Da ging die Tür auf.

Die rechte Hand des Mannes hielt meinen Pass. Blick aufs Foto, dann auf mich, wieder aufs Foto.

»Übel Heinrich junior?«

»Jawohl.«

»Geburtsdatum?«

»21. Dezember 1950

»Kress«, stellte er sich vor. »Parteisekretär VEB Funkwerke Berlin-Köpenick.« Er beugte sich zu meinem Ohr und flüsterte: »Wollten Sie in Köpenick nicht jemanden treffen, Herr Doktor Übel? Folgen Sie mir!«

Ich war jetzt hinter der Dornenhecke: im Innern von Dornröschens grauem Schloss.

Kress führte mich durch den dunklen Sperrkreis in eine düstere Straße hinein.

»Nein, Dörte«, rief der Oberst in die neblige Nacht hinaus, »rein dienstlich! Sondereinsatz! Schätze, in gut einer Stunde … wenn wir den Sizilianer im Gästehaus abgeliefert haben … Die Genossen lassen grüßen. Ende.«

Der Hörer wurde in der Armlehne verstaut. Der Oberst musterte mich. Handschlag. Einsteigen.

»Lieber Herr Doktor Übel«, bemerkte Kupferschmidt, als wir uns in der winzigen Kabine mit geduckten Köpfen unterzubringen versuchten, »saubere Arbeit. Glückwunsch. Sie haben den einzig noch möglichen Weg gewählt, um mit uns in Kontakt zu treten.«

»Entschuldigen Sie, Genosse Oberst, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Vom Bürgerkrieg! Von der Konterrevolution! Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße … Peschke, Tube durch!«

Der Wagen tuckerte los.

»Genosse Oberst«, versuchte ich meine Mission zu er

Ein bitteres Lachen: »Erstens, lieber Doktor Übel, befinden Sie sich seit 23 Uhr illegal auf dem Territorium der DDR. Zweitens könnten schon in wenigen Stunden auch Kress, ich und der Genosse Peschke illegal sein. Uns allen, der gesamten Partei und sämtlichen Staatorganen, droht die Entmachtung. Aber keine Bange, Doktor Übel. Mit uns können Sie offen reden … Wir wissen Bescheid.«

Auf der Hutablage klebte ein Plastehund – »unser Trabi-Dackel«, wie mir Kress zuflüsterte. Der Trabi-Dackel schüttelte unentwegt den Kopf, als könne er einfach nicht begreifen, dass die Allee, die im Rückfenster immer länger wurde, trotz leuchtender Kandelaber vollkommen leer war. Kein anderer Wagen, kein Passant, nur hie und da ein Militärposten, an dem wir salutierend vorüberglitten. Es ging ostwärts, tief und immer tiefer hinein in einen Albtraum, den ich selber in Gang gesetzt hatte.

Ich fasste mir ein Herz und fragte: »Genosse Oberst, worüber wissen Sie Bescheid?«

»Nachdem wir erfahren haben«, antwortete der Oberst, »dass Sie in Westberlin am Gummikongress teilnehmen, haben wir Sie erwartet, lieber Doktor. Sie kommen verdammt spät. Unsere Friedensrepublik ist dem Untergang geweiht, aber was hätten wir tun sollen – sämtliche Pastoren und Jesus-Sandalen verhaften und ins Umerziehungslager stecken?«

Wie der Trabi-Dackel in meinem Nacken konnte ich nur

»Peschke, rechts ran!«, befahl der Oberst.

Die Bremsen quietschten. Wir alle, die Köpfe einziehend, starrten zur Frontscheibe hoch, über der zwei nach vorn gerutschte Holzfüße bedrohlich kippelten, um dann doch hängen zu bleiben – die Gummizüge hatten gehalten.

Der Oberst schnellte aus dem Wagen und brüllte: »Nein, Dörte, die Genossin Montag ist nicht dabei, nur der Sizilianer! Praktisch taub. Keine Hörhilfen. Wenigstens kann er ein bisschen Deutsch … Bis gleich, mein Schatz. Die Genossen lassen grüßen. Ende.«

Wieder im Trabi, der stotternd, stöhnend, tuckernd anfuhr, meinte der Oberst: »Wir rechnen damit, dass die Konterrevolutionäre in den nächsten Stunden losschlagen. Hoffen wir, dass es Ihnen gelingt, die beiden Mädchen noch vor dem Untergang in den Westen zu schaffen.«

Wie bitte? Was hatte er gesagt? Ich sollte Mädchen in den Westen bringen? Mein Koordinatensystem löste sich mehr und mehr auf, und ich fragte mich bang, in was für eine Panne ich gerade hineingekarrt wurde.

Der Oberst wandte sich nach hinten: »Hat Ihnen Kress gesagt, dass er Paulas Vater ist?«

»Verzeihen Sie, Genosse Oberst, wer ist Paula?«

»Die Tochter der Montag.«

Es wurde immer verrückter. Die Schlaglöcher nahmen

»Mo Montag«, rief Kupferschmidt, den es gerade wieder hochwarf, »war das für die Werbung zuständige Mitglied der Delegation für ökonomische Sondermaßnahmen. Sie sind sich auf Sizilien begegnet. Die Montag hielt damals große Stücke auf Sie. Ein echter Sizilianer, hat sie gemeint.«

»Auch über Ihr Schreiben hat Sie sich gefreut«, ergänzte Kress.

»Sie sind uns seinerzeit bis Algier nachgereist«, fuhr der Oberst fort, in den Rückspiegel grinsend. »Zu einer Begegnung hat’s nicht mehr gereicht, Ihr Verhalten jedoch war deutlich genug.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass …?«

»Nicht andeuten. Beim preußischen Militär spricht man Klartext. Auf Sizilien haben Sie gegen den Kellner den Kürzeren gezogen.«

»Ist das wahr?«

»Natürlich. Doch waren wir sicher, dass einer wie Sie nicht aufgibt. Sohn eines Unternehmers, von Jugend auf gewöhnt, dass seine Wünsche erfüllt werden. So einer, haben wir uns gesagt, bleibt dran. Dann ist Ihr Brief eingetroffen. Damit war klar, dass wir Sie richtig eingeschätzt haben. Sie sind bis über beide Ohren verknallt.«

»Der Brief war nicht für Sie bestimmt, Genosse Oberst.«

»Stimmt, adressiert war er an den Genossen Parteisekretär Kress.«

»Mit der Bitte um Weiterleitung«, protestierte ich.

»Ist gestern erfolgt«, meldete Kress, »die Adressatin hat sich gefreut.«

»Jetzt reicht’s«, rief Kupferschmidt, »jetzt kann die Dörte was erleben!«

Zum ersten Mal kam mir der Verdacht, das mobile System könnte nicht gar so segensreich sein, wie ich es mir in meinen Unternehmerträumen ausgemalt hatte.

»Nein, Dörte«, brüllte der aus dem Wagen geschnellte Oberst in den Hörer. »So weit gehen die nicht! Sind schließlich Pfaffen. Du wirst mit ein paar Jahren Lagerhaft wegkommen … Nicht Sibirien … Hohenschönhausen, vermute ich … angenehme Zellen, gute Küche, aber hör jetzt endlich auf, mich dauernd anzurufen! Das macht die Lage nicht besser! … In gut einer Stunde … Was? Natürlich bist du mein Zuckerpüppchen. Offiziers-Ehrenwort! Die Genossen lassen grüßen. Ende.«

»Meine Herren«, sagte ich und lehnte mich zurück, »ich denke, Sie haben den richtigen Mann ausgewählt. Ich werde alles nur Mögliche unternehmen, um die Genossin Montag und ihre Tochter Paula in den Westen zu bringen … sofern das tatsächlich nötig sein sollte …« Ich räusperte mich: »Angreifende Pastoren kann ich nämlich nicht sehen. Sind Sie sicher, dass der erste Friedensstaat auf deutschem Boden in Auflösung begriffen ist?«

 

Die Eingangshalle des Gästehauses Wachregiment Feliks Dzierszynski hätte eher zu einer Kaserne gepasst. Der Wachhabende hinter einem Pult, darauf eine gummierte Unterlage, eine Tischlampe, ein Telefonapparat – die gleiche Ausstattung wie in der Baracke am Grenzkontrollpunkt. An den Wänden behördliche Mitteilungen: Winterdienst,

Der Wachhabende stellte uns eine ganze Batterie von Flaschen hin, den Rest seines Bestands: Wodka aus der Sowjetunion, Weinbrand aus Aserbaidschan, Sekt von der Krim sowie süßen Rotwein (»Rosenthaler Kadarka«), süßen Weißwein (»Murfatlar«) und einen »gemixten Roten« namens »Stierblut«.

»Was wir nicht wegsaufen«, meinte der Oberst, »wird den Pastoren in die Hände fallen. An die Arbeit, Genossen!«

Wir begannen mit Wodka …

Was blieb mir anderes übrig? Ich trank kräftig mit. Zumindest für diese Nacht saß ich im Gästehaus des Wachregiments fest und würde mein Dornröschen nicht wachküssen können. Und das war nicht einmal das Schlimmste.

»Genossen«, entrüstete sich der Oberst, »ich kann kaum noch einen Schritt machen, ohne dass es klingelt!«

Bei der zweiten Flasche begann der Oberst zu jammern, dass er im Alter von fünfzig Jahren plötzlich am Abgrund stehe, bei der dritten beschwor er mit leuchtenden Augen die »friedliebende Sowjetunion«, vergoss ein paar Tränen und schüttelte immer wieder die Faust gegen einen Feind, den er den »Großen Desorganisator« nannte. »Das soll man mir mal erklären«, schimpfte Kupferschmidt, »wieso der wissenschaftlich bewiesene Weltgeist den historischen Irrtum zulässt, dass der Große Desorganisator die erste Friedensrepublik auf deutschem Boden den Pastoren ausliefert, nasdrowje!«

Nasdrowje. Mir rief das russische Feuerwasser meine Unfallnacht in Erinnerung. Ich war nüchtern mit dem Brückengeländer kollidiert – und hatte mich danach mit Wodka abgefüllt. Danach! So etwas fiel nur Heinrich Übel junior ein – oder dem Großen Desorganisator. Cala und Marder hatten wohl meine Fahne gerochen und könnten mich aus diesem Grund über die Grenze gebracht und irgendwo auf Sizilien, in Palombis Heimat, versteckt haben. Aber. Aber! Aber warum lebte ich seit dem Crash ein anderes Leben als davor? Was hatte diese Wandlung bewirkt?

»Ein offiziersmäßiges!«, brüllte Kupferschmidt aufspringend.

Und wir, die Gläser hebend: »Zicke zacke zicke zacke hoi hoi hoi!«

»Ex!«

»Nachladen!«

»Vor allem dürft ihr niemals schweigen«, flüsterte der Oberst. »Wer schweigt, hat geheime Gedanken. Deshalb rate ich euch: Lest ihre Zeitungen. Äußert euch im Sinn ihrer Leitartikler. Ihr werdet sehen, alle schreiben das Glei

»Und ja niemanden grüßen«, riet der Parteisekretär Kress, ebenfalls flüsternd. »Im Funkwerk habe ich stets beobachtet, wie sie einander grüßten. Grüßte die X den Y, aber nicht den Z, konnte ich daraus meine Schlüsse ziehen – die Netze haben sich sofort gezeigt. Mich werden sie an die Wand stellen, ich mach mir da keine Illusionen.«

»Ich hau ab«, sagte der Wachhabende. »Eines Tages rollt der Weltgeist wieder für uns.«

»Nein«, rief der Oberst, »abhauen darfst du nicht! Damit würdest du dich sofort verdächtig machen. Deine einzige Chance besteht darin, dich so zu verhalten, als würdest du von der Säuberung nichts mitbekommen. Wenn du dich absonderst, zeigst du den Pastoren, dass du zu uns gehörst – auf den Lastwagen und ab ins Lager!«

»Meinen Leuten in den Funkwerken«, erzählte der Parteisekretär, »hab ich empfohlen, die Bücherregale zu säubern, vor allem die Klassiker, Marx Engels Lenin. Die Montag hat geheult wie ein Schlosshund.«

»Sagen Sie bloß, sie hat die Klassiker in den Ofen gesteckt?«, entrüstete sich der Oberst. »Was seid ihr doch für Anfänger! In einer Zeit des Umsturzes darf man überhaupt nichts verbrennen, nicht mal einen Notizzettel. Wenn du jetzt irgendwo ein Feuer machst, und sei es in deinem Kohleofen, wird das von der Vorsitzenden des Hauskollektivs sofort der Partei … ich meine natürlich den Pastoren gemeldet. Tja, dann ist sie dran, die Montag. Die werden behaupten, sie habe Dokumente beseitigt.«

»Hat sie aber nicht«, meinte Kress kleinlaut.

»Genosse Oberst, Telefon!«, meldete Peschke, und der Oberst, als habe er sich in seine alte Machtfülle hineingeredet, empfahl sich mit einem Zusammenschlagen der Hacken, die flache Rechte am Mützenrand.

»Bitte mich zu entschuldigen – die Gemahlin!«

»Lieber Doktor Übel«, lallte der Parteisekretär, »etwas Dümmeres als das mobile Telefoniesystem haben unsere Forscher und Entwickler nie hervorgebracht. Eine typische Endzeit-Idee! Jeder Genosse mit seiner Genossin verbunden, jeder Werktätige mit der Zentrale, jeder Parteisekretär mit dem ZK! Auf die Dauer hält das kein Schwein aus.«

»Genosse Parteisekretär, ich würde Ihnen zu einem etwas moderneren Design raten. Nichts gegen einen gemütlichen Ohrensessel, aber das Gehäuse müsste handlicher sein, finde ich. Handlicher und mobiler.«

»Denken Sie an einen Rollstuhl?«

»Nein, an unser Kinderwagenmodell Erika. Eiförmig, mit halbbedeckten weißen Gummireifen, gummierter Schiebeleiste und ausfaltbarem Dach, einseitig chloriniert, garantiert wasserabweisend.«

»Mann, vergessen Sie Ihre Erikas! Das geht schon gar nicht. Nie und nimmer.«

»Warum nicht?«

»Glauben Sie im Ernst, das gesamte ZK schiebt einen Kinderwagen vor sich her? Das wäre ganz im Sinn des Großen Desorganisators! Dem ist alles recht, was uns lächerlich macht. Deshalb soll doch die Jugendbahn gefeiert werden!«

»Die jugoslawische! Nie von ihr gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Kommunistische Jugendbrigaden aus aller Welt haben die Bahnstrecke nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut«, erklärte Kress verzweifelt, »irgendwo in den Bergen Bosniens.«

»Seit wann liegt Bosnien in der DDR

»Das ist ja der Punkt, Herr Doktor Übel! Bosnien liegt in Jugoslawien, aber wir sollen für die die Jubiläumsfeier ausrichten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wer diesen feinen Plan ausgeheckt hat. Lass die ostdeutschen Kommunisten vor der Weltöffentlichkeit lächerlich werden, hat sich der Große Desorganisator gesagt, dann gehen sie von selber unter. So ist es allen großen Reichen ergangen. Zu guter Letzt wurden sie weggelacht.«

Der Oberst, im knallenden Stechschritt vom Sesseltelefonat zurückgekehrt, baute sich vor einem betonierten Blumenkübel auf, worin er eine Wanze wähnte, und brüllte: »Wir haben unser Bestes gegeben. Wir haben die Zukunft geschaffen, und eins kann ich euch sagen, euch Mietlingen und Agenten des Großen Desorganisators, eines Tages wird man auf unsere Zukunft zurückgreifen … Dörte wieder?«

»Jawohl, Genosse Oberst!«, meldete ein verschneiter Genosse Peschke im Eingang.

»Ex.«

»Ex.«

Plumps! Hatte mich erhoben, wurde vom Schwindel ergriffen, fiel auf den Stuhl zurück. »Ich sollte mal«, sagte ich dumpf.

»Alle Pötte voll«, sagte der Wachhabende, »wenn du geschissen hast, greifst du zum Pömpel!«

»Pömpel, Genosse Wachthabender?«

»Ein Holzstiel mit Gummiglocke. Damit stopfst du deine Scheiße ins Abflussrohr. Dann weißes Pulver drüber, Sonderlieferung aus Leuna. Mir soll keiner nachsagen, ich hätte mein Gästehaus nicht besenrein übergeben.« Er warf einen flüchtigen Blick nach draußen, wo der Oberst an der Nabelschnur des Ohrensessel-Telefons auf und ab tanzte, und flüsterte: »Ich war stets einer von euch. Gegen den Sozialismus! Gegen die Zukunft! Wenn du in deiner Fabrik einen Job für mich hast, wäre das eine feine Sache. Pömpel rechts vom Klo! Pulver nicht vergessen!«

Die Toiletten befanden sich im Untergeschoss, der Gestank wurde schon im Flur unerträglich, und ich konnte nicht verhindern, dass er mich … an Maureen erinnerte. Du lieber Himmel, dachte ich entsetzt, inzwischen könnte ihr Verwesungsgeruch ins Treppenhaus gedrungen sein und Alarm ausgelöst haben … oder war sie nur bewusstlos gewesen?

Kotzen, pömpeln, Pulver aus Leuna drüber, verflucht

Als ich in die Eingangshalle zurückkehrte, war der Wachhabende verschwunden und Kress, der Parteisekretär im schwarzen Ledermantel, auf ein Bündel von Geräuschen reduziert – als säße da ein altes, leerstehendes Haus, worin Türen knarrten, Wind jammerte, ein Gespenst umging. Kupferschmidt telefonierte wieder, und der Genosse Peschke, der seit Stunden in eisiger Nacht auf Posto stand, glich einem der Kämpfer in der Endschlacht um Stalingrad.

»Wird sie tanzen?«

»Jawoll! Große Eröffnungsnummer. Die Montag als Dampflok!«

»Genossen, ihr könnt auf mich zählen!«

 

Samstag. Frühstück im Gästehaus Wachregiment Feliks Dzierzynski. Wodka Weinbrand Krimsekt (infolge Wassermangel). Anschließend in Bussen (wie beim Gummikongress) Fahrt in die Innenstadt: die Jugoslawen und ich. An Bord eine gehobene Stimmung (infolge Alkohol). Kein Wind mehr, kein Schnee, ein gelblichbrauner Dunst, der Sonnenball ungesund und fahl. Einer am Mikro erklärte, zum Kulturprogramm werde ein Abgesandter aus Moskau erwartet, der Genosse Roshdestwenski, worauf wir alle in ein rhythmisches Klatschen verfielen. Einmal überholten wir ein Trüpplein von Jesushaarigen mit Transparenten, und vor einer Backsteinkirche brannte ein Feuer, um das ein Pastor und seine Getreuen einen Kreis bildeten, einander an den Händen haltend wie Kinder beim Reigentanz. Unsere Fröhlichkeit verflog. Nirgendwo Passanten, kaum Verkehr, auch tagsüber war es hier wie in der Nacht. Das Straßenbild ein Stahlstich, farbig nur die roten Parolenbänder, alles andere Grau in Grau. Fuhr unsere Kolonne im Kreis? Nicht gerade im Kreis, doch umfuhren wir in größeren Bögen die Kirchen.

Der Minister beschwor in seinen Begrüßungsworten die »Hydra des Kapitalismus«, »das Rad der Geschichte«, »die Leistung der internationalen Jugendbrigaden«, »die sozialistische Zukunft« – mit anderen Worten: Es schien die Republik noch zu geben, der befürchtete Angriff der Pastoren war fürs erste ausgeblieben.

Am auffälligsten benahmen sich die aus der ganzen Welt angereisten Künstler, die gleich nach dem Ministerempfang das »sozialistische Kulturprogramm« bestreiten würden: Trommler aus Afrika, Panflötisten aus Chile, ein Operntenor aus Italien. Auch Traxel & Moff entdeckte ich im Gedränge eines hektischen Sich-Begrüßens, Um-den-

Moff brauchte bei seiner Rede keine Dolmetscher, denn er sprach in verschiedenen Zungen und genoss es, den kargen Inhalt durch die Übersetzungen aufzuplustern. Er hatte die Linke lässig in die Tasche gesteckt, hielt mit der Rechten die Pfeife und teilte viermal hintereinander mit, wie stolz er sei, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auch aus seinem Land, der kapitalistischen Schweiz, ein aufrechtes Fähnlein junger Brigadisten in die Berge Bosniens gezogen wäre, um mit Hacken, Pickeln, Dynamit und einem unerschütterlichen Glauben an die Zukunft des Sozialismus die Jugendbahn zu errichten.

»Genosse Minister, Genossinnen, Genossen«, schloss Moff seine Rede ab, »wir schätzen uns glücklich, dass der Abgesandte aus Moskau, unser aller Freund Roshdestwenski, das Jubiläum mit seiner persönlichen Anwesenheit zu einem historischen Ereignis erheben wird, und dafür gebührt dir, lieber Genosse Rosh, der tiefe Dank von uns allen.«

Langanhaltendes rhythmisches Klatschen, insgesamt viermal, wobei Moff den Applaus nach jeder Sprachversion an den tumb dahockenden, abwesend wirkenden, ver

Obwohl nur beschworen und noch gar nicht angekommen, löste der Abgesandte aus Moskau Begeisterung aus, und sollte einer (ich) von dieser Weltpersönlichkeit noch nichts gehört haben, wurde er rasch eines besseren belehrt: Vorsitzender der Auslandskommission im sowjetischen Allunionsverband! Entdecker des Liedermachers Wyssozki! Leitartikler im »Wassertransport«! Wesentlicher Lyriker!

Nach dem fünften Glas war ich wieder breit.

»Dich«, sagte der Dichter Traxel, »kenne ich.«

»Aus Zürich, nehme ich an. Wir könnten uns bei Ellen begegnet sein.«

»Italiener?«

»Sizilianer. Wäre mir angenehm, du würdest mich Dutturi nennen.«

»Komm, trinken wir noch einen, Dutturi. Ich bin der Traxel, ein berühmter Volksdichter, und schon sehr viel länger mit dem Roshdestwenski befreundet als der Moff. Ich und der Rosh haben schon Lyrik über die sozialistische Zukunft fabriziert, da hat der Moff noch bis zum Hals in seiner bourgeoisen Sonett-Phase gesteckt.«

»Darf ich dich etwas fragen, Genosse Traxel?«

»Bist Germanist? Willst über mich schreiben?«

»Darüber reden wir noch. Was mich interessiert …«

»Zufällig hab ich meine neuen Volkslieder dabei, eben erschienen. Aus dem Volk, für das Volk! Bemerkenswert, hat die Kritik gesagt, be-mer-kens-wert!« Er winkte eine FDJlerin herbei, pflückte zwei Gläser vom Tablett, drückte

Wodka. Wieder Wodka. Wie auf der Brücke und wie vor einigen Stunden im schauerlichen Gästehaus. Er brannte, als hätte ich eine Flamme geschluckt, aber wenigstens konnte ich nun das Thema ansprechen, das mich seit gestern Nacht im Würgegriff hatte.

»Genosse Traxel«, fragte ich vorsichtig, »ist dir eine gewisse Maureen bekannt, die Assistentin der Ypsi-Feuz?«

»Meinst du die mit dem Fuß?«

»Ja. Eine gebürtige Amerikanerin. Aus Frisco.«

»Stimmt«, rief Traxel. »Maureen. War früher mal mit dem schrecklichen Schauspieler Quassi zusammen.«

»Dann mit dem jungen Übel.«

»So? Davon weiß ich nichts.«

»Aber ich. Wie geht es ihr? Ist sie immer noch Ellens rechte Hand?«

»Ich glaube ja«, meinte Traxel und entnahm seiner speckigen, mit Manuskripten und Flachmännern gefüllten Tasche eine Art Telefonapparat, mit einer gummierten Antenne, die etwa so lang und dick war wie ein Zeigefinger. »Am besten rufen wir in Zürich an. Da kannst du sie gleich selber fragen.«

»Wie … was …«

»Na, diese Maureen«, versetzte Traxel, und begann, auf die beleuchteten Ziffern einzutippen. »Da staunst du, gell? Eine asiatische Firma hat das Ding auf dem Weltkongress für Poesie in Toronto verteilt.« Er hielt es eine Weile ans Ohr. »Kein Anschluss. Liegt vermutlich am Osten.«

»Ja«, erklärte Traxel. »Drahtlos.«

»Drahtlos …«

»Mit der Verbindung klappt’s nicht immer, aber immer öfter.«

»Immer öfter …«

»He, Dutturi, wohin gehst? Fängt das Kulturprogramm an?«

Ich stolperte treppab, kam ins Taumeln, fing mich auf, rannte weiter. Das Gebäude schwankte, auch die Treppe – ich war breit.

Und unten. Ganz unten. Nur leider nicht in den Toiletten, sondern in einer Waschküche, und als ich den Kopf samt Hut in die Trommel einer Waschmaschine steckte, kam es mir vor, als würde ich wieder in jene Spirale eintauchen, die sich in den kreisenden Sternenfeldern über der Brücke und gestern Nacht im Abflussrohr der verstopften Gästehaustoilette offenbart hatte. Das drahtlose Telefon war bereits erfunden und in handlicher Form auf dem Markt. Mit meiner unternehmerischen Glanzidee kam ich zu spät, um Jahre zu spät, und damit war der große Traum meines Lebens, der mich seit meiner Begegnung mit der Funkwerkerin durch die Welt getragen hatte, geplatzt. Bruchlandung eines Phantasieballons. Da war ich überzeugt gewesen, mit dem Einbau des ostdeutschen Telefoniesystems in unsere überflüssigen Erikas einen Beitrag zur Ost-West-Verständigung zu leisten; da hatte ich unerschütterlich geglaubt, die Gummifabrik in die Zukunft führen und dem Senior beweisen zu können, dass ich imstande sei, seine Nachfolge anzutreten;

Während die Wogen aus mir herausbrachen, kam es mir vor, als würde mein Sommerhut irgendwo da unten, sehr weit unten, in den Abgrund gesogen … Addio, addio! Mein Hut! Mein lieber, mich behütender sizilianischer Hut! Ich hatte ihn vollgekotzt. Ich konnte ihn nicht mehr aufsetzen. Sollte die Fahndung nach mir angelaufen sein, würde man mich sofort erkennen. Seht, das ist er, da geht er, der Mann mit der Narbe!

 

Alexanderplatz, 15 Uhr. Am Tempelfries über der großen Bühne flammte ein roter Stern, eine Fanfare ertönte, und nach einem Gezerre an der Zeltplane, die den Zuschauerbereich umschloss, gelang es einigen Volkspolizisten, rechts von der Bühne eine Öffnung herzustellen, durch die eine Truppe von Jugendbahn-Veteranen mit Schaufeln und Pickeln, viele an Krücken, manche in Rollstühlen, in die Arena einzogen. Dazu donnerte aus den in Viererbündeln an den Masten hängenden Lautsprechersärgen Partisanengesang, der immer wieder von einer Durchsage unterbrochen wurde: Die jugoslawische Delegation möge sich unverzüglich melden. Schließlich schnappte sich einer der Brigadisten das Mikro und teilte dem Platz mit Halleffekt

Plötzlich ein Pfiff, ein wehmütiges Tuten, das Rollen von Rädern, und mit schwenkenden Hüften zog eine Dampflok einen jubelnden Zug frischer Mädels und fescher Jungs auf die Bühne, alle mit Spaten und Pickeln, straff im Fahrtwind die roten Banner, rot ihre Halstücher und rot ihre Wangen, rot und gesund und durchglüht von einem Glauben, der beim Bau der Jugendbahn Berge versetzt und Tunnel gebohrt und Abgründe überwunden hatte. Auf der Felskanzel, die sie umtanzten, erhob sich denkmalsgleich der Genosse Lenin und wies mit gerecktem Kinn und ausgestrecktem

Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz, wie vom Zauberstab berührt schwebte ich nach vorn, auf die Bühne, zur Lok, doch bevor ich sie erreichte, rutschte Lenin von der Kanzel und stürmte auf mich zu, der Tanzgruppenleiter, »unser Matthias«, und kaum zu glauben, statt mich mit einem Faustschlag auf die Bretter zu strecken, ergriff er meine Hand – um sie zu schütteln! Herzlich! Ein Wiedersehen befreundeter Genossen! Schon standen wir zu dritt an der Rampe, ich, Mo Montag als Dampflok und Lenin, der das Mikro vom Ständer riss und aus den Lautsprechersärgen meine Titel hervordonnern ließ: »Persönlicher Abgesandter des Genossen Generalsekretär des ZK der KPdSU! Vorsitzender der Auslandskommission im Allunionsverband! Entdecker des Volkssängers Wyssozki! Leitartikler im »Wassertransport«! Wesentlicher Lyriker! Veteranen der Jugendbahn, Werktätige, Kunstschaffende, Genossinnen und Genossen, heißen wir den Genossen Roshdestwenski, das wahre sozialistische Vorbild, im ersten Friedensstaat auf deutschem Boden willkommen!«

Ich stand neben der Dampflok an der Rampe. Der peinlichste Moment meines Lebens war auch der glücklichste.

 

Mo, ich liebe dich. Und wie ich dich liebe. In der Menschensprache gibt es kein Wort dafür, denn die Gewissheit, dass wir füreinander bestimmt sind, kommt aus unsagbaren Tiefen, aus dem Jenseits der Zeit, aus pränatalen Räumen. Du meine Anima. Ich dein Animus. Ja, unsterblich ist unsere Liebe, daran kann auch dein Kostüm nichts ändern:

Die Arie von Liebe und Tod –

Mo, meine Anima, mein Aktivist, mein Dornröschen, warum bin ich dir nach Afrika gefolgt? Weshalb hat mich der Internationale Gummikongress in deine Nähe geführt? Was hat es zu bedeuten, dass wir uns auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs wiedersehen? Mo, eigentlich wollte ich nur herausfinden, was in jener Unfallnacht geschehen ist. Wie ich überlebt habe. Und wieso die Welt seither eine ganz andere ist: zugleich schrecklicher und, dank dir, schöner. Verstehst du, was der Tenor singt? Begreifst du, warum

Als der Tenor endete, war es still, atemlos still, und in diese Stille hinein wiederholte er die letzte Strophe, inniger als je. Wir lauschten verzückt. Ich drückte Mo mit aller Kraft an mich, presste ihren Dampfkessel wie eine Ziehharmonika zusammen, durchbrach mit der Stirn die durchsichtigen Fensterfolien des Lokführerstandes und tauchte ein in den dunklen Sternenkranz ihrer großen grauen Augen.

 

Irgendwann gelangten wir über einen Notausgang ins Freie. Dienstbare Vopos halfen Mo, sich der Trümmer ihrer Lokomotive zu entledigen, und in einem Wohnwagen, der neben der Bühne aufgestellt war, konnte sie sich abschminken. Sie musste ihre Tochter Paula vom Kindergarten abholen und schlug mir vor, sie ein Stück zu begleiten – so könnten wir über alles miteinander reden. Sie ging davon aus, dass ich taub war, wie schon in den Dünen, und damit ich sie trotz fehlender Hörgeräte verstehen konnte, begleitete sie ihre Worte mit überdeutlichen Gesten: »Danke! Für Brief!«

»Du musst nicht schreien, Mo, ich habe mich von meinem Autounfall erholt.«

»Du siehst nicht gerade gesund aus, Genosse.«

»Ich habe zuviel getrunken. Die frische Luft wird mir guttun.« Ich legte die Hand auf ihren Unterarm und sagte: »Entschuldige, dass ich den Brief an Kress geschickt habe. Es war die einzige Möglichkeit, dich zu erreichen. Du hattest auf Sizilien seinen Namen genannt, deinen kenne ich erst seit gestern.«

»Der Oberst hat es mir gesagt. Wann hast du erfahren, dass ich hier bin?«

»Gestern Nachmittag. Sie haben mir mitgeteilt, dass du am Grenzkontrollpunkt nach mir gefragt hast.«

»Die Grenzbeamten sollten mir sagen, wie ich nach Köpenick hinauskomme. In diesem Zusammenhang ist dann der Name Kress gefallen.«

»Ihn hättest du besser herausgehalten.«

»Ich habe mich im Brief sehr zurückhaltend ausgedrückt. Warum er dir bis gestern vorenthalten wurde, ist mir ein Rätsel.«

»Die Partei weiß am besten, was für uns gut ist. Wir sind ihr dankbar, wenn sie uns vor Ausflüssen des kapitalistischen Auslands bewahrt.«

»Mo, lass das bitte, ja? Sofern Kupferschmidt nicht vollkommen hinüber ist, sieht es für euch momentan nicht gerade gut aus.«

»Kleine Rückschritte im dialektischen Prozess.«

»So klein sind sie nicht, die Rückschritte. Der Große Desorganisator scheint euch langsam, aber sicher die Luft abzudrehen. Vergiss nicht, sein offizieller Abgesandter ist in meiner Gestalt auf der Bühne erschienen!«

Sie kicherte. »Hoffentlich bekommt unser Matthias keinen Ärger.«

»Vielleicht hat er längst die Seiten gewechselt. Vielleicht hat er uns an die Rampe geholt, weil er das Spiel des Großen Desorganisators spielt.«

»Matthias? Du bist ja verrückt. Unserem Matthias ist es

»Liebst du ihn?«

»Nein.«

»Liebst du den Oberst?«

»Auch nicht.«

»Aber der Oberst liebt dich. Zumindest ist Dörte Kupferschmidt dieser Ansicht. Alle sieben Minuten läutet der Ohrensessel.«

»Ph!«, machte sie abschätzig. »Die Dörte hätte halt begreifen müssen, was die Partei von ihr erwartet, nämlich ein Ehe- und Sexualleben, das es ihrem Mann erlaubt, seine Kräfte voll und ganz in den Dienst …«

»Mo, wenn ich die Genossen richtig verstanden habe, liegt ihnen sehr viel an deinem Schicksal. Kupferschmidt und Kress befürchten das Schlimmste.«

Sie hakte sich unter, und mit einem Blick über die Schulter sah ich, dass uns über den leeren grauen Platz eine ganze Truppe von Mo-Verehrern folgte: Oberst Kupferschmidt, Parteifunktionär Kress, der italienische Tenor und, etwa fünfzig Schritt zurück, der auf Peschkes Beinen watschelnde, unentwegt klingelnde Ohrensessel.

»Diese Kleingläubigen!«, empörte sich Mo. »Dass der Weltgeist zur klassenlosen Gesellschaft emporrollt, haben unsere Klassiker wissenschaftlich bewiesen. Das hat sogar Paula kapiert. Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.« Verschämt wischte sie mit dem Handrücken eine Träne aus den Augen, vermutlich im Geden

Ich hielt sie zurück. »Mo, deine Genossen haben mich gebeten, dich und deine Tochter in den Westen zu bringen. Aber wenn ich dich so reden höre, habe ich meine Zweifel, ob du dein Paradies verlassen willst.«

Ein Lächeln glitt über ihre Züge, scheu senkte sie den Blick und fragte: »Hast du schon mal von Platon gehört?«

Der Name Platon aus Mos Mund! Es haute mich um. Es verschlug mir die Sprache. Ich war völlig perplex. Hatte sie am Ende recht – war mein Gehör derart angeschlagen, dass ich ihm nicht mehr trauen durfte? Ich riss mich zusammen. Ich fasste sie in den Blick.

»Mo, hast du tatsächlich Platon gesagt?«

»Ja. Plaa-toon!«, rief sie. »Hör-ge-rä-te!«

»Ich werde mich bemühen, aber sag mir bitte, wie kommst du ausgerechnet auf Platon?«

»Unser Matthias hat von ihm gesprochen, im Zusammenhang mit einer Tanznummer zum vierzigsten Jahrestag der Republik. Du kannst dir nicht vorstellen, wie herrlich es war, die ganze Hauptstadt beflaggt, auf der Karl-Marx-Allee eine riesige Parade, die NVA im Stechschritt, Raketen, Düsenflugzeuge …«

»Bleiben wir noch einen Moment bei Platon. Was weißt du von ihm?«

»Er hat behauptet, jedes Liebespaar sei ursprünglich eine Einheit gewesen. Selbstverständlich lehnen wir eine solche Idee ab. Als Kommunist ist man kein halber, sondern ein ganzer Mensch, und unsere Ergänzung finden wir in der Partei. War dieser Platon nicht Sizilianer?«

»Irgendwie stimmt die Sage«, sagte Mo mit einem verzückten Lächeln. »Vor allem, wenn die männliche Hälfte ein Sizilianer ist.«

»Verzeih, Mo, sagtest du Sizilianer?«

»Mann, ich kann doch nicht die ganze Zeit schreien! Ja! Ich habe Sizilianer gesagt! Ich habe gesagt: In Sachen Liebe hat Aristophanes recht. Als ich Piddu begegnet bin, hab ich sofort gewusst …«

»Der! Kein anderer. Er ist es.«

»Genau. Bei dem hab ich weiche Knie bekommen.«

»Weiche Knie …« Ich taumelte, riss mich zusammen, fragte mit einem dümmlichen Grinsen: »Wissen Kress und Kupferschmidt von deiner Liebe?«

»Eigentlich schon. Aber der Oberst ist schrecklich eingebildet. Der kann sich gar nicht vorstellen, dass man die weichen Knie bei einem anderen bekommt.«

»Und Kress?«

»Kress liebt Paula. Er hat sich im Lauf der Zeit damit abgefunden, dass ich nicht sein Besitz bin.«

»Du gehörst der Partei.«

»Jedenfalls habe ich mich nach Kräften bemüht, ein guter Pionier und ein fleißiger Aktivist zu sein. Kurz vor Si

»Deine Knie wurden weich.«

Sie sah verträumt in die Ferne, um Mund und Augen das verzückte Lächeln.

»Wo war das?«

»In dieser schrecklichen Pension. Jeden Tag Spaghetti und Salat und Muscheln und Teigtaschen und Fisch und all diese Dinge. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich nach einem Eimer Kartoffelsalat aus unserer Werkskantine gesehnt habe.«

»Wie habt ihr euch verständigt, Piddu und du?«

»Ein Zimmermädchen hat ein bisschen gedolmetscht.«

»Wie bitte?«

»Wenn wir zusammen waren.«

»Ihr wart zusammen?«

»Wundert dich das?«

»Nein nein, eigentlich nicht …«, ich schluckte »… ich finde nur, dass zur Liebe … und zu den weichen Knien … wie soll ich sagen … eine gewisse Intimität …«

»Ach, du meinst die Dolmetscherin!« Sie kicherte. »Nur vorher. Und nachher. Beim Bumsen waren wir unter uns. Aber das ist schon länger her, mehr als ein halbes Jahr.«

»Seither hast du nichts mehr von ihm gehört?«

»Ja«, sagte sie, den Tränen nah, »seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Mein armes Kind, was musst du gelitten haben!«

»Ist nicht wahr!«

»Auf seinem Nachttisch lag die Bibel, ein von der Wissenschaft widerlegter Schmöker mit den absurdesten Behauptungen. Und weißt du, was das Allerschlimmste war?«

»Er konnte nicht einmal das Kommunistische Manifest auswendig.«

»Er ließ seine Socken an.«

»Wie bitte?«

»Beim Vögeln.«

»Nein!«

»Wollsocken.«

»Aber das ist ja …«

»Pervers«, sagte sie streng. »Und überall Krümel, Brösel, ausgespuckte Kerne!«

»Auch im Bett?«

»Ob sich das lohnt?«

»Nie im Leben, Piddu ist ein Macho aus der Spätphase des Kapitalismus … und ich …«

»Und du?«

»Ich dumme Kuh …«, schluchzend umschlang sie mich »… ich liebe ihn. Wir lieben uns beide. Piddu ist meine männliche Hälfte.«

Ich verlor den Kampf gegen die Tränen.

»Mo«, sagte ich tonlos, »ich werde meinen Auftrag erfüllen. Ich bringe dich und deine Tochter nach Sizilien. In die Villa Vittoria. Zu ihm.«

Als ich mir mit dem Taschentuch die Schweißtropfen von der Glatze reiben wollte, erwischte ich meinen Talisman: die zerknautschte Zigarettenschachtel, die ich nach meinem Erwachen in der Villa Vittoria bekritzelt hatte, Laila. Pol. Nein, sie war nicht Laila, natürlich nicht, wir hatten uns vor der Begegnung am Strand auf dieser Welt noch nie gesehen. Aber sie entsprach dem Bild, das ich in mir trug, und erfüllte eine Sehnsucht, die erst durch sie geweckt worden war. Wären wir uns nicht begegnet, hätte das Bild die Dunkelkammer nie verlassen und wäre mit mir begraben worden.

Da huschte auf einmal ein Schatten an uns vorbei, im schwarzen Ledermantel, den Hut tief ins Gesicht gezogen: Kress. Er murmelte Mo etwas zu, und schon war er weg, in der grauen Leere untergetaucht.

Sie schmiegte sich noch enger an mich und flüsterte: »Kress meint, eine weitere Übernachtung im Gästehaus Feliks Dzierzynski sei zu riskant. Willst du zu uns kommen?«

»Ja. Übrigens, sobald wir drüben sind, musst du dich nicht mehr um uns kümmern. Ich werde den Weg nach Sizilien allein finden. Als Kommunistin ist man überall zu Hause.«

»Wie sollen wir denn über die Mauer kommen?«

»Kupferschmidt hat mir erzählt, dass du als echter Mafioso einen Schweizer Pass hast. Vielleicht hilft uns deine Botschaft.«

»Mo, ich fürchte, dieser Weg ist uns versperrt. Ich bin leider kein unbeschriebenes Blatt. Nach mir wird gefahndet.«

Sie sah mich von der Seite an, und ich, von allen guten Geistern verlassen, hörte mich tatsächlich sagen: »Meine Ex wurde erwürgt.«

Auf einmal stand ich mutterseelenallein auf der leeren Straße – Mo hatte mich stehenlassen. Hielt sie mich für einen Mörder? Ein S-Bahn-Zug, der mit leuchtenden Fenstern in die Ferne glitt, ratterte wie ein sterbendes Herz. Ich hatte Hunger und Durst und nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich die Nacht verbringen könnte – meine Lage war katastrophal. Schließlich ging ich an den Gleisen entlang zurück – Richtung Alex. An einer Kreuzung lauerte ein kleiner Wagen, worin zwei Zigaretten glühten, doch kam ich daran vorbei, ohne dass die Türen aufklappten. Nachdem ich etwa einen Kilometer gegangen war, ertönte wieder das Rattern, doch anders im Klang, als beginne das Herz erneut zu schlagen, erregter von Atemzug zu Atemzug – und zu meiner übergroßen Freude durfte ich feststellen, dass ich in übeltypischer Weise die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte. Direkt vor mir trat Mo aus einem Gebäude, an der Hand ein kleines Mädchen.