Wo immer ich bin, was auch passiert ist: Der Name verbindet mich mit meiner früheren Existenz, mit dem Senior, mit unserer Gummifabrik, mit meiner Herkunft. Ich weiß, wie ich heiße. Ich bin mir nicht zum Anonymus geworden. Doch wer sind diese Leute, die mich auf einer Bahre tragen? Halt, möchte ich rufen, stellt mich ab, erklärt mir, was los ist! Da schob sich ein hoher Felsen vor den Abendhimmel, von Häusern überwürfelt, in den Fensterscheiben flüssige Glut, es hupte und ratterte und lärmte, es roch nach Tang und Fisch und Meer, und ich hätte schwören können: Ich bin irgendwo im Süden. Im tiefsten Italien. In einer Stadt am Meer. Aber warum waren die Träger stumm? Warum richtete keiner das Wort an mich? Und wie hoch, wie steil war dieser Felsen!
Auf der schmalen, leicht schaukelnden Bahre schwebte ich in eine düstere, nach Verwesung stinkende Gasse hinein. Hoch oben war der Himmel ein dünner Kanal, weiße Laken tropften, bunte Kleider wehten, Seidenstrümpfe tanzten zwischen den schiefen schwarzen Mauern ein lustiges Ballett. Unten hockten sie auf Strohstühlen vor ihren Bassos, schwarz verschleiert die alten Frauen, die Männer mit sonnenversengten Schädeln. Eitle Friseure präsentierten sich vor ihren Ladengrotten mit gerecktem Kinn und Rasiermesser als lebendem Werbeschild, weißen Schaum auf die Gasse schleudernd. Hier leuchtete eine Barreklame, hier klirrte ein Papagei mit seiner Kette, hier lagen die schweren Brüste einer Hure wie Melonen auf dem Fensterbrett.
Italien. Kein Zweifel, ich war in Italien. Priester trugen schwarze Rundhüte, Kirchenglocken läuteten, ein Portal donnerte zu, kräftige Hände halfen mir von der Bahre, und als es mir gelang, den schweren Schädel etwas zu heben, umgaben mich die hohen Marmorwände eines kühlen Mausoleums. Ein uralter langhagerer Diener stieß mit weißen Stoffhandschuhen das Eisengitter einer altmodischen Liftgondel auf, und langsam glitten wir nach oben … oder nach unten? Ging es immer tiefer? Ich konnte es nicht sagen. Ich war am Ende … und vielleicht, ein gefährliches Vielleicht, über das Ende schon hinaus …
»Seien Sie versichert, Signore, Sie sind hier unter Freunden.«
Eine schwarze Frau, von Kerzenlicht beleuchtet, an meinem Bett. Wird wohl ein Traum sein, sagte ich mir, denn sie trommelte. Sie trommelte! Trommelte und trommelte, monoton und geduldig, monoton und geduldig, bis mir die Augen wieder zufielen. Dann hielt sie mir einen Trinkhalm an die Lippen, Wasser oder Tee, und sagte in die ungewohnte Stille hinein: »Du hast Glück, ragazzu, das ist Laila el qedr, die Nacht der Nächte.«
»Laila?«
»Ja«, sagte sie, »Laila el qedr.«
»Laila el qedr.« Eine Weile überlegte ich. »Ist das Ihr Name?«
Sie schüttelte den Kopf mit der weichen Kinnkaskade und lächelte mit fleischigen dunklen Lippen. »Laila el qedr ist der Name dieser Nacht.«
Ich versuchte mich zu konzentrieren, was schwierig war, mein Kopf war heiß und hohl. Auf die Gefahr hin, mich schrecklich zu blamieren, versuchte ich ebenfalls zu lächeln und sagte: »Laila ist der Name der Nacht?«
»Der Name dieser Nacht. Es ist die Nacht, da die Himmel sich öffnen, die Engel herabsteigen und das Meerwasser trinkbar wird.«
Sie merkte, dass ich nichts begriff. »So sagen wir im Maghreb, im arabischen Afrika. Laila el qedr.«
Wieder begann sie zu trommeln, monoton und geduldig, monoton und geduldig, mal hörte ich den Trommelsang näher, mal ferner.
»Wo bin ich?«
»In Pollazzu.«
Ich tastete nach einer Zigarettenschachtel, die auf meinem Laken lag. »Stift!«
Die Methode ging auf meine Zeit in der Werbeabteilung unserer Fabrik zurück, als ich Einfälle auf zufällig greifbaren Unterlagen festgehalten hatte. Die Frau kramte in ihren Taschen, hielt mir einen Bleistift hin. Ich hob die Hand, krümmte die Finger, packte den Stift.
»Wie heißt die Nacht?«
»Laila el qedr.«
»Und der Ort?«
»Pollazzu.«
»Wo liegt das?«
»An der Südküste.«
»Südküste von was?«
»Sizilien.«
»Bin ich auf Sizilien?«
»Jaja. Schlaf jetzt. Schlaf ein.«
War die Frau real? Real, behauptete die Nase – sie roch nach heißem Fett und Fisch. Eine Zigarette hing ihr aus den dunklen Lippen. Hingegen meinte der Verstand: nicht real, eine Fieber- und Phantasieproduktion. Mit ihren voluminösen Oberschenkeln hielt die Frau eine schlanke, bastumwickelte Trommel fest, und ihre Haut hatte im Kerzenschein einen finsteren Glanz. Ihre linke Hand maß meinen Puls, und die Rechte schlug wieder die Trommel, monoton und geduldig, monoton und geduldig. Nie ließ sie mich los, ihre schwarzen Finger drückten meine Adern wie die Saiten einer weißen Geige. Hie und da, vermutlich in regelmäßigen Abständen, erfüllte Stille den Raum, und ich sollte am Trinkhalm saugen. Dann trommelte sie wieder, monoton und geduldig, monoton und geduldig, als würde ein tropischer Regen auf fette Blätter pladdern …
Irgendwann füllte eine rosige Fläche das offene Fenster. Der Aschenbecher war voller Kippen, Schwaden von Rauch schwebten über dem Bett. Die schwarze Hand trommelte langsamer … langsamer … langsamer … und auch mein Herz, an ihren Rhythmus gewöhnt, schlug ruhiger … ruhiger … ruhiger …
Du heilige Scheiße, warum war der Boden voller Haare? War ich in einem Frisiersalon ohnmächtig geworden? Fasste ich an meine Schädeldecke, hatte ich das Gefühl, etwas mir völlig Fremdes zu berühren, etwas aus Stein, aus Marmor. Ich patschte drauf rum, erschrak über das ungewohnte Geräusch, dann lag ich wieder reglos, verwirrt, verschwitzt. Die Sonne griff mit Strahlen, die allmählich flacher wurden, durch die Ritzen der geschlossenen Läden. Das Fenster stand offen, und jedes noch so zarte Lüftchen wurde von meinem kahlen Schädel registriert … eine neue, ungewohnte Empfindung. War da wirklich nur noch nackte Haut? Kein Haar mehr? Tatsächlich, sogar die Flügel einer eckig herumsausenden Fliege erzeugten Turbulenzen, die die Kopfhaut wahrnahm!
Vor dem Fenster würgendes Gurren: Tauben. Aus einem Wandschrank, dessen Tür offenstand, ein giftiger Geruch: Naphtalin. Auf einer Waschkommode ein Glas, Wattebäusche, Gazetücher: wie in einem Spital …
War ich in einem Spital?
Ich rappelte mich hoch, stieß die Läden auf, und kaum zu glauben, aber wahr, aber wirklich: Mich empfing der mediterrane Frühling. Nah das Tuten einer Dampfersirene, dann, leicht verzögert, ein wehmütiges Echo. Dachziegel in einem schmutzigen Orange. Unten ein Innenhof mit Palmen. Und dort, zwei Etagen tiefer, im Fenster des Seitenflügels, eine Frau, la donna della finestra – wer würde da nicht an Italien denken!
Aber der da … der im Spiegel!
Ich kniff mich in die Wange. Ich schloss die Augen. Ich zählte langsam bis Sieben, dann packte ich mit beiden Händen den Porzellankrug, drückte den Schnabel zwischen die Lippen, goss das nach Chlor riechende Wasser in mich hinein, zu viel, zu gierig. In einem Schwall brach die wässrige Kotze aus mir heraus, in die Schüssel.
Der im Spiegel war ich nicht.
Ich zwinkerte. Er auch: Ich war es doch. Mit einem Kahlschädel! Und das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war etwas anderes. Das Schlimmste war: die Narbe – als würde eine schwarze Raupe aus meinem Hirn kriechen …
Wiederholung. Ich bin mir nicht abhandengekommen, ich kenne meinen Namen, den Vornamen, das Geburtsdatum: Heinrich Übel junior, geboren am 21. Dezember 1950 im Fräcktal. Lehrling im väterlichen Werk, dann Kondom-Reisender, der im Untergrund des Landes unsere Automaten zu versorgen hatte: Fächer füllen, Kasse leeren. Ein Scheißjob. Mein Verhältnis zu Zahlen machte mir immer wieder einen Strich durch die Abrechnung, aber als Assistent des Werbechefs unserer Reklameabteilung war ich dann äußerst erfolgreich. Meine Schreibmaschine, eine schon etwas ältere Remington, schoss jedes O, ob groß oder klein, aus dem Papier, so dass ich bei der Textierung der Produkte weiße Konfetti verstreute. Schon im ersten Jahr gelang es mir, die Gummihose als »Wohlfühlhose« von der Schmuddel- in die Knuddelecke zu schreiben. Auch das schmückende Beiwort für Schnuller habe ich geprägt: »kieferformend«, und die Beschreibung des Ganzkörper-Gummianzugs im letzten von mir zusammengestellten Katalog (vergriffen!) soll bei Fetischisten sprichwörtlich geworden sein: »kühl wie Schnee, glatt wie Glas«. Leider musste mein Text der GdV, der Guten des Vorzimmers, vorgelegt werden, und die genoss es natürlich, sich als Korrektur-Domina aufzuspielen und die sauber getippten Seiten mit ihrer Rotstift-Peitsche zu verunstalten. Hatte ich zum Beispiel geschrieben: Wir möchten unsere geschätzten Kunden daran erinnern, bei der Rückantwort die Bestellnummer nicht zu vergessen, wurde die höfliche Aufforderung von der Guten ins Unverständliche kastriert: Bei RA. Best.Nr. angeben. Bei RA. Best.Nr. angeben! – da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt! Aus Gründen der product-identity bestand die Gute auf festen Formeln, etwa »reißfest preiswert gefühlsecht« oder »steigert das LE« (Lustempfinden!). Gut, zugegeben, niemand las einen Katalog von vorn bis hinten durch, vielmehr peilte jeder Kunde seinen spezifischen Bereich an, der junge Vater die Kondome, die junge Mutter Wickeltisch-Unterlagen, die Hausfrau Gummiringe für Espressokrüge, der Perverse seine Fetische, das fortgeschrittene Alter die Wohlfühlhose. Und natürlich war die Gute im Recht, wenn sie behauptete, Musik würde aus Wiederholungen bestehen, Bach, Mozart, Schubert: pure Wiederholungskünstler, aber bei jedem zweiten Artikel »preiswert reißfest gefühlsecht« oder »steigert das LE«! – das war doch von Schubert so weit entfernt wie die Gummifabrik vom Saturn! Mein Argument, mit der Schilderung der Produkte müssten wir so elastisch sein wie unsere Materie, der Kautschuk, rang der Guten im besten Fall ein Lächeln ab, denn ER, Heinrich Übel senior, mein Vater, wollte den Katalog so textiert haben wie immer. Es hatte »preiswert reißfest gefühlsecht« oder »steigert das LE!« zu heißen, darüber wurde nicht diskutiert. Wandelte das Herrscherpaar durch die Hallen, der Senior im offenen Weißkittel, sie an seiner Seite, ihr Klemmbrett im Arm, um sich Mängel zu notieren, waberte eine dumpfe Duftschleppe hinter ihr her, ähnlich dem Geruch einer Velohandlung, wo alte und neue Schläuche hängen, denn die Gute war vom Kopf (Haargummi) über die Büste (Gummi-Corselet) und die Schenkel (Gummistrümpfe) bis zu den Füßen (Gummischuhe) gummiert. Ihren Boss verehrte sie unterwürfig bis zur Auslöschung der eigenen Person (eigentlich bestand sie nur aus der alterslosen Gummihaut), und hätte ich es geschafft, dieser Hülle meine Liebe zu schenken, wäre ich heute wohl in der Unternehmensleitung. Meinen Rausschmiss hätte sie bestimmt verhindert, allerdings war ich damals, vor achtzehn Jahren, noch zu unerfahren, um die Simplizität von Machtstrukturen zu erkennen. Wer sich mit der Guten arrangierte, überlebte die Säuberungen – so einfach war das. Deshalb wollte es keiner mit ihr verderben, erst recht nicht der Reklamechef, der es ihrer Gunst verdankte, dass er den Posten halten konnte. Um ja keinen Fehler zu begehen, enthielt er sich jeglicher Tätigkeit. Nie fabrizierte er eine Zeile, nie nahm er das Telefon ab, nie verhandelte er mit der Druckerei oder mit einem Journalisten, der den Senior zu einem Firmenjubiläum interviewen sollte. Zwischen den leeren Pulten mit den abgedeckten Schreibmaschinen saß er im schlecht beheizten Saal der Werbeabteilung und löste mit einem Eifer, der eigentlich zu bewundern war, Kreuzworträtsel. Kam ich als sein Assistent mit dem abgelehnten, von der Guten in ein Schlachtfeld verwandelten Text des neuen Katalogs aus der Zentrale zurück, hob der Reklamechef nicht einmal den Blick, nur den scharf gespitzten Bleistift und fragte: Zentralbegriff bei Kierkegaard, zwölf Buchstaben? Der Assistent hatte damals passen müssen …
Jetzt wüsste ich es: Wiederholung.
Ich war mir nicht abhandengekommen, ich kannte meinen Namen, den Vornamen, das Geburtsdatum, Heinrich Übel junior, geboren am 21. Dezember 1950 im Fräcktal. Mein Hirn tickte noch, ich lebte, ich atmete, und wenn es mir gelang, das Bein aus dem Bett zu strecken und mit den Zehen die linke Schranktür hin und her zu schieben, bis sie im richtigen Winkel stand, um mit dem Innenspiegel mein Bett zu reflektieren, würde ich einen Schock erfahren. Tatsächlich, auf dem Kissen lag ein Kahlschädel, und das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war etwas anderes. Das Schlimmste war: die Narbe. Auf der rechten Schläfe – nein, falsch, im Spiegel ist ja alles verkehrt, spiegelverkehrt –, auf der linken Schläfe, die mit einem Desinfektionsmittel orange bemalt war, klebte eine schwarze Raupe. Ich atmete durch, atmete durch, atmete so tief wie möglich durch. Das Zimmer kam mir bekannt vor – als läge ich schon länger hier. Rechter Hand glich der wurmstichige Schrank einem Beichtstuhl, und vorn, rechts vom Fenster, dessen Läden geschlossen waren, erhob sich aus dem Marmortisch einer Waschkommode ein Spiegel mit einer bräunlichen Dämmerung hinter dem Glas. Auf dem Bord lagen Verbände und Salbendosen sowie ein fremdes Necessaire. War es das falsche Zimmer? Auch die Reisetasche und erst recht der dunkle Wintermantel, der beinah die ganze Tür verhängte, gehörten mir nicht. Hm. Sonderbar. Nichts passte zusammen. Geblieben war mir einzig mein Name und mit dem Namen die Herkunft und mit der Herkunft die Gewissheit, dass ich nie ein Necessaire aus rotem Plastic benutzen würde …
Abfall. Vor achtzehn Jahren stand ich auf den schwarzen Gummimatten des sogenannten Sportbodens, vor seinem mächtigen Pult. Dahinter war der Senior eine Masse Finsternis, deren Umrisse von der Pultlampe schwach beschienen wurden. Die etwas seitlich liegenden Augen werden geglüht haben, und wie ich ihn kenne, hat er langsam die Hörner gesenkt und durch die großen feuchten Nüstern ein Schnauben ausgestoßen. Doch war mir von unserer letzten Begegnung nur noch sein Versprechen in Erinnerung, mich, den verlorenen Sohn, in Gnaden wieder aufzunehmen – sofern ich dann einen Doktortitel trage. Und nicht vergessen hatte ich natürlich den Bannfluch, mir in den Rücken gesprochen, als ich ihn verlassen hatte: Mein lieber Abfall, du bist weit vom Stamm gefallen! Den ganzen Rest hatte ich vergessen, Freud würde sagen: verdrängt.
Als ich damals in die Werbeabteilung zurückkehrte, war mein Arbeitsplatz bereits geräumt, das Namensschild am Spind abgeschraubt, und der Reklamechef, wie üblich mit seinem Kreuzworträtsel befasst, erklärte mit bedauerndem Unterton, infolge des weiterhin rückläufigen Absatzes sei ihm der Assistent gestrichen worden, die Remington dürfe ich mitnehmen, sie werde hier nicht mehr benötigt. Dann hob er den Bleistift auf Ohrenhöhe und fragte: Abschied, englisch, acht Buchstaben?
Damals hatte ich passen müssen, heute wüsste ich es: Farewell. Bis zum Abend harrte ich schluchzend vor der Tür des Vorzimmers aus, wurde aber nicht mehr empfangen und machte mich schließlich auf den Weg, weinend und wütend und wild entschlossen, es dem Senior heimzuzahlen. Ungefähr in der Mitte der Brücke über den Stausee wollte ich das Geländer überklettern und mich samt der Remington in die Tiefe stürzen, ins eiskalte Wasser. Allerdings hätte diese Tat einen Mut vorausgesetzt, der mir restlos abging, und so war ich nicht am Grund des Stausees gelandet, sondern am anderen Ufer. Ich versteckte mich im gefrorenen Schilf und wartete, bis ein letzter Freier aus der ovalen Tür von Calas Wohnwagen trat, den Hut in die Stirn drückte und in der Nebelnacht verschwand. Dann klopfte ich an und wurde von Cala mit einem Ausruf der Überraschung empfangen: Was, du besuchst mich?!
Eine Zeitlang war Cala richtig berühmt gewesen, und es soll heute noch Sammler geben, die für Kataloge mit ihren Fotos einiges hinblättern: Cala von hinten, die Arme in die Hüfte gestützt, die Beine leicht gespreizt, die Haare eine schwarze Flamme nach unten, die drallen Arschbacken in Latex gegossen. Nach Mimis Abgang hörte sie mit dem Modeln auf und übernahm den Haushalt in der Fabrikantenvilla, weshalb man im Werk allgemein davon ausging, dass die schöne Kalabresin meine Stiefmutter würde. Aber das hätte die Gute niemals zugelassen, aus der erhofften Heirat wurde nichts, und schon bald trug das Ex-Mannequin die Gummi-Corselets nicht mehr, um vor der Kamera obszöne Posen einzunehmen, sondern um ihre wachsende Fülle zu bändigen. Wie ihre Brüste wurde sie träge, verbrachte den lieben langen Tag in der überheizten Küche der Villa und ließ sich von ihren Landsleuten – damals war die Belegschaft noch überwiegend italienisch – das Neueste aus dem Werk berichten. Dann saß ich still dabei, über ein Buch gebeugt, und tat, als würde ich lesen. Eines Abends war das Palaver plötzlich verstummt. Alle starrten mich an, und Cala sagte zu ihren Landsleuten, mit einem scheuen Seitenblick auf mich: Wir müssen vorsichtig sein, der Forabut versteht jedes Wort. Forabut ist kalabresisch und heißt Dreckskerl, Feigling, Schweinehund.
Nach ihrer Entlassung war Cala nicht, wie allgemein erwartet, in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern im Tal geblieben. Auf der anderen Seite des Sees, der Gummifabrik direkt gegenüber, hatte sie im Kassenhäuschen der aufgelassenen Total-Tankstelle eine Nachtbar eröffnet und unten am Ufer einen Wohnwagen bezogen, an dem nachts, wenn über der Produktionshalle in mannsgroßen Neonlettern der Name Übel flammte, eine rote Laterne leuchtete. An den Abenden kamen ihre Landsleute herüber, heimwehkranke Männer, und an den Sonntagnachmittagen hockten auf den Barhockern die Lehrlinge, um Cala wie ein höheres Wesen anzuglotzen. Als die Einwanderungswelle aus dem Balkan die Italos weggeschwemmt hatte, gingen die Einnahmen der Nachtbar zurück, und die früher so schöne Kalabresin, älter und noch ein bisschen fülliger geworden, verlegte ihre Tätigkeit ganz und gar in den Wohnwagen, der direkt am Wasser, gleich neben der Brücke, aufgebockt war. Hier, auf einer nach Sonnenöl und Fisch riechenden Matratze, hatten die meisten Lehrlinge der Fräcktaler Gummifabrik zum ersten Mal die Liebe praktiziert – bis auf einen. Ja, ein einziger traute sich nicht, im Wohnwagen-Puff seine Unschuld zu verlieren: der Forabut. So lernte ich die nach Sonnenöl und Fisch duftende Matratze erst später kennen, in der Nacht nach meinem Rausschmiss. Damals hatte ich meinen ersten Schwips (von Prosecco und Wodka) und wusste beim Aufwachen nicht mehr, wie die letzten Stunden verlaufen waren. Beide hatten wir an jenem Morgen kaum ein Wort gesprochen, auch darüber nicht, dass mir Cala eine Brieftasche in den Regenmantel geschoben hatte, wie ich später merken sollte: mit mehreren hundert Franken.
Im Postauto, das bei leichtem Schneefall das Hochtal verließ, kippten in den Kurven die Passagiere wie Scheibenwischer hin- und her, und genauso ging es mir mit den Abschiedsgefühlen – sie kippten von einem Extrem ins andere. Einerseits war ich froh, die Fabrik und den Vater verlassen zu können, andererseits ahnte ich voller Wehmut, dass es Jahre dauern würde, bis ich als frisch promovierter Herr Doktor (in welcher Wissenschaft auch immer) zurückkehren durfte. Am Ausgang des Fräcker Tobels spendierte mir Palombi, der Wirt der Alten Post, einen Toast Hawaii, dann begleitete er mich vor die Tür, wo wir unter der pissgelben Bierreklame noch eine Weile stehen blieben. Auch Palombi, ein gebürtiger Sizilianer, hatte früher zur Belegschaft gehört, als Vormann an den Vulkanisationspressen, und war nach seiner Entlassung in der Gegend geblieben, wie Cala, die Kalabresin.
Max. eine Seite. Zürich empfing mich damals nicht unfreundlich. Im Hinterhaus der Grauen Gasse 10 fand ich eine Mansarde, und nach den harten Jahren im väterlichen Werk erschien mir die Universität im wahrsten Wortsinn als Alma Mater, als nährende Mutter, an deren Brüsten ich genüsslich sog. Die Räume waren besser beheizt als jene der Gummifabrik, durch die Wandelgänge wippten BH-lose Studentinnen, in der Mensa sprudelten Fruchtsaftautomaten, in den Seminaren Dozentenmünder. Anders als meine Generationsgenossen, die auf Sit-ins gitarrenklimpernd von einer besseren Welt träumten, war ich mit der vorhandenen durchaus zufrieden und saß oft bis elf Uhr nachts in der Zentralbibliothek, an jenen Pulten, wo sich Lenin durch intensives Hegelstudium auf die Revolution vorbereitet hatte. Meine eigenen Umsturzpläne richteten sich einzig und allein auf mich selbst, und eine Zeitlang sah es ganz danach aus, als würde ich erfolgreich sein. Von einem monatlichen Cheque aus dem Fräcktal alimentiert, trieb ich mich mehrere Semester durch die Hörsäle und Seminare, wurde nie durch Prüfungen belästigt und erwarb mir Kenntnisse in diversen Wissenschaften. Natürlich war ich an Philosophie oder Geschichte stärker interessiert als an Chemie, aber auch da gab es Gebiete, die mich fesselten, etwa die Polymerisation, die Verwandlung von einfachen Molekülen in komplexe chemische Stoffe. Wäre meine Selbst-Revolution geglückt, wäre der neue Junior ein Polymer des alten gewesen, aber Prozesse dieser Art verlaufen kompliziert und meistens mit leimzäher Langsamkeit. Schnell und schneller hingegen floss die Zeit, und wollte ich jemals in die Firma zurückkehren, war das nur mit einem Studienabschluss möglich. Denn unser bekanntestes Produkt waren Dr. Übels Verhüterli, »reißfest preiswert gefühlsecht«, und selbstverständlich sah ich ein, dass auch der Nachfolger von Herrn Dr. Übel senior einen Doktortitel haben musste, um weiterhin die klinische Qualität unserer Produkte zu beglaubigen – das waren wir den Apothekern Drogisten Automatennutzern schuldig. Nur: Über Nacht wird man nicht promoviert (es sei denn, man ist mein Senior), und das hieß, dass ich nach einem mehrjährigen Dasein als Gasthörer der Universität Zürich die Matura nachholen musste. Gottseidank, der bürokratische Aufwand für die Anmeldung zur staatlichen Prüfung war bescheiden. Um zugelassen zu werden, genügte es, ein Formular auszufüllen und diesem einen Lebenslauf von max. einer Seite beizulegen.
Die Remington, mit der ich seinerzeit den Volltreffer »Wohlfühlhose« gelandet hatte, stand damals seit einigen Jahren auf dem Tisch meiner Mansarde, mit einer Gummihülle zugedeckt, und erinnerte mich an meinen verzweifelten Gang über die Brücke am Tag meiner Entlassung und an meine Feigheit – statt am Grund des Stausees war ich auf Calas Matratze gelandet. Es war ein lauer Sommerabend, als ich die schwarze Hülle abnahm, und schon bald wirbelten die aus dem Blatt geschossenen Konfettis durch die Luft wie seinerzeit beim Beschreiben der Gummiartikel. Mein Lebenslauf beschränkte sich auf wenige Daten: geborem am 21. Dezember 1950 als Sohn des Heinrich Elogus Übel senior und der Elena Rosa Maria Übel-Katz. Aufgewachsen im Fräcktal, dort Primar- und Sekundarschule, dann Lehrling in der väterlichen Fabrik und anschließend motorisierter Vertreter, der im gekachelten Untergrund von Bahnhöfen Bordellen Autobahntoiletten die Kondomautomaten betreute: Kasse leeren, Fächer füllen. Dann wurde ich in die Werbeabteilung versetzt, als persönlicher Assistent des Reklamechefs, wo mir beim Textieren des ersten Katalogs ein absoluter Hit gelang, ein Welthit: Wohlfühlhose, comfy pants! … Und zugegeben, eigentlich hätte ich nur noch meine Entlassung und den Umzug nach Zürich hinzufügen müssen, dann hätte ich das Blatt zusammen mit dem ausgefüllten Formular abgeben können. Eigentlich. Aber. Aber! Aber im Morgengrauen war der Tisch mit den Os übersät, die die Remington aus dem Papier geschossen hatte, war der Boden mit Papieren überstreut, der Aschenbecher mit Kippen überfüllt. Ich spannte das nächste Blatt ein, und das Ergebnis war: noch mehr Papierabfall, noch mehr Asche, noch mehr Konfetti, jedoch nichts an brauchbarer Selbstbeschreibung – als wäre ich ein unbeschriebenes Blatt.
Bei den Germanisten der Universität hatte ich Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos kennengelernt. Der Lord leidet an der Sprache; die Wörter, gesteht er seinem Briefpartner, zerfielen ihm »im Munde wie modrige Pilze«. Das war mir aus der Seele gesprochen – wie der Lord fühlte ich mich von einem Objekt, sobald es schriftlich fixiert wurde, »durch einen brückenlosen Abgrund« getrennt. Ein Beispiel: Die Wassertemperatur des Stausees kletterte im Juli auf etwa zehn Grad, selten höher, aber die werkseigene Badeanstalt war errichtet worden, um Mimi, meiner Mama, die dauernd fröstelte, einen Sommer vorzugaukeln. Von ihrem Atelierfenster aus sollte sie auf frohbunte Sonnenschirme hinuntersehen, auf Liegestühle, auf den Sprungturm, auf lustvoll jauchzende Schwimmer. Das heißt, die Welt nahm die Badeanstalt am eisigen Gewässer gelassen hin, doch kaum stand sie bei mir auf dem Papier, erschien nicht etwa der Erbauer als durchgeknallt, sondern der Autor, der sie beschrieb. Und das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war etwas anderes. Das Schlimmste war: Wenn ich abends das herrliche Gefühl hatte, den Abgrund zwischen den Dingen und den Wörtern überbrückt zu haben, musste ich am nächsten Morgen mit der Enttäuschung fertig werden, dass ich mich weiter von der Badeanstalt entfernt hatte als je. Über Nacht waren meine Sätze versprödet wie alter Gummi, und so herrlich es war, hie und da vom Hochgefühl eines unerwarteten Gelingens durchschauert zu werden, so bestürzend war es, sich plötzlich mit der Frage konfrontiert zu sehen, wie ich ein Textkonvolut von dreihundertsiebzig Seiten über die werkseigene Badeanstalt im Curriculum Vitae von max. einer Seite unterbringen sollte. Da mich die Gute in meiner Katalogverfasser-Phase zu den unsinnigsten Abkürzungen gezwungen hatte, hasste ich Abkürzungen, doch nun wurde der Hass pathologisch. Max. eine Seite – die Formel wurde zum Horror. Ich schrieb und schrieb und schrieb, und je mehr ich schrieb, ganze Kladden und Schachteln voll, desto weiter entfernte ich mich vom angestrebten Ziel. Mein Text metastasierte zu einem mehrtausendseitigen Epos, und noch immer zeichnete sich kein Ende ab, ja nicht einmal ein Anfang. Was tun? Ganz einfach, ich würde den Papierberg wegschmeißen, dann ein frisches Blatt in die Walze der Maschine eindrehen, mich am 21. Dezember 1950 auf die Welt bringen und meine bisherige Existenz auf max. einer Seite zusammenfassen.
In einer nebligen Nacht stopfte ich sämtliche Ordner Kladden Karteikarten, auch zahllose Zigarettenschachteln und Bierdeckel, auf denen ich Stichworte notiert hatte, in die Abfalltonnen, machte mir am nächsten Morgen mit dem Tauchsieder eine Tasse Nescafé und schrieb die erste Silbe, dummerweise eine Abkürzung: geb. Ich stutzte, horchte auf, hörte aus dem Hofschacht Gerumpel, den Einmarsch der Müllmänner, und schon war ich unten, stand mit ausgebreiteten Armen vor den Tonnen und: Finger weg!, schrie ich, das ist kein Abfall, das ist mein Leben!
Die Müllmänner trotteten kopfschüttelnd vom Hof, und für mich begann ein beschwerlicher Opfergang. Ich musste eine Tonne nach der anderen durch das steile Treppenhaus nach oben schleppen, bis unters Dach, und in der Mansarde auskippen. Angelockt vom Gestank, kreischte vor dem offenen Fenster ein Möwenschwarm; heimkehrende Mieter blickten stumm zu mir hoch; das Ehepaar Weideli, das im Haus für Ruhe und Ordnung sorgte, drohte mit der Polizei. Nein, ich war nicht verrückt. Ich wollte die im Lauf der Jahre entstandenen Seiten, die teilweise die Geschichte meiner Ahnen enthielten, aber auch Überlegungen, die das Schreiben betrafen (etwa die Frage, ob man einen Tropfen, der am Brausekopf einer Badeanstalt zu Eis erstarrt ist, immer noch einen Tropfen nennen darf), nicht verlieren und nahm nun eine Mülltrennung der besonderen Art vor. Ich trennte den Abfall der Mietskaserne von meinen Texten. Den Abfall (ausgelaugte Teebeutel vollgeschissene Babywindeln Kippen Scherben Schalen Asche sowie eine verwesende, von den Weidelis vergiftete Ratte) brachte ich wieder nach unten in die Tonnen, meine Texte jedoch wurden gesäubert getrocknet gebügelt und nach dem Vorbild des Gummikatalogs in alphabetischer Reihenfolge abgelegt. Diese Arbeit erfüllte mich mit tiefer Befriedigung. Mein Leben, das sich bisher im Uferlosen verloren hatte, bekam auf einmal Konturen und wurde unter Stichworten greifbar. Obwohl der avisierte Doktortitel noch in weiter Ferne schwebte, wuchs die Zuversicht, dass ich aus meinem Lebenskatalog jene Seite destillieren könnte, die das Prüfungsamt verlangte.
Anfänglich kam ich gut voran. Ich stellte zahlreiche Varianten her und hängte auf dem Dachboden Blatt für Blatt an eine Wäscheleine. Nun gab es meine Biographie nicht nur einmal, sondern hundert Mal, und ich stand vor der Frage, welche Version ich abgeben sollte. Jene Varianten, die mit meiner Geburt begannen, gefielen mir eigentlich am besten, sie waren präzis und übersichtlich, aber wenn zuletzt, beim Rausschmiss aus dem väterlichen Werk, der Abfall vom Stamm fiel (»Abfall, du bist weit vom Stamm gefallen!«), musste natürlich auch der Baum und dessen Wurzelwerk vorgestellt werden. Ohne Sender Katz zu kennen, Mimis Urahn, der unter den summenden Drähten einer Telefonleitung durch den Landozean Galiziens gewandert war, würde man beim besten Willen nicht nachvollziehen können, weshalb Mimi uns verlassen hatte, um über den warmen Wogen des Mittelmeers verstreut zu werden. Ha, und da war ja auch noch der Spitzname des Seniors: Gummistier! Der musste natürlich erklärt werden, und auch diese Geschichte führte wieder zu den Wurzeln hinab, zu den Vorfahren väterlicherseits, und zu einem Heini Übel, meinem späteren Senior, der an Nasenringen tobende Stiere aus dem Inferno brennender Ställe gezerrt hatte …
Meinen Lebenskatalog hatte ich damals in Kisten auf dem Dachboden eingelagert, und der Gedanke gefiel mir nicht, dass man sie dem Senior jetzt aushändigen könnte. Es wäre ein böses Erwachen für ihn, aber es war nie meine Absicht, meinen Erzeuger auf die Anklagebank zu schreiben. Mir war es stets um mein Curriculum Vitae gegangen, um die max. eine Seite, die für mich die unterste Sprosse der akademischen Leiter bedeutet hätte – die Zulassung zur Matura –, und sollte sich jemand fragen, weshalb ich sämtliche Umzugskartons Schachteln Hefte Notizbücher auf dem Dachboden zu einem ganzen Papierpalast aufgeschichtet hatte, lautet die Antwort: Ich tat es für Dada.
Dada. In einer kalten Novembernacht waren wir uns zum ersten Mal begegnet. Zwischen zwei Abfalltonnen im Innenhof hatte ein Augenpaar geglüht, reglos, ohne zu blinzeln, und statt weiterzugehen, hatte ich mich eine Weile hingekauert, um dem im Dunkel lauernden Tier die Zeit zu geben, die es brauchte, um mich genau zu studieren. Anderntags erfuhr ich, dass der Kater aus dem nahegelegenen Cabaret Voltaire entlaufen war – dort hatte Hugo Ball den Dadaismus ausgerufen, und so tauften wir Mieter diesen seltsamen Tiger, der ausgerechnet das Haus zum Zeisig (so lautete der alte Name der Grauen Gasse 10) zu seinem neuen Revier erwählt hatte, Dada. Dabei war die Lösung des Rätsels einfach. Anderswo wäre der Kater kaum bemerkt, geschweige denn gefüttert worden, im Zeisig-Haus jedoch hatte er sich durch zwei verbissene Feinde, das Ehepaar Weideli, eine ganze Schar von Sympathisanten erworben. Sämtliche Mieter liebten Dada und taten alles, um ihn durch den Winter zu bringen oder gegen die Weidelis zu verteidigen. Der Krieg wurde gnadenlos geführt. Wer Dada heimlich eine Sardine zusteckte, riskierte die Kündigung, und die Weidelis, die Tag und Nacht auf der Pirsch waren, im Winter beide mit Pelzkappen, empfanden den Kater als Terroristen, der seine Pisse gezielt in jeden Winkel schoss, ihnen, den Weidelis, zuleide. Im Lauf der Zeit hatten sie immer spitzere Nasen bekommen und wussten mittlerweile, wie sich ihr Feind bewegte. Doch so listenreich das Ehepaar vorging, Dada war noch listiger, noch gerissener, und offensichtlich gehörte es zu seiner Strategie, den Jägern seine Überlegenheit zu demonstrieren. Er wollte sie demoralisieren. Er wollte ihnen zeigen: Gegen einen Königstiger wie mich habt ihr keine Chance. Wenn er im Hinterhof auf dem Wellblechdach des Veloständers hockte, hörte er sich geduldig an, was die Weidelis zu ihm hochschrien: Verpisstes, verlaustes Stinktier! Katerscheißblöder! Wir erwischen dich! Wir ziehen dir das Fell ab! Wir nageln dich an die Kellertür! Dann hob er lässig die Vorderpfote, als würde er auf die Armbanduhr blicken, und spazierte über die schmale Mauer, die einen hinteren Hofteil abtrennte, davon. Seine Sicherheit bezog er nicht nur aus seiner Intelligenz, sondern bestimmt auch aus seinem Rückzugsort, dem Papierpalast. In dessen Geheimkammern pflegte er sich von seinen Jagden zu erholen, dort konnte er schlafen, ohne dass sein Schnarchen nach außen drang und die Weidelis auf ihn aufmerksam machte. Denn so fromm die beiden waren, so blutrünstig waren sie auch, und es ist ein bekanntes Phänomen, dass sich gerade die scheinbar Harmlosen, die Furchtsamen und Feigen, über Nacht in Ungeheuer verwandeln – Kriege werden mit Familienvätern und braven, von ihren Müttern gesegneten Söhnen gewonnen … wo war ich gerade?
Ach so, ja: beim Kater –
Im letzten November hatten mir die Kinder der im Parterre wohnenden Italiener zugeraunt: Dada kommt nicht mehr. Die Weidelis, bei denen man nie genau wusste, wer die Frau war, wer der Mann, reckten triumphierend ihre Spitznasen, und in den ersten Adventstagen fragte mich Marcello, der älteste Knabe der italienischen Familie, mit rollenden Tränen, ob Dada jetzt im Katzenhimmel sei. Nein, war er nicht. An einem klirrend kalten Wintermorgen zog sich eine getüpfelte Spur über das verschneite Dach, und in der nächsten Nacht schwebten zwischen den Abfalltonnen wieder die starren, in der Mitte geteilten Augenfunken: Dada! Als wäre nichts gewesen, thronte er am nächsten Tag auf dem gewellten Dach des Veloständers, seinem Lieblingsplatz, und war über das Kommen und Gehen im Hinterhof, über den Jubel der italienischen Kinder, die neckischen Sprüche von Marcello und uns Mietern wie eh und je erhaben. Da knallte oben in der Fassade ein Fenster auf, die Weidelis holten mit einem Putzkübel zum Schwung aus, unter rasenden Katerpfoten wurde das Veloständerdach zum bebenden Donnerblech, und im Hechtsprung entzog sich ein erstaunlich langer fliegender Dada dem Wasservorhang, der dampfend auf die Bühne herabklatschte. Er war wieder davongekommen, er kam immer davon, Kater haben mindestens neun Leben …
Da fiel mir ein, dass Dada vor einiger Zeit, es war an einem kalten Abend, ein nahendes Unheil gerochen hatte – Minuten bevor es eintrat. Als er aus meiner Mansarde schlich und über den Dachfirst des Nachbarhauses davontänzelte, eine schwarze Silhouette vor dem roten Himmel, erscholl von unten, aus dem Treppenhaus, die Doppelstimme der Weidelis: Mieter Übel, Telefon! – Die Gute, sonst kaltschnäuzig und sehr von oben herab, erklärte freundlich, der »Herr Doktor«, mein Vater, habe nach einem harmlosen Sturz in seinem Büro schwarze Gummimatten auslegen lassen, wie in einer Turnhalle oder einem Gymnastikstudio. Eventuell erinnerst du dich an diese Matten, gurrte sie. Du hast sie seinerzeit für den Katalog mit einem griffigen Namen versehen: Sportboden. Vor achtzehn Jahren sei er schon einmal im Büro des Seniors verlegt gewesen, und es spreche für die Qualität der schwarzen Matten, dass sie die lange Lagerung ohne jeden Schaden überstanden hätten. Verstehe, hatte ich jovial geantwortet. Nun hat sich der Herr Doktor eine Beule geholt und hofft, mit dem reaktivierten Sportboden weitere Stürze abzufedern.
Die Aktion war natürlich typisch für den Senior. Im Tiefsten glaubte er an seine Unsterblichkeit und unternahm alles nur Menschenmögliche, um sein kostbares Leben vor Verletzungen und Beschädigungen zu schützen – jetzt also durch eine Tapezierung seines Büros mit lauter Gummimatten. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich soll also heimkehren, sagte ich, nach so langer Abwesenheit!
Die Gute zögerte. Ich vernahm ihr Schnaufen. Dann sagte sie: Ja. Wir freuen uns auf dich. Eine gute Reise, Heinrich, bis bald!