Auf der schmalen, leicht schaukelnden Bahre schwebte ich in eine düstere, nach Verwesung stinkende Gasse hinein. Hoch oben war der Himmel ein dünner Kanal, weiße Laken tropften, bunte Kleider wehten, Seidenstrümpfe tanzten zwischen den schiefen schwarzen Mauern ein lustiges Ballett. Unten hockten sie auf Strohstühlen vor ihren Bassos, schwarz verschleiert die alten Frauen, die Männer mit sonnenversengten Schädeln. Eitle Friseure präsentierten sich vor ihren Ladengrotten mit gerecktem Kinn und Rasiermesser als lebendem Werbeschild, weißen Schaum

Italien. Kein Zweifel, ich war in Italien. Priester trugen schwarze Rundhüte, Kirchenglocken läuteten, ein Portal donnerte zu, kräftige Hände halfen mir von der Bahre, und als es mir gelang, den schweren Schädel etwas zu heben, umgaben mich die hohen Marmorwände eines kühlen Mausoleums. Ein uralter langhagerer Diener stieß mit weißen Stoffhandschuhen das Eisengitter einer altmodischen Liftgondel auf, und langsam glitten wir nach oben … oder nach unten? Ging es immer tiefer? Ich konnte es nicht sagen. Ich war am Ende … und vielleicht, ein gefährliches Vielleicht, über das Ende schon hinaus …

»Seien Sie versichert, Signore, Sie sind hier unter Freunden.«

 

Eine schwarze Frau, von Kerzenlicht beleuchtet, an meinem Bett. Wird wohl ein Traum sein, sagte ich mir, denn sie trommelte. Sie trommelte! Trommelte und trommelte, monoton und geduldig, monoton und geduldig, bis mir die Augen wieder zufielen. Dann hielt sie mir einen Trinkhalm an die Lippen, Wasser oder Tee, und sagte in die ungewohnte Stille hinein: »Du hast Glück, ragazzu, das ist Laila el qedr, die Nacht der Nächte.«

»Laila?«

»Ja«, sagte sie, »Laila el qedr.«

»Laila el qedr.« Eine Weile überlegte ich. »Ist das Ihr Name?«

Ich versuchte mich zu konzentrieren, was schwierig war, mein Kopf war heiß und hohl. Auf die Gefahr hin, mich schrecklich zu blamieren, versuchte ich ebenfalls zu lächeln und sagte: »Laila ist der Name der Nacht?«

»Der Name dieser Nacht. Es ist die Nacht, da die Himmel sich öffnen, die Engel herabsteigen und das Meerwasser trinkbar wird.«

Sie merkte, dass ich nichts begriff. »So sagen wir im Maghreb, im arabischen Afrika. Laila el qedr.«

Wieder begann sie zu trommeln, monoton und geduldig, monoton und geduldig, mal hörte ich den Trommelsang näher, mal ferner.

»Wo bin ich?«

»In Pollazzu.«

Ich tastete nach einer Zigarettenschachtel, die auf meinem Laken lag. »Stift!«

Die Methode ging auf meine Zeit in der Werbeabteilung unserer Fabrik zurück, als ich Einfälle auf zufällig greifbaren Unterlagen festgehalten hatte. Die Frau kramte in ihren Taschen, hielt mir einen Bleistift hin. Ich hob die Hand, krümmte die Finger, packte den Stift.

»Wie heißt die Nacht?«

»Laila el qedr.«

»Und der Ort?«

»Pollazzu.«

»Wo liegt das?«

»An der Südküste.«

»Sizilien.«

»Bin ich auf Sizilien?«

»Jaja. Schlaf jetzt. Schlaf ein.«

War die Frau real? Real, behauptete die Nase – sie roch nach heißem Fett und Fisch. Eine Zigarette hing ihr aus den dunklen Lippen. Hingegen meinte der Verstand: nicht real, eine Fieber- und Phantasieproduktion. Mit ihren voluminösen Oberschenkeln hielt die Frau eine schlanke, bastumwickelte Trommel fest, und ihre Haut hatte im Kerzenschein einen finsteren Glanz. Ihre linke Hand maß meinen Puls, und die Rechte schlug wieder die Trommel, monoton und geduldig, monoton und geduldig. Nie ließ sie mich los, ihre schwarzen Finger drückten meine Adern wie die Saiten einer weißen Geige. Hie und da, vermutlich in regelmäßigen Abständen, erfüllte Stille den Raum, und ich sollte am Trinkhalm saugen. Dann trommelte sie wieder, monoton und geduldig, monoton und geduldig, als würde ein tropischer Regen auf fette Blätter pladdern …

Irgendwann füllte eine rosige Fläche das offene Fenster. Der Aschenbecher war voller Kippen, Schwaden von Rauch schwebten über dem Bett. Die schwarze Hand trommelte langsamer … langsamer … langsamer … und auch mein Herz, an ihren Rhythmus gewöhnt, schlug ruhiger … ruhiger … ruhiger …

 

Du heilige Scheiße, warum war der Boden voller Haare? War ich in einem Frisiersalon ohnmächtig geworden? Fasste ich an meine Schädeldecke, hatte ich das Gefühl, etwas mir völlig Fremdes zu berühren, etwas aus Stein, aus

Vor dem Fenster würgendes Gurren: Tauben. Aus einem Wandschrank, dessen Tür offenstand, ein giftiger Geruch: Naphtalin. Auf einer Waschkommode ein Glas, Wattebäusche, Gazetücher: wie in einem Spital …

War ich in einem Spital?

Ich rappelte mich hoch, stieß die Läden auf, und kaum zu glauben, aber wahr, aber wirklich: Mich empfing der mediterrane Frühling. Nah das Tuten einer Dampfersirene, dann, leicht verzögert, ein wehmütiges Echo. Dachziegel in einem schmutzigen Orange. Unten ein Innenhof mit Palmen. Und dort, zwei Etagen tiefer, im Fenster des Seitenflügels, eine Frau, la donna della finestra – wer würde da nicht an Italien denken!

Aber der da … der im Spiegel!

Ich kniff mich in die Wange. Ich schloss die Augen. Ich zählte langsam bis Sieben, dann packte ich mit beiden Händen den Porzellankrug, drückte den Schnabel zwischen die Lippen, goss das nach Chlor riechende Wasser in mich hinein, zu viel, zu gierig. In einem Schwall brach die wässrige Kotze aus mir heraus, in die Schüssel.

Ich zwinkerte. Er auch: Ich war es doch. Mit einem Kahlschädel! Und das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war etwas anderes. Das Schlimmste war: die Narbe – als würde eine schwarze Raupe aus meinem Hirn kriechen …

 

Wiederholung. Ich bin mir nicht abhandengekommen, ich kenne meinen Namen, den Vornamen, das Geburtsdatum: Heinrich Übel junior, geboren am 21. Dezember 1950 im Fräcktal. Lehrling im väterlichen Werk, dann Kondom-Reisender, der im Untergrund des Landes unsere Automaten zu versorgen hatte: Fächer füllen, Kasse leeren. Ein Scheißjob. Mein Verhältnis zu Zahlen machte mir immer wieder einen Strich durch die Abrechnung, aber als Assistent des Werbechefs unserer Reklameabteilung war ich dann äußerst erfolgreich. Meine Schreibmaschine, eine schon etwas ältere Remington, schoss jedes O, ob groß oder klein, aus dem Papier, so dass ich bei der Textierung der Produkte weiße Konfetti verstreute. Schon im ersten Jahr gelang es mir, die Gummihose als »Wohlfühlhose« von der Schmuddel- in die Knuddelecke zu schreiben. Auch das schmückende Beiwort für Schnuller habe ich geprägt: »kieferformend«, und die Beschreibung des Ganzkörper-Gummianzugs im letzten von mir zusammengestellten Katalog (vergriffen!) soll bei Fetischisten sprichwörtlich geworden sein: »kühl wie Schnee, glatt wie Glas«. Leider musste mein Text der GdV, der Guten des Vorzimmers, vorgelegt werden, und die genoss es natürlich, sich als Korrektur-Domina aufzuspielen und die sauber getippten Seiten mit ihrer Rotstift-Peitsche

Jetzt wüsste ich es: Wiederholung.

 

Als ich damals in die Werbeabteilung zurückkehrte, war mein Arbeitsplatz bereits geräumt, das Namensschild am Spind abgeschraubt, und der Reklamechef, wie üblich mit seinem Kreuzworträtsel befasst, erklärte mit bedauerndem Unterton, infolge des weiterhin rückläufigen Absatzes sei ihm der Assistent gestrichen worden, die Remington dürfe ich mitnehmen, sie werde hier nicht mehr benötigt. Dann hob er den Bleistift auf Ohrenhöhe und fragte: Abschied, englisch, acht Buchstaben?

Damals hatte ich passen müssen, heute wüsste ich es: Farewell. Bis zum Abend harrte ich schluchzend vor der Tür des Vorzimmers aus, wurde aber nicht mehr empfangen und machte mich schließlich auf den Weg, weinend und wütend und wild entschlossen, es dem Senior heimzuzahlen. Ungefähr in der Mitte der Brücke über den Stausee wollte ich

Eine Zeitlang war Cala richtig berühmt gewesen, und es soll heute noch Sammler geben, die für Kataloge mit ihren Fotos einiges hinblättern: Cala von hinten, die Arme in die Hüfte gestützt, die Beine leicht gespreizt, die Haare eine schwarze Flamme nach unten, die drallen Arschbacken in Latex gegossen. Nach Mimis Abgang hörte sie mit dem Modeln auf und übernahm den Haushalt in der Fabrikantenvilla, weshalb man im Werk allgemein davon ausging, dass die schöne Kalabresin meine Stiefmutter würde. Aber das hätte die Gute niemals zugelassen, aus der erhofften Heirat wurde nichts, und schon bald trug das Ex-Mannequin die Gummi-Corselets nicht mehr, um vor der Kamera obszöne Posen einzunehmen, sondern um ihre wachsende Fülle zu bändigen. Wie ihre Brüste wurde sie träge, verbrachte den lieben langen Tag in der überheizten Küche der Villa und ließ sich von ihren Landsleuten – damals war die Belegschaft noch überwiegend italienisch – das Neueste aus dem Werk berichten. Dann saß ich still dabei, über ein Buch gebeugt, und tat, als würde ich lesen. Eines Abends war das Palaver plötzlich verstummt. Alle starrten mich an,

Nach ihrer Entlassung war Cala nicht, wie allgemein erwartet, in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern im Tal geblieben. Auf der anderen Seite des Sees, der Gummifabrik direkt gegenüber, hatte sie im Kassenhäuschen der aufgelassenen Total-Tankstelle eine Nachtbar eröffnet und unten am Ufer einen Wohnwagen bezogen, an dem nachts, wenn über der Produktionshalle in mannsgroßen Neonlettern der Name Übel flammte, eine rote Laterne leuchtete. An den Abenden kamen ihre Landsleute herüber, heimwehkranke Männer, und an den Sonntagnachmittagen hockten auf den Barhockern die Lehrlinge, um Cala wie ein höheres Wesen anzuglotzen. Als die Einwanderungswelle aus dem Balkan die Italos weggeschwemmt hatte, gingen die Einnahmen der Nachtbar zurück, und die früher so schöne Kalabresin, älter und noch ein bisschen fülliger geworden, verlegte ihre Tätigkeit ganz und gar in den Wohnwagen, der direkt am Wasser, gleich neben der Brücke, aufgebockt war. Hier, auf einer nach Sonnenöl und Fisch riechenden Matratze, hatten die meisten Lehrlinge der Fräcktaler Gummifabrik zum ersten Mal die Liebe praktiziert – bis auf einen. Ja, ein einziger traute sich nicht, im Wohnwagen-Puff seine Unschuld zu verlieren: der Forabut. So lernte ich die nach Sonnenöl und Fisch duftende Matratze erst später kennen, in der Nacht nach meinem Rausschmiss. Damals hatte ich meinen ersten Schwips (von Prosecco und Wodka) und wusste beim Aufwachen nicht mehr, wie die letzten Stun

Im Postauto, das bei leichtem Schneefall das Hochtal verließ, kippten in den Kurven die Passagiere wie Scheibenwischer hin- und her, und genauso ging es mir mit den Abschiedsgefühlen – sie kippten von einem Extrem ins andere. Einerseits war ich froh, die Fabrik und den Vater verlassen zu können, andererseits ahnte ich voller Wehmut, dass es Jahre dauern würde, bis ich als frisch promovierter Herr Doktor (in welcher Wissenschaft auch immer) zurückkehren durfte. Am Ausgang des Fräcker Tobels spendierte mir Palombi, der Wirt der Alten Post, einen Toast Hawaii, dann begleitete er mich vor die Tür, wo wir unter der pissgelben Bierreklame noch eine Weile stehen blieben. Auch Palombi, ein gebürtiger Sizilianer, hatte früher zur Belegschaft gehört, als Vormann an den Vulkanisationspressen, und war nach seiner Entlassung in der Gegend geblieben, wie Cala, die Kalabresin.

 

Max. eine Seite. Zürich empfing mich damals nicht unfreundlich. Im Hinterhaus der Grauen Gasse 10 fand ich eine Mansarde, und nach den harten Jahren im väterlichen Werk erschien mir die Universität im wahrsten Wortsinn als Alma Mater, als nährende Mutter, an deren Brüsten ich genüsslich sog. Die Räume waren besser beheizt als jene der Gummifabrik, durch die Wandelgänge wippten BH-lose Studentinnen, in der Mensa sprudelten Fruchtsaft

Die Remington, mit der ich seinerzeit den Volltreffer »Wohlfühlhose« gelandet hatte, stand damals seit einigen Jahren auf dem Tisch meiner Mansarde, mit einer Gummihülle zugedeckt, und erinnerte mich an meinen verzweifelten Gang über die Brücke am Tag meiner Entlassung und an meine Feigheit – statt am Grund des Stausees war ich auf Calas Matratze gelandet. Es war ein lauer Sommerabend, als ich die schwarze Hülle abnahm, und schon bald wirbelten die aus dem Blatt geschossenen Konfettis durch die Luft wie seinerzeit beim Beschreiben der Gummiartikel. Mein Lebenslauf beschränkte sich auf wenige Daten: geborem am 21. Dezember 1950 als Sohn des Heinrich Elogus Übel senior und der Elena Rosa Maria Übel-Katz. Aufgewachsen im Fräcktal, dort Primar- und Sekundarschule, dann Lehrling in der väterlichen Fabrik und anschließend motorisierter Vertreter, der im gekachelten Untergrund von Bahnhöfen Bordellen Autobahntoiletten die Kondomautomaten betreute: Kasse leeren, Fächer füllen. Dann wurde ich in die Werbeabteilung versetzt, als persönlicher Assistent des Reklamechefs, wo mir beim Textieren des ersten Katalogs ein absoluter Hit gelang, ein Welthit: Wohlfühlhose, comfy pants! … Und zugegeben, eigentlich hätte ich nur noch meine Entlassung und den Umzug nach Zürich hinzufügen

Bei den Germanisten der Universität hatte ich Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos kennengelernt. Der Lord leidet an der Sprache; die Wörter, gesteht er seinem Briefpartner, zerfielen ihm »im Munde wie modrige Pilze«. Das war mir aus der Seele gesprochen – wie der Lord fühlte ich mich von einem Objekt, sobald es schriftlich fixiert wurde, »durch einen brückenlosen Abgrund« getrennt. Ein Beispiel: Die Wassertemperatur des Stausees kletterte im Juli auf etwa zehn Grad, selten höher, aber die werkseigene Badeanstalt war errichtet worden, um Mimi, meiner Mama, die dauernd fröstelte, einen Sommer vorzugaukeln. Von ihrem Atelierfenster aus sollte sie auf frohbunte Sonnenschirme hinuntersehen, auf Liegestühle, auf den Sprungturm, auf lustvoll jauchzende Schwimmer. Das heißt, die Welt nahm die Badeanstalt am eisigen Gewässer gelassen hin, doch kaum stand sie bei mir auf dem Papier, erschien nicht etwa der Erbauer als durchgeknallt, sondern der Autor, der sie beschrieb. Und das war nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war etwas anderes. Das Schlimmste war: Wenn ich abends das herrliche Gefühl hatte, den Abgrund

In einer nebligen Nacht stopfte ich sämtliche Ordner Kladden Karteikarten, auch zahllose Zigarettenschachteln und Bierdeckel, auf denen ich Stichworte notiert hatte, in die Abfalltonnen, machte mir am nächsten Morgen mit dem Tauchsieder eine Tasse Nescafé und schrieb die erste Silbe, dummerweise eine Abkürzung: geb. Ich stutzte,

Die Müllmänner trotteten kopfschüttelnd vom Hof, und für mich begann ein beschwerlicher Opfergang. Ich musste eine Tonne nach der anderen durch das steile Treppenhaus nach oben schleppen, bis unters Dach, und in der Mansarde auskippen. Angelockt vom Gestank, kreischte vor dem offenen Fenster ein Möwenschwarm; heimkehrende Mieter blickten stumm zu mir hoch; das Ehepaar Weideli, das im Haus für Ruhe und Ordnung sorgte, drohte mit der Polizei. Nein, ich war nicht verrückt. Ich wollte die im Lauf der Jahre entstandenen Seiten, die teilweise die Geschichte meiner Ahnen enthielten, aber auch Überlegungen, die das Schreiben betrafen (etwa die Frage, ob man einen Tropfen, der am Brausekopf einer Badeanstalt zu Eis erstarrt ist, immer noch einen Tropfen nennen darf), nicht verlieren und nahm nun eine Mülltrennung der besonderen Art vor. Ich trennte den Abfall der Mietskaserne von meinen Texten. Den Abfall (ausgelaugte Teebeutel vollgeschissene Babywindeln Kippen Scherben Schalen Asche sowie eine verwesende, von den Weidelis vergiftete Ratte) brachte ich wieder nach unten in die Tonnen, meine Texte jedoch wurden gesäubert getrocknet gebügelt und nach dem Vorbild des Gummikatalogs in alphabetischer Reihenfolge abgelegt. Diese Arbeit erfüllte mich mit tiefer Befriedigung. Mein Leben, das sich bisher im Uferlosen verloren hatte, bekam auf einmal Konturen und wurde unter Stichworten greifbar. Obwohl der avisierte Doktortitel noch in weiter

Anfänglich kam ich gut voran. Ich stellte zahlreiche Varianten her und hängte auf dem Dachboden Blatt für Blatt an eine Wäscheleine. Nun gab es meine Biographie nicht nur einmal, sondern hundert Mal, und ich stand vor der Frage, welche Version ich abgeben sollte. Jene Varianten, die mit meiner Geburt begannen, gefielen mir eigentlich am besten, sie waren präzis und übersichtlich, aber wenn zuletzt, beim Rausschmiss aus dem väterlichen Werk, der Abfall vom Stamm fiel (»Abfall, du bist weit vom Stamm gefallen!«), musste natürlich auch der Baum und dessen Wurzelwerk vorgestellt werden. Ohne Sender Katz zu kennen, Mimis Urahn, der unter den summenden Drähten einer Telefonleitung durch den Landozean Galiziens gewandert war, würde man beim besten Willen nicht nachvollziehen können, weshalb Mimi uns verlassen hatte, um über den warmen Wogen des Mittelmeers verstreut zu werden. Ha, und da war ja auch noch der Spitzname des Seniors: Gummistier! Der musste natürlich erklärt werden, und auch diese Geschichte führte wieder zu den Wurzeln hinab, zu den Vorfahren väterlicherseits, und zu einem Heini Übel, meinem späteren Senior, der an Nasenringen tobende Stiere aus dem Inferno brennender Ställe gezerrt hatte …

Meinen Lebenskatalog hatte ich damals in Kisten auf dem Dachboden eingelagert, und der Gedanke gefiel mir nicht, dass man sie dem Senior jetzt aushändigen könnte. Es wäre ein böses Erwachen für ihn, aber es war nie meine

 

Dada. In einer kalten Novembernacht waren wir uns zum ersten Mal begegnet. Zwischen zwei Abfalltonnen im Innenhof hatte ein Augenpaar geglüht, reglos, ohne zu blinzeln, und statt weiterzugehen, hatte ich mich eine Weile hingekauert, um dem im Dunkel lauernden Tier die Zeit zu geben, die es brauchte, um mich genau zu studieren. Anderntags erfuhr ich, dass der Kater aus dem nahegelegenen Cabaret Voltaire entlaufen war – dort hatte Hugo Ball den Dadaismus ausgerufen, und so tauften wir Mieter diesen seltsamen Tiger, der ausgerechnet das Haus zum Zeisig (so lautete der alte Name der Grauen Gasse 10) zu seinem neuen Revier erwählt hatte, Dada. Dabei war die Lösung des Rätsels einfach. Anderswo wäre der Kater kaum bemerkt, geschweige denn gefüttert worden, im Zeisig-Haus jedoch hatte er sich durch zwei verbissene Feinde, das Ehepaar Weideli, eine ganze Schar von Sympathisanten erworben. Sämtliche Mieter liebten Dada und taten alles, um ihn durch den Winter zu bringen oder gegen die Weidelis zu verteidigen. Der Krieg wurde gnadenlos geführt. Wer Dada heimlich eine Sardine zusteckte, riskierte die Kündigung, und die Weidelis, die Tag und Nacht auf der Pirsch waren,

Ach so, ja: beim Kater –

Im letzten November hatten mir die Kinder der im Par

Da fiel mir ein, dass Dada vor einiger Zeit, es war an einem kalten Abend, ein nahendes Unheil gerochen hatte – Minuten bevor es eintrat. Als er aus meiner Mansarde schlich und über den Dachfirst des Nachbarhauses davontänzelte, eine schwarze Silhouette vor dem roten Himmel, erscholl von unten, aus dem Treppenhaus, die Doppelstimme der Weidelis: Mieter Übel, Telefon! – Die Gute, sonst

Die Aktion war natürlich typisch für den Senior. Im Tiefsten glaubte er an seine Unsterblichkeit und unternahm alles nur Menschenmögliche, um sein kostbares Leben vor Verletzungen und Beschädigungen zu schützen – jetzt also durch eine Tapezierung seines Büros mit lauter Gummimatten. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich soll also heimkehren, sagte ich, nach so langer Abwesenheit!

Die Gute zögerte. Ich vernahm ihr Schnaufen. Dann sagte sie: Ja. Wir freuen uns auf dich. Eine gute Reise, Heinrich, bis bald!