… hoch oben ein Punkt, ein Blinken, ein Zwinkern, ein Stern, ein Satellit oder ein Flugzeug … Der Wagen liegt auf der Fahrerseite. Ein Vorderrad dreht sich noch, ein paar Schneeflocken zu einer dünnen Flamme aufwirbelnd. Unterm zertrümmerten Kühler kriecht eine Lache hervor, Benzin oder Öl oder beides, glänzend wie ein Fotonegativ. In der milchig zersplitterten Frontscheibe klafft ein Loch, schwarz, von Scherben gezackt, und wie schön, wie tief, wie erhaben ist die Stille! Wind weht, doch ohne Geräusch, der Knall hat meine Hörnerven niederkartätscht, ich bin vollkommen taub. Totenstille im gesamten All. Aber am Seeufer müssen sie den Crash gehört haben, gleich wird die Werksfeuerwehr ausrücken, das Wrack von der Brücke pflücken, die Spuren beseitigen, mich in den Sanitätsraum unserer Gummifabrik schaffen.
Ah, Gottseidank, da kommen sie schon! Ein leuchtender Klumpen kriecht auf mich zu, zerspringt in zwei Augen, gießt einen porigen Glanz über den Asphalt. Ein Auto. Es hält. Es dauert. Viel Zeit habe ich nicht mehr, ich blute, verdammt nochmal, wo bleibt der Fahrer? Der öffnet jetzt den Kofferraum, sucht die Notapotheke, faltet das Pannendreieck auseinander, sage ich mir und zwinge mich zur Ruhe. Warme Tropfen zerplatzen auf den Händen, im Kopf muss ich ein Leck haben, Blut Blut Blut. Egal. Schon schaukeln zwei Schuhe heran, und in den Nachthimmel ragt ein Riese, mächtige Atemwolken in die Frostluft pumpend, leere Sprechblasen. Dann, als liefe der Film rückwärts, werden die beiden Autoaugen wieder zum Lichtklumpen, der über die Brücke zurückweicht, der Dreckskerl haut ab, mit dem Unfall will er nichts zu tun haben. Oder hält er am Ufer wieder an? Beim Friedhof steht eine Telefonkabine, vielleicht alarmiert er von dort aus den Krankenwagen.
Als ich aufstehen will, falle ich hin. Du heilige Scheiße, was ist aus meinem Regenmantel geworden? Ich habe ein völlig fremdes Kostüm an, ein nasses Hemd, einen finster glänzenden Umhang und auf der Stirn eine Krone mit spitzen Dornen. Könnte es ein Traum sein? Eher nicht. Ich bin mir über die Situation im Klaren. Die Sekretärin meines Vaters hat mich angerufen – es muss so gegen sechs Uhr abends gewesen sein. Im Werk wird sie GdV genannt, Gute des Vorzimmers, und wenn sie sich meldete, drohte Unheil. Irgendwas mit dem Sportboden. Das sind schwarze Gummimatten, hart, aber elastisch, die ich seinerzeit für den Katalog textiert habe. Auch die Bezeichnung stammt von mir. Sportboden. Vor achtzehn Jahren, bei meinem Rausschmiss aus der Fabrik, waren die Matten im Büro des Seniors verlegt, zu Test- und Werbezwecken, dann wurden sie herausgerissen und ins Lager geschafft. Dort hat man sie im Lauf der Jahre vergessen. Es blieb beim Prototyp. Der Sportboden ging nie in Produktion. Sofern ich die Gute heute Abend recht verstanden habe, soll der Senior befohlen haben, die Matten erneut zu verlegen, wieder in seinem Büro, weiß der Teufel, warum. Aber bitte, er kann damit machen, was er will. Er hat das Recht, sein Büro in eine Gummizelle zu verwandeln, worin er lauert wie der Minotauros in seinem Verlies: ER, der Senior, mein Vater. Für Zug und Postauto war es zu spät, also habe ich mir Isidor Quassis Chevy ausgeliehen und bin auf abgefahrenen Gummis bei Nacht und Nebel ins Fräcktal hochgebrettert …
Lose hängt der Auspuff am Unterboden, einer großen schwarzen, quer in die Straße gestellten Wand. Es stinkt nach Benzin, verschmortem Gummi, durchgebrannten Kabeln. Tatsächlich, das Wrack ist Isidor Quassis Chevy! Das musste ja schiefgehen! Isidor Quassi, der sich selber IQ nennt, ist ein Schwätzer, Schnorrer und Säufer der grässlichsten Sorte und wie alle Säufer ein Wiederholungstäter. Jeden Abend wird in derselben Kneipe am selben Platz dasselbe Quantum vertilgt, wozu dann stets dieselbe Platte läuft und ich den Zuhörer zu geben habe. Bis zum dritten Bier beschwört er seine künftigen Erfolge, beim vierten Bier erklärt er der Welt den Krieg, bedauert den Niedergang der Kultur, beschimpft meinen Senior als Ausbeuter und mich als anal gestörten Scheißer. Dann pflegt er sentimental zu werden: O gute Mutter Gertrud, jammert er, was ist aus deinem Isidor geworden – ein verkrachter Schauspieler! Natürlich erwartet Quassi, dass ich, der Unternehmersohn, seine Zeche bezahle. Abend für Abend. Immer. Und das ist nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste ist etwas anderes. Das Schlimmste ist: Über dem letzten leeren Humpen lässt Quassi die filzigen Haare, die Unterlippe und aus der Nase einen Tropfen hängen und versieht den täglich wiederholten Monolog mit dem stets gleichen Refrain: Das Leben. Die Weiber. Ein dummer Zufall. Hätte ich doch. Wäre ich nur. Eigentlich. Aber. Vergiss es …
Nicht einschlafen jetzt. Höchstens ein bisschen ruhen, ein bisschen sitzen, den Rücken ans Geländer gelehnt, und oben im Nachtmeer den in gerader Linie dahinziehenden Punkt betrachten, sein Blinken, sein Zwinkern …
Frostverzuckert verliert sich der Handlauf des Brückengeländers in der Ferne der Uferwälder, lang und länger werdend, sich dehnend wie der Gummi, die väterliche Materie. Alle paar Schritte halte ich inne, lege die Hand an die Stirn, als wolle ich die Augen vor dem Mondschein schützen, und sehe dann für einen Moment den Nebel, der die schmaler werdende Piste in sich einsaugt. Kein Zweifel, weder oben in der Villa noch unten in der Pforte der Fabrik ist das Licht angegangen, nichts rührt sich da vorn, alles scheint zu schlafen, selbst die Gute, auch der Pförtner.
Weiter.
Noch siebzig sechzig fünfzig Meter. Die Pforte ist Tag und Nacht besetzt und die Klingel schrill genug, um das Reptil, wie der Pförtner im Werk genannt wird, zu wecken. Klar, dann werde ich erst mal Geduld aufbringen müssen, bis er die Uniform, die Admiralsmütze und die weißen Glacéhandschuhe angezogen und hinter der Scheibe seinen Platz eingenommen hat. Was für eine Überraschung, würde es aus dem Lautsprecher hallen, willkommen daheim, Herr Junior! Mein Lieber, würde ich antworten, habe dummerweise auf der Brücke ein Auto auf die Seite gelegt. Wäre schrecklich nett von Ihnen, wenn Sie sich darum kümmern würden. Aber seien Sie vorsichtig! Das Wrack könnte jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Und dann informieren Sie die Gute, klar? – Alles klar, Herr Junior.
Übrigens, würde ich der Scheibe leise sagen, benachrichtigen Sie bitte auch die Werksfeuerwehr. Die sollen die Unfallspuren beseitigen, unser Name darf nicht befleckt werden, schon gar nicht mit Blut, die Gummibranche ist heikel, da sind wir uns doch einig. – Selbstverständlich, Herr Junior, würde der Pförtner mir beipflichten, die Rechte militärisch am Mützenschirm. – Ach, da wäre noch etwas. Das Wichtigste hätte ich beinah vergessen. Ich möchte unter keinen Umständen von Doktor Marder verarztet werden, der würde die Sache nur schlimmer machen. Haben wir uns verstanden? Halten Sie um Gotteswillen den Doktor Marder von mir fern. Die Gute wird mir einen Verband anlegen. Gar so schlimm ist es ja nicht.
Weiter.
Weiter, aber ich komme nicht weiter. Mein Umhang behindert mich, ein bodenlanger Umhang wie ein Königsmantel, passend zur Krone auf meinem Kopf – ich ein König! Oder ein Königssohn … Das Schloss jedoch, die Gummifabrik, verbirgt sich im düsteren Ufernebel. Oder im Blut, das meine Augen füllt. Und die Manteltasche … so schwer. Ballast, den ich loswerden muss. Eine Flasche! Wodka. Ich trinke keinen Wodka.
Weiter. Weiter, aber wieder wird mir der Purpurmantel zum Verhängnis, ich stolpere über den Saum.
Ein Unfall auf vereister Fahrbahn – das ist schon manchem passiert, mit einer saftigen Buße würde ich davonkommen. Aber jetzt zur Flasche greifen? Danach? Hinterher schuldig werden? Was für eine bodenlose Dummheit! Wenn nur der Durst nicht wäre, ein grausamer Durst! Ich ziehe mich am Geländer hoch, hänge mich mit beiden Achseln darüber. Aber bei diesem Schluck wird es bleiben, Ehrenwort! Bei dem einen Schluck! Ätzend sprudelt es mir über die Lippen, in den Rachen, dann öffne ich die klammen Finger, und die Flasche saust pfeilgerade in die Tiefe, zerschellt auf der gefrorenen Wasseroberfläche, lautlos. Ich darf es nicht vergessen: Ich bin auf der langen, schmalen, schnurgeraden Brücke, die auf die väterliche Gummifabrik zuführt, mit dem Geländer kollidiert. Dann ist es mir gelungen, den Wagen zu verlassen, und sollte ich ein bisschen Glück haben, Glück im Unglück, wird bald eine Laterne auf mich zuwanken, unser Pförtner, das Reptil.
Habe ich geschlafen? Höchstens eine Minute. Um Kraft zu tanken. Um auch noch den Rest zu bewältigen, die gut zwanzig Meter bis zum Ufer. Zur Panik besteht kein Anlass. Im Werk sind sie Zwischenfälle gewöhnt. Die Werksfeuerwehr soll die Unfallschäden beseitigen und mir den Sanitätsraum aufschließen, damit ich duschen kann. Danach ein gemeinsames Frühstück mit dem Senior, wir beide in Morgenmänteln, ich mit einem sauberen Stirnverband. Nach achtzehn Jahren haben wir uns einiges zu erzählen.
Die Brücke wird kürzer, die Pforte kommt näher, der Wald- und Erdgeruch wird stärker. Nebel fludert unter der Brücke hindurch, und die Luft … ist sie tatsächlich so frisch, dass sie nach Winterwald schmeckt? Klar, ich bin achtzehn Jahre weg gewesen, da wird sich manches verändert haben, durchaus möglich, dass der Senior mit neuen Filtern ein besseres Klima erzeugt. Aber. Aber! Aber warum geht nirgendwo das Licht an? Sind auch die Fenster der Villa mit den schwarzen Gummimatten verhängt? Hat mir die Gute nur die halbe Wahrheit gestanden? Ist mein alter Herr im Begriff, sich mit dem Rest seiner Vertrauten, mit der Guten, dem Pforten-Reptil und dem Doktor Marder, seinem Werksarzt, hinter schwarzen Gummischichten einzubunkern? Denn selbst im fettesten Nebel, in der trübsten Dunkelheit hätte jetzt da vorn in leuchtenden Buchstaben unser Name aufschimmern müssen, Heinrich Übel. Heinrich Übel! Heinrich Übel senior, warum verbirgst du dich vor mir? Was ist aus deiner Schöpfung geworden? Warum hat sie sich verwandelt in Nebel, in Nacht, in Nichts? Warum?
Weiter.
Nun gut, zugegeben, die Zeiten, da Dr. Übels Verhüterli präsent waren in den Abendtaschen der Schönen, in den Brieftaschen der Lebemänner, an sämtlichen Hoteltresen, in jedem Boudoir, jedem Nachttisch, jedem Necessaire, sind passé: Pillenknick. Mit der Pille blieben Dr. Übels Verhüterli am Lager, wuchsen zu Halden, schon kreisten Geier um die gemauerten Kamine der Fabrik, und dann, über Nacht: Aids. Die Seuche. Der Tod lauerte in den Laken, und wie konnte er bekämpft, wie besiegt werden? Mit Dr. Übels Verhüterli. Er war wieder da. Triumphal kehrte er zurück.
Aber was ist das? Du lieber Himmel, bin ich in einer vaterlosen Welt? Das Ufer ist so leer wie die andere Seite des Sees, wo es nur die Total-Tankstelle gibt, den Friedhof und unten im Schilf Calas Wohnwagen. Nur ist dies nicht die andere Seite, dies ist die richtige Seite, ich bin doch nicht blöd, Blutverlust hin oder her. Ich habe versprochen, noch in dieser Nacht heimzukehren, also kehre ich heim, punctum.
Links von der Brücke, gleich da vorn, muss die werkseigene Badeanstalt sein. Der Senior hatte sie seinerzeit errichten lassen, um meiner stets frierenden Mama beizubringen, dass auch das Fräcktal einen Sommer habe: Kabinen, eine Liegewiese, bunte Sonnenschirme, ein Steg, ein Kahn. Leider hatte Mimi die Badeanstalt nur ein einziges Mal benutzt, und mit eigenen Augen hatte ich damals gesehen, was im Liegestuhl von ihr zurückgeblieben war: das weiße Kopftuch, die schwarze Hollywood-Sonnenbrille, die Unterarmtasche aus Krokoleder, die Stöckelschuhe. War sie ertrunken? Oder im Badeanzug aus dem Tal geflohen? Ich habe es nie erfahren. Über Mimi, ihr Verschwinden und ihren Tod durfte nicht geredet werden. Mimi hatte testamentarisch verfügt, man möge ihre Asche über den warmen Wellen des Mittelmeers verstreuen, und so wird es wohl geschehen sein, den letzten Willen wird man ihr erfüllt haben – das war alles, was ich wusste.
Ein paar Jahre lang benutzte man die Badeanstalt zum Testen neuer Produkte, beispielsweise der Flossen (»mit verstellbarer Fersenbindung«) oder unseres Badekappenmodells (»dreistreifig, zweifarbig, mit kurzen Ohrenflügeln«), aber auch damit war irgendwann Schluss. Heutzutage bringen sie die Gummilehrlinge nicht mehr dazu, ins eiskalte Wasser zu steigen und mit den Testprodukten zwei Tode auf einmal zu sterben, erfrierend zu ertrinken oder ertrinkend zu erfrieren. Die Badeanstalt ist zum Nistplatz der Möwen geworden. Die Möwen, die hier alles vollscheißen, sind erst mit dem künstlichen See ins Hochtal gekommen und haben die einheimischen Raben in die Bannwälder vertrieben, doch haben die Raben ihre angestammten Reviere nie ganz aufgegeben und flattern von den Höhen immer wieder herab, um die Geländer der Brücke zu besetzen. Aber keiner ihrer Späher beäugt meinen Vorstoß, kein Flügel streicht über mich hinweg, Dornröschen total. Oben in den Schneewäldern schlafen die Raben, in der Badeanstalt schlafen die Möwen, in der Villa schläft der Senior, im Pfortenhaus der Pförtner. Alles schläft. Alles ist Finsternis. Als ich mir den Ellbogen anschlage, merke ich, dass ich auf dem Rücken liege. Umdrehen. Aufstehen. Weiter.
Weiter! Nicht mit sich selber diskutieren, mit sich selber diskutieren macht schwach, zupacken, handeln, lautet die Devise des Seniors. Zupacken, handeln, kriechen. Und schreien! So laut schreien, dass ich zum ersten Mal seit dem Crash etwas höre. Ich höre es nicht von außen, eher von innen, als würden die Ohren in den Eingeweiden stecken, unter meiner Haut, unter dem bleischweren Mantel … weiter … weiter … nur noch zehn Schritte bis zum Ufer … zum Wegweiser, wo es links zur Badeanstalt geht, rechts zum Dorf, geradeaus zur Pforte, vor die gesenkte Schranke, vor das nächtlich geschlossene Stahltor. Das Blut läuft, mein Puls rast, der Durst ist durch den Wodka noch schrecklicher geworden, aber ich habe das Ende der Brücke erreicht.
Seit wann trage ich, der Sohn der Gummifabrik, Plasticstiefel? Und meine Hände! Eingeschlafen, wohl schon seit einer ganzen Weile. Die Piste ist weiß geworden. Mimi, liebste Mama, wie befiehlt man seinen Händen? Wie bringt man sie dazu, mit der Schelle um Hilfe zu läuten? Ja, ich habe eine Schelle aus der Tasche gezogen, mit Holzgriff. Als wäre ich der Weihnachtsmann!
Unten am Ufer steht Calas Wohnwagen. Vielleicht hat sie einen späten Freier und würde mich hören, aber wie soll ich mich bemerkbar machen? Meine Hände sind die Hände eines Fremden. Ich bin ihnen entglitten. Sie haben mich verlassen. Und das Atmen! Wie schwer es mir fällt. Als würde ich mit dem Würgeengel ringen. In den Adern eisige Kälte. Die Lunge verdickt, aus Gips. Die Kehle wie zugeschnürt. Um mich herum wattige Stille … ein lautloses Sinken der Flocken … ein wenig schlafen jetzt … nicht lang … höchstens eine Minute … und schon verwandelt sich die Kälte in Wärme, leicht fließt der Atem, und habe ich je etwas Schöneres gesehen als diesen Straßenpfosten: vollendete Form, mit einer Kappe aus Schnee?