»Noch einen Kaffee, Dutturi?«

Ich brauchte nicht einmal zu nicken.

In der Kunst, ihn zu trinken, war ich schon fast perfekt: zwei Löffelchen Zucker ins Tässchen, dann den Henkel fassen, zu den Göttern aufschauen (noch war das Sonnensegel nicht aufgezogen), das süßbittere Aroma einatmen, ganz und gar zum Gaumen werden, zu einer gespannten Erwartung, und ach, kurz war das Glück, rasch genossen, schon vorbei.

»Noch eine Tasse, Dutturi?«

Dass ich immer noch hier war, hatte einen einfachen Grund. Ich hatte mich verpflichtet gefühlt (und so war es auch von mir erwartet worden), an Don Pasquales Begräbnis teilzunehmen. Bereut hatte ich dies nicht, denn so konnte ich noch einmal das alte Sizilien erleben, in seiner ganzen Pracht und komödiantischen Jenseitsgläubigkeit: die Pferde mit Kokarden geschmückt, die rumpelnde Kutsche ein Blumentraum, der Sarg zwischen Glasscheiben, die

»Drei Wochen«, sagte ich, »kann ich noch bleiben.« Und küsste ihm den Ring, den bisher Don Pasquale getragen hatte.

Unser erster öffentlicher Auftritt – Piddu als neuer Pate,

 

Nach dem feierlichen Hochamt, wiederum zelebriert von Monsignore Florio, tafelte die ganze Gesellschaft am Meer, an einer langen üppigen Tafel. Wie auf Sizilien üblich, wurde mit Lust geschmaust, und bei all den Reden und der fröhlichen Musik hatte niemand bemerkt, dass die uralte Tante Giulia schon seit längerem schwieg. Als man ihr den Fisch servierte, kippte sie ein wenig zur Seite, und etwas später – man war bereits beim Secondo Piatto – schrie ein Kind: Tante Giulia, warum vertreibst du die Fliegen nicht? – Herzschlag. Aber sollte man deswegen die Tafel aufheben, die Feier abbrechen, auf den Tanz verzichten, die Braut erschrecken? Piddu wusste eine bessere Lösung. Er erteilte den Soldaten den Befehl, der Leiche ein Tuch übers Haupt zu legen, wie über einen Käfig, wenn das Vögelchen schlafen soll, und so konnte das Mahl ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Fröhlich tanzte man die Tarantella, und unter ihrem Tüll, obgleich etwas fahl und von immer mehr Fliegen heimgesucht, gab Tante Giulia mit einem seligen Lächeln kund, dass sie ihre Bedenken gegen den Bräutigam zurückgenommen hatte. Als im Westen die Sonne versank, bestieg das glückliche Brautpaar eine Limousine mit getönten Scheiben und schaukelte zwischen den Dünen davon. Alle winkten, die Herren mit ihren Servietten, die Damen mit Taschentüchern, die Kinder mit Papierschlangen, auguri, auguri! Einzig Tante Giulia blieb sitzen, vor sich eine geschälte Orange, ein Tässchen Kaffee und ein Gläschen

Als Monsignore Florio, der Friseur, die schwarze Köchin, die Seekapitäne und ich das Hochzeitsfest in der anhebenden Nacht mit Zigarre und Grappa verklingen ließen, gab ich bekannt, dass ich am Ende des Monats abreisen würde, zurück in die Heimat, und diesmal war ich sicher: Ich würde es schaffen. Diesmal käme ich von der Insel weg. Ich kehrte heim zum Vater.

 

Erst war sie nur ein Punkt, ein rötlicher Knopf im blauen Meer. Dann näherte sich die Schwimmerin dem Ufer und entstieg mit ihren Kupferhaaren nackt den schäumenden Wellen. Nur ein Glitzern kleidete sie, und wie eine Schleppe folgte ihr eine dünne Tropfenspur über den Strand, die Düne hoch, in den Himmel hinein …, aber nur Sekunden später tauchte sie wieder auf, direkt vor mir und jetzt in ein Badetuch gehüllt, und lächelte scheu. War sonst noch jemand am Strand?

Nein, sie meinte mich, wir waren allein, allein im Licht –

»No italiano«, sagte sie, »deutsch!«

Und lächelte wieder.

Lächelte mich an.

Mich lächelte sie an.

»Auf Sizilien«, sagte ich, »hat Empedokles den Seelenwandel verkündet, Platon die Wirklichkeit der Ideen gelehrt, Goethe die Urpflanze gesucht, Pirandello Komödien geschrieben.«

Sie war offensichtlich froh, dass ich ihre Sprache beherrschte, und beeindruckt von meinem Wissen.

»Ich war nicht im Krankenhaus.«

»Nein?«

»Ein Friseur hat mich verarztet.«

»Es geht bei euch im Westen weit schlimmer zu, als sie es uns beigebracht haben. Eine medizinische Versorgung durch Friseure, nein, wirklich, so etwas lässt sich nur der Kapitalismus einfallen. Bei uns wären Sie in einer Poliklinik versorgt worden. Hat er Sie wenigstens desinfiziert?«

»Wer?«

»Der Friseur.«

»Keine Ahnung … Hungrig von langer Seefahrt«, nahm ich den Faden wieder auf, »machten sich Odysseus und seine Gefährten über den Pecorino her. Wollten fressen und wurden dann gefressen. Vom Riesen Polyphem. Aber Odysseus wird ja der Listenreiche genannt, auch Odysseus facundus, der geschickte Unterhalter. Er hat dem Polyphem das einzige Auge ausgestochen.«

»Ach du grüne Nudel!«

»Mit einem glühenden Pfahl. Die grausame Episode ist die Kernszene der sizilianischen Literatur, vor allem der Commedia.«

Allmählich gewann ich an Sicherheit – und machte das einzig Richtige, Bildung zog bei Frauen immer.

»Die sizilianische Commedia handelt von der Blendung, respektive der Verblendung. Beispiel: Ein alter Esel verliebt sich in eine junge Schöne und bildet sich ein, seine Liebe würde erwidert. Sizilianer haben etwas Naives, müssen Sie

»Ist nicht wahr!«

»Doch doch.«

»Glauben Sie das auch?«

»Nein. Ich bin ja nicht verrückt.«

»Ich glaube an den Sozialismus«, sagte die Frau. »Ich glaube daran, dass in der klassenlosen Gesellschaft alle Menschen glücklich werden, auch ein armer Kerl wie du.«

Voller Mitleid sah sie mich an. Ich hielt ihr meine Zigaretten hin. Sie nahm sich eine. Ich gab ihr Feuer. Wir rauchten. Mir war klar, jetzt sollte ich ihr meinen Namen sagen, aber wer stellte sich schon gern als Übel vor … weg.

Sie war weg! Ich stürzte ihr nach, und tatsächlich, auf der nächsten Kuppe war noch vor kurzem jemand gewesen. Vier Vertiefungen steckten im Sand ein unberührtes Quadrat ab – als habe hier ein Sessel gestanden. Ein Sessel? Dass sich irgendeine durchgeknallte Principessa ihren Sessel von der Dienerschaft durch die Pampa hinterhertragen und auf dieser Düne unter ihr Derrière schieben ließ, hielt ich für ausgeschlossen, so verrückt waren nicht einmal die sizilianischen Komödianten. Was hatte hier gestanden? Ein quadratischer Ballonkorb mit vier Füßen? Oder ein kleines, vierstelziges Raumschiff? Um die Quadratfläche herum wimmelte es von Abdrücken. Die Sohlen porös. Auffällig porös. Mindere Gummiware. Kein Zweifel, diese Abdrücke stammten von Bata-Sandalen aus der ČSSR. Ein billiges Massenprodukt. Als es damals auf den Westmarkt kam,

Über meinem Nacken krächzten Möwen, und ich ertappte mich dabei, wie ich den Himmel absuchte – entschwebte sie gerade in einem Ballon, die Kupferrothaarige? Oder düste sie in einem Ufo zu ihrem Heimatstern zurück? Da! Als wäre sie tatsächlich einem Raumschiff entstiegen, trug sie plötzlich eine Uniform: eine blaue Bluse und einen weißen Plisseerock. Weiß waren auch die Plasticstiefel (keine Bata-Sandalen!), und die Mütze hatte sie keck auf das noch feuchte, rötlichdunkle Haar gesetzt, ebenfalls blau, wie ein Schiffchen. Also doch: eine Halluzination? Ich schloss die Augen, zählte bis sieben, sie war immer noch da. In Uniform. Kam sie vielleicht aus dem Norden? Eine Dänin? Eine Baltin? Nein, überlegte ich fieberhaft, eher eine Russin aus jenem Landozean, wo die Ackerfurchen im Unendlichen verrannen. Sie hatte hohe Wangenknochen, und ihre grauen, etwas katzenhaften Augen musterten mich neugierig … Pol! Eine Polin!

Ich riskierte es: »Heißen Sie Laila?«

»Vielleicht sollten wir in den Schatten gehen«, sagte sie freundlich und führte mich zu der Cabanna am Fuß der Dünen, wo sie ihre Uniform angezogen hatte. »Von der Partei?«

»Wie bitte?«

»Dein Deutsch, Genosse.«

»Für einen Sizilianer ist es ziemlich gut.«

Wir setzten uns auf die schmale Veranda der nach frischer Farbe riechenden Cabanna. Die hohe Sonne versilberte das Meer; der weite leere Strand sah aus wie Schnee; in den Dünen tosten die Grillen.

»War’s ein Autounfall?«

»Ja«, gestand ich verdutzt. »Im letzten Winter. Auf einer Brücke. Sehen Sie mir das an?«

Sie reichte mir eine Blechflasche, aus der ich gierig trank.

»Ich bin eigentlich schon unterwegs«, sprudelte ich zwischen den Schlucken hervor. »Auf der Heimreise. Habe bereits das Ticket. Aber die Fähre legt erst am Abend ab, kurz nach Sieben. Ins Hotel wollte ich nicht zurück, also habe ich in der Hafenbar meine Reisetasche abgestellt und mich auf einen kleinen Spaziergang gemacht. Irgendwo hier am Strand haben sie mich seinerzeit aufgelesen – da wollte ich noch mal hin. Zum Abschied.«

Als ich ihr die Flasche zurückgab, fiel mein Blick auf eine eingestanzte Beschriftung, die mich restlos aus meinem Koordinatensystem warf. »VEB Funkwerke Berlin-Köpenick« stand auf einem Schildchen, und das war so real wie die Flasche.

Sie nahm ebenfalls einen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab und fragte: »Weißt du, was ein Aktivist ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

Sie sah mich erwartungsvoll an. »Ich bin einer, sagte sie stolz, »sogar ein dreifacher.«

»Dreifacher was?«

Isidor Quassi hatte mich zwei oder drei Mal zur Sitzung einer K-Gruppe mitgenommen, die im Keller der Zürichberg-Villa eines revolutionären Studenten ihre Versammlungen abhielt, Resolutionen gegen den US-Imperialismus verfasste und zu Schulungszwecken Filme zeigte: Rotarmisten im Stechschritt, winkende Traktoristen, singende Matrosen sowie reihenweise Mädchen mit Kopftüchern, die wogende Getreidefelder absichelten, alle jung, alle stramm, voller Zuversicht und Zukunft, unterlegt mit schwermütiger Musik.

Jetzt fragte ich höflich, ob ich noch einen Schluck nehmen dürfe, setzte die Flasche an, schloss die Augen, und als ich sie wieder öffnete, war die Komsomolzin keineswegs, wie ich insgeheim erwartet hatte, verschwunden.

»Was für Klassiker …«

»Marx, Engels, Lenin! Sie haben wissenschaftlich bewiesen, dass dem internationalen Sozialismus die Zukunft gehört. Dafür steht auch die Jahrhundert-Erfindung unserer Genossen vom VEB Funkwerke. Trink noch einen Schluck!«

Ich gehorchte. Ich blinzelte. Dann besann ich mich auf meinen neuen Status, den Dutturi, und fragte sie gefasst, sogar leicht von oben herab, was für eine »Jahrhundert-Erfindung« sie meine.

»Ein neuartiges Telefoniesystem. Drahtlos. Ohne Leitungen. In Moçambique und Mexico hat sich das System bereits bewährt, in beiden Ländern haben wir für den Sozialismus einen wichtigen Sieg errungen.«

»In Mexico?«

»Und Moçambique. Ihr im Westen seid so rückständig, dass es kracht. Ein historisch überholter Feudaladel beutet euch aus, und der durchschnittliche Campesino ist derart arm, dass er die Telefonleitungen als Zäune für die hungernden Herden zweckentfremdet.«

»Was für Telefonleitungen?!«

»Mann, bist du schwer von Kapee! Gemeinsam mit den Genossen unserer Delegation erfülle ich den Auftrag, euch unser System zu verkaufen.«

»Den Sozialismus«, sagte ich dumpf.

»Nein, das bahnbrechend neue Telefoniesystem!«

»Die Delegation für ökonomische Sondermaßnahmen zwecks Devisenbeschaffung«, zwang sie sich zur Geduld, »wurde in den Westen gesandt, um die Erfindung der Genossen der Forschungsabteilung des VEB Funkwerke Berlin-Köpenick nach Moçambique und Mexico jetzt auch bei euch auf den Markt zu bringen. Das hab ich dir eben erklärt, Genosse, du musst lernen, besser aufzupassen. Meine Aufgabe ist es, das Interesse für unser Erzeugnis zu wecken.«

»Für Telefonleitungen …?«

»Nein, eben nicht!«, rief sie verzweifelt. »Keine Leitungen!«

»Keine?«

»Das System ist drahtlos.«

»Drahtlos?«

»Ja«, jubelte sie wieder und klatschte in die Hände, »eine absolute Neuheit! Mit unserem Telefoniesystem könnt ihr Sizilianos fröhlich durch die Gegend spazieren und euch von jedem beliebigen Punkt aus in bestehende Netze einschalten.«

»Über Funk.«

»Nein, nicht über Funk. Es ist ein normales Telefon.«

»Das geht doch nicht!«

»Im Sozialismus schon«, dozierte sie. »Wenn ihr schlau seid, partizipiert ihr an unserem Fortschritt. Schau dir nur den leeren Strand an! Bei uns an der Ostsee stehen überall Ferienwohnheime für Werktätige. Vorhin war ich im Meer. Als einzige!«

Sie griff in ihr Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Kno

»Trink aus«, befahl sie und hielt mir die Flasche an die brandigen Lippen, als wäre ich zu krank oder zu kaputt, um sie selbst zu halten. »Das Meer hat mindestens fünfzehn Grad. Wieso niemand reingeht, ist mir ein Rätsel.«

Ich versuchte es noch mal: »Sie gehören also zu einer Delegation …«

»Mann, brauchst du’s schriftlich? Wir sind hier, um euch den sozialistischen Fortschritt zu bringen. Eine ökonomische Sondermaßnahme …«

»Zwecks Devisenbeschaffung, das hab ich verstanden. Wo sind denn die übrigen Mitglieder dieser äh … Delegation?«

»Hinter den Dünen. Aufgrund des fehlerhaften Kartenmaterials – bei euch stimmt ja nichts – haben wir uns verlaufen. Der Genosse Delegationsleiter hat eine Ruhepause angeordnet.«

Es war heiß; die Steine schienen zu schmelzen; am Horizont klebten Frachter. Linkerhand ragte das Kap in die versilberte Bläue hinaus, und im Westen zitterte der Stadtfelsen in der Nachmittagshitze.

»Vor mir hat die Valerie Miske den Job gemacht«, erklärte sie. »In Moçambique lief alles gut, aber in Mexico kam es dann zu Problemen.« Leise sagte sie: »Sie hat sich abgesetzt, die Miske, dieses Luder. Republikflucht! Jetzt tut

»Nun ja, gar so schrecklich, wie Sie denken …«

»Nicht schrecklich?« Sie sah mich entrüstet an. Dann berührte sie mit dem Zeigefinger meine Narbe. »Tut das weh?«

»Nein nein. Der Friseur und die Köchin …«

»Was für eine Köchin?!«

»Sie hat mir das Fieber weggetrommelt.«

»Ick glob, meen Schwein pfeift«, rief sie aus. »Der Kapitalismus steckt tatsächlich in der vom Genossen Parteisekretär Kress dargestellten Fäulnisphase.« Sie sprang auf, sah kurz hinter die Cabanna. »Hast du noch ne Fluppe für mich?«

Ich bot ihr eine an, war jedoch außerstande, ihr Feuer zu geben, zu heftig zitterte die Hand. Eine größere Welle donnerte heran, schlug auf, verflachte in der milchigen Gischt, zog sich im rollenden Kies zurück.

»Westzigaretten!«, sagte sie versonnen, fügte jedoch rasch hinzu, sie wolle lieber nicht wissen, wie die armen sizilianischen Campesinos bei der Tabakernte ausgebeutet würden.

»Ihr habt doch auch Zigaretten«, wagte ich scheu zu bemerken.

»Natürlich. Bessere als ihr. Aber unsere Erntearbeiter leisten einen freiwilligen Beitrag zum Werden und Wachsen der sozialistischen Gemeinschaft. Unsere Erntearbeiter repräsentieren die herrschende Klasse. Wie sollen sie da Ausgebeutete sein?«

Sie lächelte mich von der Seite an, ich sah die leicht offenen Lippen, und diese Lippen … mein Gott, meine Platte war feucht geworden wie eine Hundeschnauze!

»Ja. Nein. Verzeihung …«

Und während sie wie ein Sprechautomat weiter ihr Loblied auf den Sozialismus abspulte, begriff ich immerhin, dass sie mit Berlin das östliche Berlin meinte, die Hauptstadt der DDR. Von diesem Land hinterm Eisernen Vorhang kannte ich höchstens Klischees aus düsteren Agentenfilmen: leere Schaufenster, graue Straßen, schmutzige Schneeflecken, rote Bänder mit Parteiparolen und Gaslaternen, in deren Licht die wenigen Passanten schräge Schatten über die vom Krieg beschädigten Fassaden warfen – das Sparta der Neuzeit. Diese Aktivistin jedoch schien ihre Staatskaserne als Paradies zu empfinden und hörte nicht auf, von ihrer Tanzgruppe im »Haus der Jungen Talente« zu schwärmen, besonders vom Genossen Tanzgruppenleiter, den sie zärtlich »unser Matthias« nannte. Dabei schien es sich um einen überzeugten Kommunisten zu handeln, der sich offensichtlich nicht nur beim freiwilligen Ernteeinsatz und als Arrangeur von Tanznummern hervortat. Man konnte sich vorstellen, was nach den Proben abging. Denn so fremd sie mir war, ihren Typus glaubte ich zu kennen – aus der Gummifabrik. Dort hatte es in meiner Lehrlingszeit von solchen Mädchen gewimmelt, und hatte man zufällig beobachtet, wie sie nach Arbeitsschluss ihre Hintern auf die Velosättel schwangen, war man im Bild. Flittchen! Ich würde mich von denen nie mehr demütigen, nie mehr erniedrigen lassen. Eifersucht, das war einmal. Vergangen vergessen vorbei. Künftig sollte das Leben an mir vorüberfließen, ich würde es aus sicherer Distanz beobachten …

»Ich habe unserm Matthias versprochen«, beendete sie

»Ich würde gern bleiben, wirklich … Aber ich darf unter keinen Umständen die Fähre verpassen. Vielen Dank.«

»Wofür?«

»Für das Wasser.«

»Gern geschehen«, rief sie und begann zu tanzen. In der Bläue kapriolten Lerchen, und ich hatte den Eindruck, eine nach der anderen würde herabsegeln und sich auf ihre ausgestreckten, sanft balancierenden Arme setzen. Die Uniform war ihr Tanzkostüm. Sie trainierte für den nächsten Auftritt, ging jetzt in die Hocke und drehte sich, die Hacken in den Sand schlagend, schnell und immer schneller im Kreis – bis sie hinfiel. Und mit leicht gespreizten Beinen auf der Düne saß, lachend.

»Ich bin hingefallen.«

»Ich fand Sie gut.«

»Unser Matthias wäre anderer Meinung.«

»Ja«, sagte ich. Und dann noch einmal: »Ja.«

»Ja«, sagte sie.

Ja, und dann machte ich einen Fehler. O, es war kein großer Fehler, nur ein kleiner, aber hinterher hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Ich gestand ihr, früher einen ähnlichen Job gehabt zu haben wie sie: »Ich bin in der Reklameabteilung einer Gummifabrik tätig gewesen. Meine Aufgabe war es, den jährlich erscheinenden Katalog zu textieren, die ganze Palette des menschlichen Daseins, vom Schnuller bis zur Wohlfühlhose …«

»Ja, Wohlfühlhose.«

»Ihr seid ja völlig bescheuert. Wohlfühlhose! Glaub mir, so ein Quark fällt nur einem kranken kapitalistischen Hirn ein. Hast du den Ausdruck erfunden?«

»Ich? Wohlfühlhose? Nein nein, was denken Sie!« Ich schluckte. »Der Begriff ist in unsrer Branche geläufig, auch im englischsprachigen Raum. Wir haben damals festgestellt, dass Inkontinente am Telefon ungern eine Gummihose bestellen.

»Du bist feucht.«

»Wie … wo …«

»Auf deiner Platte!«

»Feucht?«

»Ja«, sagte sie kichernd. »Lusttröpfchen!«

»Lu…«, ich riss mir das Foulard vom Hals und wischte damit den Kahlschädel ab. Dann zog ich den Hut so tief über die Ohren, dass sie seitwärts abknickten.

»Im Sozialismus haben wir die Sexualität naturwissenschaftlich geklärt«, fuhr sie ungerührt fort, »und die Moral durch Hygiene ersetzt. Gummis, weißt du, waren bei uns nie besonders beliebt. In der erfolgreichen sozialistischen Produktion sind wir über diese Materie sowieso hinaus. Im Funkwerk verwenden wir die Erzeugnisse der Genossen aus dem VEB Plaste und Elaste. Manchmal trifft man sich zu Gemeinschaftsabenden, oder wir begleiten die Brigade aus Schkopau in eine lehrreiche Brecht-Aufführung. Wohlfühlhose! Ich fass es nicht! So ne Gummihose zwickt doch!«

»Ein bisschen vielleicht.«

»Na bitte! Wohlfühlhose! Dass das eine Lüge ist, würde

»Es klingelt«, sagte ich.

»Natürlich«, rief die Schöne, »der Ohrensessel ist ein Telefon.«

Ich schloss für einen Moment die Augen. Ich zählte bis

»Dass ihr keine Chance habt, ihr im Westen. Dass wir im Bereich der drahtlosen Telefonie den Markt in der spätkapitalistischen Hemisphäre erobern werden.«

»Drahtlos.«

»Ja«, sagte sie, »drahtlos.«

»Und das Möbel dort ist kein Ohrensessel …«

»Selbstverständlich ist der Ohrensessel ein Ohrensessel! Was soll das denn sonst sein?«

»Nein nein, der Sessel ist ein Sessel, das kann ich schon erkennen …«

»Aber du hörst schlecht, vermutlich von deinem Unfall. Hast du kein Hörgerät?« Ihr Kopf kippte nach links, nach rechts. »Bei euch herrscht natürlich Batterienmangel. Da hat es keinen Sinn, die Dinger einzustöpseln.«

»Ja, das heißt, nein …«

»In der Volkstanzgruppe haben wir eine, die praktisch taub ist, Nancy Trampe. Die Trampe ist mit unseren technisch ausgereiften Hörhilfen ausgerüstet und besitzt einen Sonderausweis, der ihr bei entwicklungsbedingten Versorgungsengpässen den Bezug von Batterien erleichtert. Ach du grüne Nudel! Dass ihr dermaßen auf dem Hund seid, hätte ich denn doch nicht gedacht! Wohlfühlhose! Und keine Hörgeräte trotz Taubheit.«

»Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht …«

»Nicht schlimm? Die Ausbeuter haben dir das Gehör gestohlen, und du findest es nicht schlimm?«

In ihre Augen traten Tränen, ihre Finger berührten meine Ohren, und sollte der Kapitalismus je einen Sinn gehabt

Auf der Düne meldete der Stoßtruppführer in den schwarzen Telefonhörer, den er der Armlehne des Sessels entnommen hatte: »Kupferschmidt, Delegation für ökonomische Sondermaßnahmen! Südküste Siziliens, nahe Pollazzu, am Afrikanischen Meer! 16 Uhr 57 Ortszeit!«

Der Rest der Meldung wurde von heranrollenden Wogen überdonnert, doch konnte ich deutlich sehen, wie er das Gespräch nach einigen Sätzen beendete und den Telefonhörer wieder in der hochgeklappten Armlehne des Sessels verstaute.

»Habe begriffen«, stotterte ich lachend, »mit dem Ohrensessel kann man telefonieren.«

»Ja«, schrie sie in meine vermeintlich tauben Ohren, »unser Telefoniesystem ist weltweit einzigartig und wird das Wesen der Kommunikation vollständig verändern!«

»Sozialistischer Fortschritt«, erklärte der Genosse Delegationsleiter, dem der vertraute Umgang seiner Genossin mit dem Fremden zu missfallen schien. »Möglichkeit, sich in jedes normale Telefonnetz einzuwählen. Teilnehmerstation garantiert internationale Verbindung. Weltsensation!«

»Drahtlos«, sagte ich.

Sie, die Hände vor dem Mund zum Trichter geformt: »Ja, drahtlos! Siehst du irgendwo Leitungen? Er kann ein bisschen deutsch«, wandte sie sich an den Delegationsleiter, »hat aber Probleme mit dem Hören, Folge eines Autounfalls.«

»Haben uns in der Pampa verlaufen«, brüllte der Dele

»End- und Fäulnisphase«, ergänzte die Aktivistin.

»Wo soll’s denn hingehen, Herr Oberst?«, wollte ich wissen.

»Genosse Oberst«, korrigierte er mich. »Nach Pollazzu! Wichtiger Geschäftstermin. Dringend.«

»Immer am Meer entlang. Dann kommen Sie direkt zum Hafen.«

»Genosse Peschke«, befahl der Oberst, »Zielrichtung Hafen! Aufladen! Abmarsch!«

»Im Schulterschluss mit dem friedliebenden sowjetischen Brudervolk wollen wir den Prozess des sozialistischen Wachsens und Werdens weiterführen«, knurrte der Sesselschlepper, lud sich den Ohrensessel auf den Rücken und stand dann in gebückter Stellung parat, geduldig wie ein Esel. Delegationsleiter Kupferschmidt hingegen ärgerte sich über seine Genossin, die beim Umziehen ein sozialistisches Liedlein trällerte, aus dem Spanischen Bürgerkrieg: »Halt stand, rotes Madrid!« Schließlich erklärte er genervt, die vom VEB Möbelwerke Gera produzierten Ohrensessel hätte man in den neuen Plattenbauten durch keine Tür gekriegt, nicht einmal dann, wenn man die Holzfüße abgesägt hätte. Also habe man die gepolsterten Ungetüme anderweitig verarbeiten müssen, und nach langen Diskussionen sei auf Funktionärsebene entschieden worden, das Telefoniesystem, für das man noch keine Fassung gehabt habe, in die überflüssigen Ohrensessel einzubauen.

Als Ehemaliger der Gummifabrik konnte ich seinen Unwillen nachvollziehen. Nicht immer war richtig, was oben

»Ihr Kapitalisten werft uns immer gleich die Mauer vor«, rief sie mir zu, »und verkennt dabei völlig, dass sie eine nötige Entwicklungsstufe im sozialistischen Fortschrittsprozess darstellt. Sobald unsere Republik kein Baby mehr ist, wird sie ohne Laufgitter auskommen! Mach’s gut, Siziliano!«

»Im Schulterschluss mit dem friedliebenden sowjetischen Brudervolk«, knurrte der Sesselschlepper unterm Sessel hervor, »wollen wir den Prozess des sozialistischen Wachsens und Werdens weiterführen.«

Offenbar war dies sein einziger Satz, doch schien er stets zu passen. Die Delegation entfernte sich am Meer entlang, der Genosse Oberst voran, an seiner Seite die Schöne, dahinter der Ohrensessel, die Rückenlehne nach unten gedreht, so dass er wie ein aufrechter Riesenkäfer mit gelblichem Rückenpanzer auf zwei stark behaarten Waden durch die Wellenzungen davonwatschelte. Da meine Fähre erst in zwei Stunden ablegen würde, erstieg ich die höchste Düne, um ihnen nachzuschauen. Ich hatte die Begegnung mit der Delegation nicht geträumt, die vier Vertiefungen im Sand zu meinen Füßen bezeugten, dass hier der Ohrensessel gestanden hatte … der Ohrensessel, der ein Telefon war. Auch ein paar Abdrücke von Bata-Sandalen waren im rieselnden Sand noch zu erkennen, und unten, vor der Cabanna, fand ich ein paar Kippen … Kippen von Zigaretten, die ich mit Laila geraucht hatte … Laila? Nein, das war nicht Laila, aber dennoch hatte ich das sonderbare Gefühl,

 

Ich verpasste die Fähre – mit voller Absicht. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, Pollazzu zu verlassen, ohne die Schöne noch einmal gesehen zu haben. In der Villa Vittoria war die Nummer 43 zum Glück noch frei, und auch im Speisesaal bekam ich am Abend den alten Platz wieder, meinen Einzeltisch zwischen den graubärtigen Seekapitänen.

Nach der Cena, da ich mit ihnen eine Zigarre rauchte, nahm mich einer der beiden zur Seite und flüsterte: »Dutturi, sind Sie Piddus wegen zurückgekommen? Der arme Junge ist in einem fürchterlichen Zustand.«

»Du lieber Himmel, was ist passiert?«

»Eine klassische Regression«, meinte der andere. »Vermutlich ist er dem schweren Amt, das ihm sein Onkel hinterlassen hat, nicht gewachsen. Er ist wieder zum Jungen geworden, der den Brunnenesel antreibt.«

Ich eilte durch die langen, teilweise noch winterfeuchten Gänge zum hintersten Hof, wo ich, hinter dem haarigen Stamm einer Palme versteckt, erst einmal die Lage überblicken wollte. Der psychologisierende Seekapitän hatte recht. Das war nicht mehr der junge Pate, sondern ein Häufchen Elend, das reglos in die Flammen eines kleinen

»Consigliere«, schrie Piddu verzweifelt, »ich habe mich verliebt!«

»Wer …«

»Ich!«

»Sie?«

»Ja, Consigliere, es war … es ist … Madonna biniditta, wenn Sie wüssten, was ich heute Abend erlebt habe! Ich bin … ich war …«

»Himmelarsch, was ist los mit Ihnen?«

»Sie war … sie ist … also wenn Sie die gesehen hätten, Sie würden … Sie könnten …« Er schlug die Hände vors Gesicht. Er winselte. »O Consigliere, tausend Dank, dass Sie zurückgekehrt sind. Ich muss es jemandem sagen. Ich halt es nicht mehr aus. Es hat mich erwischt.«

»Ja.«

»In Mafalda?«

»Sind Sie verrückt? Mafalda war die Letzte vom Alten.«

»In Giucy?«

»In eine Fremde«, sprach er traurig und leise. »In eine Deutsche.«

Im ersten Moment kam mir der furchtbare Gedanke, der schöne Jüngling könnte sich ebenfalls in die schöne Funkwerkerin verliebt haben, aber würde sich eine kluge, für den Sozialismus engagierte Frau in so einen Trottel verlieben? Nie und nimmer. Oder doch? Durchatmen, einfach durchatmen, so tief wie möglich durchatmen. O, ich kannte das Syndrom. Mit der Liebe kam die Eifersucht. Mit der Liebe tat sich nicht nur der Himmel, sondern auch die Hölle auf, und ich konnte nur hoffen, dass ich mich täuschte. Der Esel war stehen geblieben.

Piddu nahm einen Stein von einem Haufen und sagte drohend: »Ich hätte Sie dringend gebraucht. Als Dolmetsch! Jetzt ist es zu spät, aber morgen begleiten Sie mich. Verstanden? Ihr Vertrag als Consigliere ist um eine Woche verlängert. Sie werden für mich übersetzen.«

Er holte aus und schleuderte den Stein mit Schwung in die Flanke des armen Esels. Entsetzt wandte ich mich ab.

»Vom Italienischen ins Deutsche?«

»Ja, und vom Deutschen ins Italienische.«

Der Esel stand im Mondschein am Ziehbrunnen. Er rührte sich nicht. Er trug eine Art Narrenkappe: einen Kartoffelsack, den man ihm über den Schädel gestülpt und am Hals zugebunden hatte – als Fliegenschutz oder damit ihm

»Es ist lange her«, begann Piddu auf einmal zu erzählen, »ich war damals noch ein Knabe, etwa fünf Jahre alt. Die Mamma und ich haben das Dorf in aller Frühe verlassen, sie mit einem Koffer auf dem Kopf. Es war ein heißer Tag

»Don Pasquale?«

Piddu nickte. »Der Kofferraum ist automatisch aufgeklappt. Ich bin hineingeklettert.«

Eine Weile schwieg er, den Blick ins Feuer gerichtet, dann senkte er die langen blonden Wimpern und sagte mit zitternden Lippen: »Ich habe meine Mamma nicht verraten. Sie haben sie trotzdem gefunden, im Bett ihres Kerls. Don Pasquale hat dem Kerl in die Stirn geschossen. Dann hat er die Mamma an den Haaren ans Meer geschleift und ihren Kopf an einem Felsen zerschmettert.«

»Meine Mutter ist ebenfalls verschwunden«, sagte ich nach einem längeren Schweigen, worin die Flammen knisterten, die Funken knallten. »Sie hieß Mimi. Ich war damals sieben. Wir haben ein ähnliches Schicksal.«

»Haben Sie sie wiedergesehen?«

»Sie haben ihre Asche über dem Meer verstreut. Da sieht man sich nicht wieder.«

Auf einmal knarrte es. Der Esel stemmte sich in die Zugstange, und über dem runden Brunnentrog begann sich ein flaches Holzkreuz zu drehen, das eine Kette von Krügen

»Piddu«, sagte ich, den Tränen nah, »ich habe mich ebenfalls verliebt.«

»Ah, ich verstehe. Deshalb sind Sie nicht abgereist. Sie wollen sie wiedersehen.«

Er zog aus seiner Hirtentasche eine Flasche und setzte sie an. »Meine«, bemerkte er, »hat einen tollen Busen.«

»Meine einen tollen Hintern.«

»Und der Busen?«

»Niedlich.«

Er reichte mir die Flasche. Wein aus der Vulkanerde.

»Consigliere«, sagte er und fand plötzlich sein Lachen wieder, »dann kann es nicht dieselbe sein! Meine hat so einen Busen!«

»Wenn das stimmt, dann … dann wäre das großartig! Meine ist eher der andere Typ.«

Er, lachend: »Flach wie ein Brett?«

»Nicht wie ein Brett, aber dezent.«

»Dann kann deine nicht meine sein«, jubelte er.

Lachen Umarmung Schulterklopfen. Und erneut Erstarren. Wieder eine Schrecksekunde. Jeder nahm den andern ins Visier, mit angehaltenem Atem. »Wo hast du sie kennengelernt?«, wollte er wissen.

»Am Meer. Heute Nachmittag. Wann bist du deiner begegnet?«

»Heute Abend. Bei einem Geschäftsessen der Freunde. Offizieller Gast war ein Oberst aus Deutschland-Ost, dem Land hinter der Mauer.« Er kicherte. »Consigliere, du würdest es nicht glauben …«

»Ee?«

»Das Telefon ist ein Ohrensessel.«

Er fixierte mich und sagte: »Du bist gut informiert, Consigliere.«

Krug um Krug fuhr klappernd am Brunnen herauf und kippte, langsam den Zenit überkriechend, sein Wasser in eine Holzrinne ab, um dann mit hohlem schwarzen Maul und tropfendem Schlammbart in den Schacht zurückzukehren. Der Mond bestrahlte die Palmen, den Brunnen und das geduldig rundumlaufende Zugtier mit eisigem Licht. Die Holzrinne verteilte silberne Rinnsale zwischen die schwarzen Büsche des Innenhofs, verwirrend wie ein großes Strickmuster, und je mehr in der Erde versickerte, desto betörender duftete das Paradies. Piddu hockte sich wieder hin und wickelte sich wie ein wachender Hirte in seine Decken.

»Die Wahrheit ist«, sagte er, »meine liebt einen andern.«

»Hat sie dir das gesagt?«

»Ich wollte sie küssen. Sie hat mich zurückgestoßen.«

Ich machte mir keine Illusionen. Noch war alles offen. Noch stand unser Glück in den Sternen. Aber hatte sie nicht für mich getanzt? Hatte sie mir beim Abschied nicht gewinkt und zugezwinkert? Ja, hatte sie. Amor hatte einen Volltreffer erzielt. Der Pfeil war durch beide Herzen gegangen und würde sie nun für immer zusammenheften. Die! Keine andere. Sie ist es. Der! Kein anderer. Er ist es. Jedenfalls hatte sie von Piddus Avancen nichts wissen wollen. Hau ab, wird sie geschrien haben, du kommst um eine

Ich stupste ihn an, lachend: »Mensch Piddu, du kannst doch jede haben!«

»Jede?«

»Ja, jede. Mit einer Ausnahme natürlich. Weißt du zufällig, wer dir dein Busenwunder weggeschnappt hat?«

»Nein. Aber ich vermute, es ist ein älterer Mann.«

»So?«, rief ich viel zu hoffnungsfroh. »Wie kommst du darauf?«

»Consigliere, was mache ich falsch? Wie kommt es, dass jeder andere bei den Weibern mehr Chancen hat als ich?«

»Hast du je in den Spiegel geschaut?«

»Macht doch jeder.«

»Na also.«

»Also was.«

»Griechen«, erklärte ich und tupfte ihm mit meinem Foulard die Tränen von den Wangen. »Griechen, Karthager, Römer, Vandalen, Goten, Byzantiner, Sarazenen, Normannen, Schwaben, Spanier, Franzosen, dann Mussolinis Schwarzhemden, die SS, die Wehrmacht und schließlich die kaugummikauenden Charlies der US-Armee. Kapiert?«

»Nein.«

»Sieger und Schänder«, fuhr ich fort, »Tempel, Trümmer, Kathedralen, dunkle Kastelle, kahle Hügel, ausgebrannte Dörfer und götterschöne Menschen. Menschen mit vielfach gemischtem Blut. Menschen, deren Haut arabisch dunkel ist. Menschen, die nordisch blondes Haar haben, italienische Locken, kalifornische Zähne und Augen, aus

»Consigliere, glaubst du das wirklich?«

»Ja«, stieß ich hervor. »Das sagt dir ein Mann, der weiß, wie Weiberherzen ticken.«

»Consigliere, du bist ein Genie. Morgen gehen wir zu ihr. Du wirst mein Mund sein. Noch eine Flasche?«

Zwei. Drei. Vier. Er holte die Flaschen in einem nahen Keller, und die Sauferei ging weiter, mit Wein, mit Grappa, mit Likör. Was für ein Zufall! Wir beide, beide am selben Nachmittag, wir konnten es nicht fassen, ich noch weniger als er. Ich machte Piddu vor, wie sie für mich am Meer getanzt hatte, für mich ganz allein, in der Fülle des Lichts, auf den ausgestreckten Armen die Lerchen wiegend, ein sozialistischer Engel vor der unendlichen Bläue; und Piddu stolzierte mit wiegenden Hüften und klimpernden Wimpern vor mir auf und ab, bis er in einem Rosenbeet auf die Nase fiel, brüllend vor Lachen.

Heißhungrig verschlang ich in den frühen Morgenstunden eine Käseplatte, die er in der Küche geholt hatte, und versuchte, zwischen den Bissen mein Wissen über die Polymerisation weiterzugeben. Ich musste das Wort mehrmals buchstabieren: »Poly. Meri. Sati. On. Verstehst du?«

»No.«

»Du bist verliebt, und auf einmal ist die Welt völlig verwandelt, auf einmal besteht sie einzig und allein aus deinem Mädchen.«

»Du bist ja ein Poet«, rief Piddu.

Und ich, mit gesenkten Wimpern: »Nicht ich, Piddu, nicht ich.« Gehaucht, seufzend: »Aus mir dichtet die Liebe.«

»Wer?«

»Goethe! Toller Bursche, echter Klassiker. War auch mal hier, im schönsten Frühling, hat die Urpflanze gesucht und im April 1787, vor gut zweihundert Jahren, hat er sie in den weichen Umarmungen einer drallen Puttana gefunden. – Piddu, was ist denn? Weinst du wieder?«

Er legte mir schluchzend den Arm um die Schultern. »Consigliere, ich wäre so gern wie du. So gebildet, so klug, so mutig …«

»How many roads must a man walk down«, sang ich mit der heiseren Stimme des Betrunkenen, »before they call him a man. Glaub mir, auch ich bin diese Straßen gegangen. Auch ich habe schwere Zeiten erlebt … Maureen, meine Ex, hat dauernd von einem Isidor Quassi geschwärmt. Quassi sei im Bett ein Hirsch, hat sie behauptet. Ein Hirsch, dennoch zärtlich.«

»Du hast die Frau erwürgt.«

»Natürlich.«

»Salulle!«

Sein Kopf sank schielend auf meinen Schoß. Duft der Blüten, Kühle der Nacht, irgendwann ein Motorrad, fernes Gebell, allmählich verebbend und wieder Stille. Über den Dächern rotierten drei Mondsicheln, eine lunarische Trini

Als hoch oben ein Punkt durch das Nachtmeer fuhr, ein Blinken, ein Zwinkern, ein Satellit oder ein Flugzeug, kehrte auf einmal die Erinnerung an den Unfall zurück. Also doch! Meine Ahnung bestätigte sich. Der verlorene Sohn war nach Hause gerufen worden, er hatte sich Quassis Wagen ausgeliehen, war auf abgefahrenen Sommerreifen ins Fräcktal hochgebrettert und auf der vereisten Brücke über den Stausee mit vollem Karacho gegen das Geländer gekracht. Dann hatte ich, vom Schlag beduselt, rücklings auf der Piste gelegen und mit erstaunten Augen die kosmische Pracht empfangen, genau wie jetzt, im nächtlichen Paradies, das für den armen Esel die Hölle war. Sobald das Drehkreuz nicht mehr knarrte, die Kette nicht mehr quietschte, die kippenden Krüge nicht mehr klackten, würde die Stille Piddu wecken, und wie in seinen bitteren Knabenjahren, als er hier die kalten Winternächte verbracht hatte, würde er seine Steine schmeißen, bis sich der Esel mit seiner Narrenkappe in die Zugstange stemmte. Dann begann es zu tagen, aus der bleichen Hausfassade mit den dunklen Läden wimmerte ein Wecker, eine Toilettenspülung röhrte, eine Amsel sang, und immer noch trottete der Esel um den runden Brunnentrog, verschwand nach hinten, kam nach vorn, verschwand und kam, verschwand und kam, wieder und wieder. Sein Ge