassung, nach der Waffe unter dem Tresen zu greifen – eine Glock 17 Gen4 –, weil die Frau einen harmlosen Eindruck macht. Feine Tropfen auf ihrem Regenmantel, ein paar weitere im Haar. Weshalb sie die Schultern hochgezogen und die Hände in den Manteltaschen vergraben hat.

Sie ist nicht die Erste, die sich wegen einer Frage oder aus Neugier in die Halle verirrt. Das geschieht mindestens zweimal pro Woche. Vor ihm liegt – neben einem Handy und einer alten, benutzten Tastatur – ein Blatt Papier in einer Plastikhülle, auf dem eine Reihe von Anweisungen steht, mit deren Hilfe man fremde Menschen abwimmelt. Sie sind nur selten nötig, zumeist reicht ein »Keine Ahnung«, »Das ist mein erster Tag« oder »Um diese Zeit ist keiner mehr da«.

Der Polizist sitzt erst seit knapp zwei Monaten am Empfang. Er kommt frisch von der Akademie und hatte sich die Arbeit aufregender vorgestellt. Wie fast das gesamte externe Personal beim Projekt Rote Königin weiß er über den Ort nur wenig. Dass hier eine Undercover-Einheit der Policía Nacional untergebracht ist und dass er nach kurzer Dienstzeit mit besten Empfehlungen ausscheiden wird.

Er wurde angewiesen, diskret zu sein, mit niemandem über seine Arbeit zu sprechen und Fremde abzuwimmeln. Außer den Support-Kollegen untersteht er nur vier Personen, die einen Ausweis mit rotem Rand tragen. Unmöglich, sich zu irren: Einer ist der Chef, der graue Beamte in den Fünfzigern, der ständig zum Rauchen rausgeht. Dann gibt es eine kleine Frau, die höchstens zweimal aufgetaucht ist und die er für eine Wissenschaftlerin oder sowas hält. Der dritte ist ein bulliger, wenn nicht dicker baskischer Inspector. Den findet er sympathisch. Weil er so freundlich ist und sehr bemüht, nicht tuckig zu wirken.

Die vierte Person steht neben ihm und wühlt in ihrer Tasche. Sie ist nett, die Pathologin. Und sie sieht gut aus mit dem langen, blonden Haar und dem Piercing, sowas macht ihn an. Er hat schon mehrmals versucht, mit ihr auszugehen, aber sie hat immer freundlich abgelehnt. Der Polizist glaubt, es liege daran, dass sie nicht in derselben Liga spielen, will es aber weiter versuchen. Vielleicht zum Wochenende, wenn im Kino eine Filmpremiere ansteht. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren sagt ihm seine weitreichende Erfahrung, dass keine Frau der Einladung ins Kino mit anschließendem Essen bei Gino’s widerstehen kann. Wie sollte sie auch.

Die Frau steht nur wenige Schritte vom Tresen entfernt, hat aber noch kein Wort gesagt. Sie hat weder genickt noch den Mund aufgemacht. Sie bewegt nur lächelnd den Kopf im Rhythmus einer Musik, die nur sie hören kann.

Von Nahem betrachtet wirkt ihr Gesicht nicht mehr so freundlich.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragt er.

Die Frau tritt an den Tresen und nimmt die Hände aus den Taschen. In jeder hat sie eine Pistole. Der Polizist weiß nicht, dass es zwei SIG Sauer P-226 sind, denn mit Waffen kennt er sich nur mäßig aus, doch bei ihrem Anblick verkrampft sich sein Magen vor Überraschung und Angst. Die eigene Waffe kann er nicht mehr ziehen. Der Schuss kommt zwar nicht von vorn, aber das merkt er nicht.

Aus irgendeinem Grund hat die Welt ihren Lauf verändert. Der Empfangstresen – sein einziger Horizont in acht Stunden Dienst – steht plötzlich auf dem Kopf wie eine steile Wand, der Boden ebenfalls.

Wie seltsam, kann er noch denken, dann wird alles schwarz.

Doktor Aguado steckt die noch rauchende Pistole wieder in ihre Tasche. Fünfzehn Jahre der Arbeit mit Leichen haben ihr eine traurige Wahrheit offenbart. Ein Mensch zu werden kostet ein ganzes Leben harter Arbeit. Ihm ein Ende zu bereiten nur das leichte Abdrücken einer Pistole.

Zum ersten Mal hat sie selbst für einen Kunden gesorgt. Seit Wochen hat sie darüber nachgedacht und gefürchtet, es nicht zu können. Im letzten Moment einen Rückzieher zu machen. Dass die antrainierten Zivilisationsmechanismen – Gewissen, Religion, Empathie – schlicht die Kontrolle übernehmen und verhindern würden, dass sie einem jungen Polizisten eine Kugel in den Kopf jagt, während er abgelenkt ist.

Dem war nicht so.

In den paar Sekunden nach dem Schuss, während sich der Kordit-Geruch im Eingangsbereich ausbreitet, unterzieht sich die Pathologin einer innerlichen Prüfung und kann keine großen Veränderungen feststellen. Sie ist natürlich nervös und hat das Bedürfnis zu pinkeln, aber den erwarteten Riss in der Seele kann sie nicht feststellen. Der Mord schließt eine Tür und öffnet eine andere. Für einen Moment schießt Doktor Aguado die Existenz Gottes, seine wahre Natur, durch den Kopf. Sein vordergründiges Gesicht, seine unendliche Kreativität benötigen weder Mikroskop noch Zange, um gesehen zu werden. Es reicht, durch einen Wald zu spazieren oder einem Schnabeltier beim Schwimmen zuzusehen.

Das andere Gesicht, die unendliche und kriminelle Gleichgültigkeit des Schöpfers für seine Kreaturen, ist schwerer zu fassen. Zum Beispiel, wenn man Fotos von Auschwitz oder Mauthausen betrachtet, aber das wäre nur ein Stellvertreterargument aus zweiter Hand. Du musst selbst einem gesunden, unschuldigen und eher kleinen jungen Mann die Pistole an die linke Schläfe halten und abdrücken. Und erwartest sogleich, dass sich die Erde auftut, die Flammen des Höllenfeuers emporzüngeln und dein sündhaftes Fleisch versengen.

Das geschieht nicht.

In diesem Moment siehst du das verborgene Gesicht Gottes, unverschleiert. Und wie egal ihm alles ist.

»Gut gemacht, Frau Doktor«, sagt Sandra, als sie zu ihr geht und den AirPod aus dem Ohr zieht.

Aguados Hand zittert.

»Beruhigen Sie sich. Für Angst ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Die kommt später.«

Die Pathologin steckt ihre Hand in die Kitteltasche.

»Die Flaschen stehen im Lüftungsschacht«, sagt sie. »Ich habe alle gebeten, im Konferenzzimmer auf mich zu warten.«

Sandra nickt mit angespanntem Lächeln.

»Und … er?«

»In seinem Büro.«

»Gut gemacht«, wiederholt Sandra und steckt den AirPod wieder ins Ohr. »Sie können jetzt gehen. Und vergessen Sie den Anruf nicht.«

Mit einer eleganten Drehung wendet sie sich zur Tür.