Das Grancaffè Garibaldi lag an der Piazza, gegenüber der Kathedrale und den alten Palästen mit ihrer Kolonnade. Von Zeit zu Zeit flogen die Tauben eine Platzrunde, wie ein riesiger Bumerang am Ausgangsort zur Landung ansetzend, und im gewaltigen Gemäuer der Kathedrale rieselte der Zerfall, der weiterrieseln würde bis zum Jüngsten Tag. Die Frauen schritten sehr stolz, sehr aufrecht über den Platz, und der wahre Inselherrscher, Helios Hyperion, ließ einen Knopf nach dem andern an ihren Blusen aufspringen – es war Sommer geworden. Manchmal herrschte an den weiß gedeckten Tischen vor dem Garibaldi ein reges Palaver, allerdings war mir nicht verborgen geblieben, dass dieses lärm- und redselige Volk die wichtigen Dinge stumm besprach: mit Handzeichen und einem Mienenspiel von vitaler Vielfalt. Sie kräuselten die Stirn, hoben die Augenbrauen, schoben die Unterlippe vor oder zogen den Schnauzstrich in eine Gerade, die mal Verachtung, mal Zustimmung signalisierte. Ihre Augen sah man nie, die waren hinter schwarzen Sonnenbrillen verborgen. Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass mich Don Pasquales Anzug perfekt ins hiesige Männerbild einfügte. Sanken die Zeitungen der Cafégäste, ließ auch ich die Zeitungsfahne sinken und sah wie die Reeder Advokaten Thunfischfabrikanten über den Rand der Brille hinweg den vorbeistöckelnden Schönheiten nach.
Als ich am Sterbebett Don Pasquales gesagt hatte, die Rechnung würde von Dr. Heinrich Übel bezahlt, meinte ich natürlich den Senior, und insofern war mir durchaus bewusst, dass ich meinen neuen Doktortitel nicht ganz zu Recht trug. Aber! Aber ich hatte in Zürich so viele Jahre als fleißiger Gasthörer verbracht, sogar an diversen Fakultäten, selbst an der Theologischen, dass meine Bildung für zwei Dissertationen gereicht hätte. Im übrigen schaut man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul, und war es denn nicht die Alma Mater vitae, die Universität des Lebens, die mich promoviert hatte? Ecco! Da wäre es doch zu lächerlich gewesen, wenn ich erklärt hätte, wer oder was ich nicht sei.
»Noch einen Kaffee, Dutturi?«
Ich brauchte nicht einmal zu nicken.
In der Kunst, ihn zu trinken, war ich schon fast perfekt: zwei Löffelchen Zucker ins Tässchen, dann den Henkel fassen, zu den Göttern aufschauen (noch war das Sonnensegel nicht aufgezogen), das süßbittere Aroma einatmen, ganz und gar zum Gaumen werden, zu einer gespannten Erwartung, und ach, kurz war das Glück, rasch genossen, schon vorbei.
»Noch eine Tasse, Dutturi?«
Dass ich immer noch hier war, hatte einen einfachen Grund. Ich hatte mich verpflichtet gefühlt (und so war es auch von mir erwartet worden), an Don Pasquales Begräbnis teilzunehmen. Bereut hatte ich dies nicht, denn so konnte ich noch einmal das alte Sizilien erleben, in seiner ganzen Pracht und komödiantischen Jenseitsgläubigkeit: die Pferde mit Kokarden geschmückt, die rumpelnde Kutsche ein Blumentraum, der Sarg zwischen Glasscheiben, die Leiche wie Schneewittchen mit roten Lippen und schwarzen Wimpern. Blechmusikanten, opernhaft schluchzende Weiber, Carabinieri mit Dreispitz und Säbel, die Zöglinge des Istituto Don Bosco mit klerikalen Rundhüten, die Freunde der Freunde mit Sonnenbrillen, greise Hirten mit Knotenstock und Flinte und in der Hauptrolle Monsignore Florio, der am offenen Grab, einem Marmortempel, durch sein Megaphon brüllte, drüben sei das wahre Leben – wobei mit Drüben natürlich nicht die afrikanische Küste gemeint war, sondern das Reich der Schatten. Ich hätte gut daran getan, das Abschiedsfest für den alten Paten auch als Abschiedsfest für mich zu verstehen. Dass ich dann noch drei weitere Wochen blieb, geschah Piddu zuliebe. Er hatte mich angefleht, seine ersten Tage als neuer Padrone zu begleiten, in der offiziellen Funktion eines Consigliere, eines Beraters. Anfänglich hatte ich mich gesträubt – die Heimat rief, ich wollte nach Hause, aber als ich ein weiteres Mal aufbrach, um wenigstens ein telefonisches Lebenszeichen von mir zu geben, wurde ich an der Rezeption wiederum abgefangen und von Ambra und Giucy in die Biblioteca geführt. Hier saß, die Sonnenbrille im gelockten Haar, Don Piddu. Im Kamin lag ein Haufen Rechnungen. Er fachte ein Zündholz an, hielt es mir hin. Viel Zeit zu überlegen hatte ich nicht. Bevor ich mir die Finger verbrannte, warf ich das Zündholz auf den Haufen. Er fing Feuer, meine Schulden wurden zu Asche.
»Drei Wochen«, sagte ich, »kann ich noch bleiben.« Und küsste ihm den Ring, den bisher Don Pasquale getragen hatte.
Unser erster öffentlicher Auftritt – Piddu als neuer Pate, ich als sein Consigliere, der Friseur als unser Soldat – war die Hochzeit einer Cousine Salgàri mit einem italienischen Parlamentsabgeordneten.
Nach dem feierlichen Hochamt, wiederum zelebriert von Monsignore Florio, tafelte die ganze Gesellschaft am Meer, an einer langen üppigen Tafel. Wie auf Sizilien üblich, wurde mit Lust geschmaust, und bei all den Reden und der fröhlichen Musik hatte niemand bemerkt, dass die uralte Tante Giulia schon seit längerem schwieg. Als man ihr den Fisch servierte, kippte sie ein wenig zur Seite, und etwas später – man war bereits beim Secondo Piatto – schrie ein Kind: Tante Giulia, warum vertreibst du die Fliegen nicht? – Herzschlag. Aber sollte man deswegen die Tafel aufheben, die Feier abbrechen, auf den Tanz verzichten, die Braut erschrecken? Piddu wusste eine bessere Lösung. Er erteilte den Soldaten den Befehl, der Leiche ein Tuch übers Haupt zu legen, wie über einen Käfig, wenn das Vögelchen schlafen soll, und so konnte das Mahl ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Fröhlich tanzte man die Tarantella, und unter ihrem Tüll, obgleich etwas fahl und von immer mehr Fliegen heimgesucht, gab Tante Giulia mit einem seligen Lächeln kund, dass sie ihre Bedenken gegen den Bräutigam zurückgenommen hatte. Als im Westen die Sonne versank, bestieg das glückliche Brautpaar eine Limousine mit getönten Scheiben und schaukelte zwischen den Dünen davon. Alle winkten, die Herren mit ihren Servietten, die Damen mit Taschentüchern, die Kinder mit Papierschlangen, auguri, auguri! Einzig Tante Giulia blieb sitzen, vor sich eine geschälte Orange, ein Tässchen Kaffee und ein Gläschen von jenem Likör, an dem sie zeitlebens gern genippt hatte.
Als Monsignore Florio, der Friseur, die schwarze Köchin, die Seekapitäne und ich das Hochzeitsfest in der anhebenden Nacht mit Zigarre und Grappa verklingen ließen, gab ich bekannt, dass ich am Ende des Monats abreisen würde, zurück in die Heimat, und diesmal war ich sicher: Ich würde es schaffen. Diesmal käme ich von der Insel weg. Ich kehrte heim zum Vater.
Erst war sie nur ein Punkt, ein rötlicher Knopf im blauen Meer. Dann näherte sich die Schwimmerin dem Ufer und entstieg mit ihren Kupferhaaren nackt den schäumenden Wellen. Nur ein Glitzern kleidete sie, und wie eine Schleppe folgte ihr eine dünne Tropfenspur über den Strand, die Düne hoch, in den Himmel hinein …, aber nur Sekunden später tauchte sie wieder auf, direkt vor mir und jetzt in ein Badetuch gehüllt, und lächelte scheu. War sonst noch jemand am Strand?
Nein, sie meinte mich, wir waren allein, allein im Licht –
»No italiano«, sagte sie, »deutsch!«
Und lächelte wieder.
Lächelte mich an.
Mich lächelte sie an.
»Auf Sizilien«, sagte ich, »hat Empedokles den Seelenwandel verkündet, Platon die Wirklichkeit der Ideen gelehrt, Goethe die Urpflanze gesucht, Pirandello Komödien geschrieben.«
Sie war offensichtlich froh, dass ich ihre Sprache beherrschte, und beeindruckt von meinem Wissen.
»Man hätte Sie noch ein paar Tage im Krankenhaus behalten müssen«, sagte sie und blickte ängstlich auf meine Schläfe.
»Ich war nicht im Krankenhaus.«
»Nein?«
»Ein Friseur hat mich verarztet.«
»Es geht bei euch im Westen weit schlimmer zu, als sie es uns beigebracht haben. Eine medizinische Versorgung durch Friseure, nein, wirklich, so etwas lässt sich nur der Kapitalismus einfallen. Bei uns wären Sie in einer Poliklinik versorgt worden. Hat er Sie wenigstens desinfiziert?«
»Wer?«
»Der Friseur.«
»Keine Ahnung … Hungrig von langer Seefahrt«, nahm ich den Faden wieder auf, »machten sich Odysseus und seine Gefährten über den Pecorino her. Wollten fressen und wurden dann gefressen. Vom Riesen Polyphem. Aber Odysseus wird ja der Listenreiche genannt, auch Odysseus facundus, der geschickte Unterhalter. Er hat dem Polyphem das einzige Auge ausgestochen.«
»Ach du grüne Nudel!«
»Mit einem glühenden Pfahl. Die grausame Episode ist die Kernszene der sizilianischen Literatur, vor allem der Commedia.«
Allmählich gewann ich an Sicherheit – und machte das einzig Richtige, Bildung zog bei Frauen immer.
»Die sizilianische Commedia handelt von der Blendung, respektive der Verblendung. Beispiel: Ein alter Esel verliebt sich in eine junge Schöne und bildet sich ein, seine Liebe würde erwidert. Sizilianer haben etwas Naives, müssen Sie wissen. Die finden ihre einfach gestrickten Schwänke lustig und glauben an den Weiterwandel der Seele in diversen Gestalten, als Strauch, Stern, Philosoph, junges Mädchen oder Thunfisch.«
»Ist nicht wahr!«
»Doch doch.«
»Glauben Sie das auch?«
»Nein. Ich bin ja nicht verrückt.«
»Ich glaube an den Sozialismus«, sagte die Frau. »Ich glaube daran, dass in der klassenlosen Gesellschaft alle Menschen glücklich werden, auch ein armer Kerl wie du.«
Voller Mitleid sah sie mich an. Ich hielt ihr meine Zigaretten hin. Sie nahm sich eine. Ich gab ihr Feuer. Wir rauchten. Mir war klar, jetzt sollte ich ihr meinen Namen sagen, aber wer stellte sich schon gern als Übel vor … weg.
Sie war weg! Ich stürzte ihr nach, und tatsächlich, auf der nächsten Kuppe war noch vor kurzem jemand gewesen. Vier Vertiefungen steckten im Sand ein unberührtes Quadrat ab – als habe hier ein Sessel gestanden. Ein Sessel? Dass sich irgendeine durchgeknallte Principessa ihren Sessel von der Dienerschaft durch die Pampa hinterhertragen und auf dieser Düne unter ihr Derrière schieben ließ, hielt ich für ausgeschlossen, so verrückt waren nicht einmal die sizilianischen Komödianten. Was hatte hier gestanden? Ein quadratischer Ballonkorb mit vier Füßen? Oder ein kleines, vierstelziges Raumschiff? Um die Quadratfläche herum wimmelte es von Abdrücken. Die Sohlen porös. Auffällig porös. Mindere Gummiware. Kein Zweifel, diese Abdrücke stammten von Bata-Sandalen aus der ČSSR. Ein billiges Massenprodukt. Als es damals auf den Westmarkt kam, hatte es die Preise derart unterboten, dass man im Fräcktal auf einer riesigen Halde unverkäuflicher Gummilatschen sitzengeblieben war. Zwar hatte ich die Bata-Katastrophe nicht mehr im Werk erlebt, aber dass diese Ost-Sandale die erste große Niederlage der westlichen Gummibranche war – noch vor dem Pillen-Waterloo! – hatte man auch in Zürich mitbekommen.
Über meinem Nacken krächzten Möwen, und ich ertappte mich dabei, wie ich den Himmel absuchte – entschwebte sie gerade in einem Ballon, die Kupferrothaarige? Oder düste sie in einem Ufo zu ihrem Heimatstern zurück? Da! Als wäre sie tatsächlich einem Raumschiff entstiegen, trug sie plötzlich eine Uniform: eine blaue Bluse und einen weißen Plisseerock. Weiß waren auch die Plasticstiefel (keine Bata-Sandalen!), und die Mütze hatte sie keck auf das noch feuchte, rötlichdunkle Haar gesetzt, ebenfalls blau, wie ein Schiffchen. Also doch: eine Halluzination? Ich schloss die Augen, zählte bis sieben, sie war immer noch da. In Uniform. Kam sie vielleicht aus dem Norden? Eine Dänin? Eine Baltin? Nein, überlegte ich fieberhaft, eher eine Russin aus jenem Landozean, wo die Ackerfurchen im Unendlichen verrannen. Sie hatte hohe Wangenknochen, und ihre grauen, etwas katzenhaften Augen musterten mich neugierig … Pol! Eine Polin!
Ich riskierte es: »Heißen Sie Laila?«
»Vielleicht sollten wir in den Schatten gehen«, sagte sie freundlich und führte mich zu der Cabanna am Fuß der Dünen, wo sie ihre Uniform angezogen hatte. »Von der Partei?«
»Wie bitte?«
»Dein Deutsch, Genosse.«
»Wie kommen Sie denn auf die Idee!«
»Für einen Sizilianer ist es ziemlich gut.«
Wir setzten uns auf die schmale Veranda der nach frischer Farbe riechenden Cabanna. Die hohe Sonne versilberte das Meer; der weite leere Strand sah aus wie Schnee; in den Dünen tosten die Grillen.
»War’s ein Autounfall?«
»Ja«, gestand ich verdutzt. »Im letzten Winter. Auf einer Brücke. Sehen Sie mir das an?«
Sie reichte mir eine Blechflasche, aus der ich gierig trank.
»Ich bin eigentlich schon unterwegs«, sprudelte ich zwischen den Schlucken hervor. »Auf der Heimreise. Habe bereits das Ticket. Aber die Fähre legt erst am Abend ab, kurz nach Sieben. Ins Hotel wollte ich nicht zurück, also habe ich in der Hafenbar meine Reisetasche abgestellt und mich auf einen kleinen Spaziergang gemacht. Irgendwo hier am Strand haben sie mich seinerzeit aufgelesen – da wollte ich noch mal hin. Zum Abschied.«
Als ich ihr die Flasche zurückgab, fiel mein Blick auf eine eingestanzte Beschriftung, die mich restlos aus meinem Koordinatensystem warf. »VEB Funkwerke Berlin-Köpenick« stand auf einem Schildchen, und das war so real wie die Flasche.
Sie nahm ebenfalls einen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab und fragte: »Weißt du, was ein Aktivist ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie sah mich erwartungsvoll an. »Ich bin einer, sagte sie stolz, »sogar ein dreifacher.«
»Dreifacher was?«
»Aktivist, mehrmals ausgezeichnet. Meine Verdienste hängen am Werkseingang, mit Farbfoto im Schaukasten. Das ist in den Betrieben so üblich, auch bei uns, im VEB Funkwerke Berlin-Köpenick. Der Parteisekretär des Betriebs, der Genosse Kress, hat mich für diesen Auslandseinsatz empfohlen. Bei unserer Planung muss es manchmal sehr schnell gehen, rucki-zucki, deshalb lernen wir schon bei den Jungen Pionieren, später auch im Betrieb, zugunsten des sozialistischen Fortschritts zu improvisieren. Am Mittwoch hat der erste Kontakt mit dem Genossen Delegationsleiter stattgefunden, ein gegenseitiges Beschnuppern, natürlich im Beisein vom Genossen Parteisekretär Kress, und schon am nächsten Tag, am Donnerstag, trifft der Einsatzbefehl ein. Schon am nächsten Tag!«, rief sie lachend, »kannst du dir das vorstellen? Vom Kulturabend der FDJ direkt an die Front! Oh, das ist mir jetzt rausgerutscht. Behalt’s für dich. Ist geheim.«
Isidor Quassi hatte mich zwei oder drei Mal zur Sitzung einer K-Gruppe mitgenommen, die im Keller der Zürichberg-Villa eines revolutionären Studenten ihre Versammlungen abhielt, Resolutionen gegen den US-Imperialismus verfasste und zu Schulungszwecken Filme zeigte: Rotarmisten im Stechschritt, winkende Traktoristen, singende Matrosen sowie reihenweise Mädchen mit Kopftüchern, die wogende Getreidefelder absichelten, alle jung, alle stramm, voller Zuversicht und Zukunft, unterlegt mit schwermütiger Musik.
Jetzt fragte ich höflich, ob ich noch einen Schluck nehmen dürfe, setzte die Flasche an, schloss die Augen, und als ich sie wieder öffnete, war die Komsomolzin keineswegs, wie ich insgeheim erwartet hatte, verschwunden.
»Unsere Republik ist der erste Friedensstaat auf deutschem Boden«, jubelte sie. »Entwicklungsbedingt haben wir noch mit kleinen Mängeln zu kämpfen, aber die Klassiker lehren uns, dass es aufwärts geht.«
»Was für Klassiker …«
»Marx, Engels, Lenin! Sie haben wissenschaftlich bewiesen, dass dem internationalen Sozialismus die Zukunft gehört. Dafür steht auch die Jahrhundert-Erfindung unserer Genossen vom VEB Funkwerke. Trink noch einen Schluck!«
Ich gehorchte. Ich blinzelte. Dann besann ich mich auf meinen neuen Status, den Dutturi, und fragte sie gefasst, sogar leicht von oben herab, was für eine »Jahrhundert-Erfindung« sie meine.
»Ein neuartiges Telefoniesystem. Drahtlos. Ohne Leitungen. In Moçambique und Mexico hat sich das System bereits bewährt, in beiden Ländern haben wir für den Sozialismus einen wichtigen Sieg errungen.«
»In Mexico?«
»Und Moçambique. Ihr im Westen seid so rückständig, dass es kracht. Ein historisch überholter Feudaladel beutet euch aus, und der durchschnittliche Campesino ist derart arm, dass er die Telefonleitungen als Zäune für die hungernden Herden zweckentfremdet.«
»Was für Telefonleitungen?!«
»Mann, bist du schwer von Kapee! Gemeinsam mit den Genossen unserer Delegation erfülle ich den Auftrag, euch unser System zu verkaufen.«
»Den Sozialismus«, sagte ich dumpf.
»Nein, das bahnbrechend neue Telefoniesystem!«
»Entschuldigen Sie, aber was hat der Sozialismus mit dem Telefonieren zu tun?«
»Die Delegation für ökonomische Sondermaßnahmen zwecks Devisenbeschaffung«, zwang sie sich zur Geduld, »wurde in den Westen gesandt, um die Erfindung der Genossen der Forschungsabteilung des VEB Funkwerke Berlin-Köpenick nach Moçambique und Mexico jetzt auch bei euch auf den Markt zu bringen. Das hab ich dir eben erklärt, Genosse, du musst lernen, besser aufzupassen. Meine Aufgabe ist es, das Interesse für unser Erzeugnis zu wecken.«
»Für Telefonleitungen …?«
»Nein, eben nicht!«, rief sie verzweifelt. »Keine Leitungen!«
»Keine?«
»Das System ist drahtlos.«
»Drahtlos?«
»Ja«, jubelte sie wieder und klatschte in die Hände, »eine absolute Neuheit! Mit unserem Telefoniesystem könnt ihr Sizilianos fröhlich durch die Gegend spazieren und euch von jedem beliebigen Punkt aus in bestehende Netze einschalten.«
»Über Funk.«
»Nein, nicht über Funk. Es ist ein normales Telefon.«
»Das geht doch nicht!«
»Im Sozialismus schon«, dozierte sie. »Wenn ihr schlau seid, partizipiert ihr an unserem Fortschritt. Schau dir nur den leeren Strand an! Bei uns an der Ostsee stehen überall Ferienwohnheime für Werktätige. Vorhin war ich im Meer. Als einzige!«
Sie griff in ihr Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Knoten geschlungen hatte. Es war immer noch etwas feucht – und mich beschlich das Gefühl, dieses Mädchen schon einmal gesehen zu haben, vielleicht nicht in der Realität, aber in einem Film, auf einem Bild, in einem Traum oder auf meiner Reise nach Sizilien, die immer noch in der Gedächtniskapsel steckte.
»Trink aus«, befahl sie und hielt mir die Flasche an die brandigen Lippen, als wäre ich zu krank oder zu kaputt, um sie selbst zu halten. »Das Meer hat mindestens fünfzehn Grad. Wieso niemand reingeht, ist mir ein Rätsel.«
Ich versuchte es noch mal: »Sie gehören also zu einer Delegation …«
»Mann, brauchst du’s schriftlich? Wir sind hier, um euch den sozialistischen Fortschritt zu bringen. Eine ökonomische Sondermaßnahme …«
»Zwecks Devisenbeschaffung, das hab ich verstanden. Wo sind denn die übrigen Mitglieder dieser äh … Delegation?«
»Hinter den Dünen. Aufgrund des fehlerhaften Kartenmaterials – bei euch stimmt ja nichts – haben wir uns verlaufen. Der Genosse Delegationsleiter hat eine Ruhepause angeordnet.«
Es war heiß; die Steine schienen zu schmelzen; am Horizont klebten Frachter. Linkerhand ragte das Kap in die versilberte Bläue hinaus, und im Westen zitterte der Stadtfelsen in der Nachmittagshitze.
»Vor mir hat die Valerie Miske den Job gemacht«, erklärte sie. »In Moçambique lief alles gut, aber in Mexico kam es dann zu Problemen.« Leise sagte sie: »Sie hat sich abgesetzt, die Miske, dieses Luder. Republikflucht! Jetzt tut es ihr bestimmt leid. Jetzt muss sie im Westen bleiben, die dumme Kuh.«
»Nun ja, gar so schrecklich, wie Sie denken …«
»Nicht schrecklich?« Sie sah mich entrüstet an. Dann berührte sie mit dem Zeigefinger meine Narbe. »Tut das weh?«
»Nein nein. Der Friseur und die Köchin …«
»Was für eine Köchin?!«
»Sie hat mir das Fieber weggetrommelt.«
»Ick glob, meen Schwein pfeift«, rief sie aus. »Der Kapitalismus steckt tatsächlich in der vom Genossen Parteisekretär Kress dargestellten Fäulnisphase.« Sie sprang auf, sah kurz hinter die Cabanna. »Hast du noch ne Fluppe für mich?«
Ich bot ihr eine an, war jedoch außerstande, ihr Feuer zu geben, zu heftig zitterte die Hand. Eine größere Welle donnerte heran, schlug auf, verflachte in der milchigen Gischt, zog sich im rollenden Kies zurück.
»Westzigaretten!«, sagte sie versonnen, fügte jedoch rasch hinzu, sie wolle lieber nicht wissen, wie die armen sizilianischen Campesinos bei der Tabakernte ausgebeutet würden.
»Ihr habt doch auch Zigaretten«, wagte ich scheu zu bemerken.
»Natürlich. Bessere als ihr. Aber unsere Erntearbeiter leisten einen freiwilligen Beitrag zum Werden und Wachsen der sozialistischen Gemeinschaft. Unsere Erntearbeiter repräsentieren die herrschende Klasse. Wie sollen sie da Ausgebeutete sein?«
Sie lächelte mich von der Seite an, ich sah die leicht offenen Lippen, und diese Lippen … mein Gott, meine Platte war feucht geworden wie eine Hundeschnauze!
»Hörst du mir überhaupt zu, Genosse?«
»Ja. Nein. Verzeihung …«
Und während sie wie ein Sprechautomat weiter ihr Loblied auf den Sozialismus abspulte, begriff ich immerhin, dass sie mit Berlin das östliche Berlin meinte, die Hauptstadt der DDR. Von diesem Land hinterm Eisernen Vorhang kannte ich höchstens Klischees aus düsteren Agentenfilmen: leere Schaufenster, graue Straßen, schmutzige Schneeflecken, rote Bänder mit Parteiparolen und Gaslaternen, in deren Licht die wenigen Passanten schräge Schatten über die vom Krieg beschädigten Fassaden warfen – das Sparta der Neuzeit. Diese Aktivistin jedoch schien ihre Staatskaserne als Paradies zu empfinden und hörte nicht auf, von ihrer Tanzgruppe im »Haus der Jungen Talente« zu schwärmen, besonders vom Genossen Tanzgruppenleiter, den sie zärtlich »unser Matthias« nannte. Dabei schien es sich um einen überzeugten Kommunisten zu handeln, der sich offensichtlich nicht nur beim freiwilligen Ernteeinsatz und als Arrangeur von Tanznummern hervortat. Man konnte sich vorstellen, was nach den Proben abging. Denn so fremd sie mir war, ihren Typus glaubte ich zu kennen – aus der Gummifabrik. Dort hatte es in meiner Lehrlingszeit von solchen Mädchen gewimmelt, und hatte man zufällig beobachtet, wie sie nach Arbeitsschluss ihre Hintern auf die Velosättel schwangen, war man im Bild. Flittchen! Ich würde mich von denen nie mehr demütigen, nie mehr erniedrigen lassen. Eifersucht, das war einmal. Vergangen vergessen vorbei. Künftig sollte das Leben an mir vorüberfließen, ich würde es aus sicherer Distanz beobachten …
»Ich habe unserm Matthias versprochen«, beendete sie ihren Bericht, »dass ich die vorgeschriebenen Trainingseinheiten auch im ökonomischen Sondereinsatz einhalte. Willst du zuschauen? Zwei Einheiten muss ich noch abtanzen.«
»Ich würde gern bleiben, wirklich … Aber ich darf unter keinen Umständen die Fähre verpassen. Vielen Dank.«
»Wofür?«
»Für das Wasser.«
»Gern geschehen«, rief sie und begann zu tanzen. In der Bläue kapriolten Lerchen, und ich hatte den Eindruck, eine nach der anderen würde herabsegeln und sich auf ihre ausgestreckten, sanft balancierenden Arme setzen. Die Uniform war ihr Tanzkostüm. Sie trainierte für den nächsten Auftritt, ging jetzt in die Hocke und drehte sich, die Hacken in den Sand schlagend, schnell und immer schneller im Kreis – bis sie hinfiel. Und mit leicht gespreizten Beinen auf der Düne saß, lachend.
»Ich bin hingefallen.«
»Ich fand Sie gut.«
»Unser Matthias wäre anderer Meinung.«
»Ja«, sagte ich. Und dann noch einmal: »Ja.«
»Ja«, sagte sie.
Ja, und dann machte ich einen Fehler. O, es war kein großer Fehler, nur ein kleiner, aber hinterher hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Ich gestand ihr, früher einen ähnlichen Job gehabt zu haben wie sie: »Ich bin in der Reklameabteilung einer Gummifabrik tätig gewesen. Meine Aufgabe war es, den jährlich erscheinenden Katalog zu textieren, die ganze Palette des menschlichen Daseins, vom Schnuller bis zur Wohlfühlhose …«
»Wohlfühlhose?!«
»Ja, Wohlfühlhose.«
»Ihr seid ja völlig bescheuert. Wohlfühlhose! Glaub mir, so ein Quark fällt nur einem kranken kapitalistischen Hirn ein. Hast du den Ausdruck erfunden?«
»Ich? Wohlfühlhose? Nein nein, was denken Sie!« Ich schluckte. »Der Begriff ist in unsrer Branche geläufig, auch im englischsprachigen Raum. Wir haben damals festgestellt, dass Inkontinente am Telefon ungern eine Gummihose bestellen.
»Du bist feucht.«
»Wie … wo …«
»Auf deiner Platte!«
»Feucht?«
»Ja«, sagte sie kichernd. »Lusttröpfchen!«
»Lu…«, ich riss mir das Foulard vom Hals und wischte damit den Kahlschädel ab. Dann zog ich den Hut so tief über die Ohren, dass sie seitwärts abknickten.
»Im Sozialismus haben wir die Sexualität naturwissenschaftlich geklärt«, fuhr sie ungerührt fort, »und die Moral durch Hygiene ersetzt. Gummis, weißt du, waren bei uns nie besonders beliebt. In der erfolgreichen sozialistischen Produktion sind wir über diese Materie sowieso hinaus. Im Funkwerk verwenden wir die Erzeugnisse der Genossen aus dem VEB Plaste und Elaste. Manchmal trifft man sich zu Gemeinschaftsabenden, oder wir begleiten die Brigade aus Schkopau in eine lehrreiche Brecht-Aufführung. Wohlfühlhose! Ich fass es nicht! So ne Gummihose zwickt doch!«
»Ein bisschen vielleicht.«
»Na bitte! Wohlfühlhose! Dass das eine Lüge ist, würde bei uns der Dümmste merken. Im Sozialismus, Genosse, haben wir uns der Wahrheit verschrieben. Dazu gehört, dass wir kleine Mängel offen ansprechen. Sie sind, soweit noch vorhanden, an die historische Stufe gebunden und sollen gemeinsam mit der Partei und den ihr verbundenen Massenorganisationen überwunden werden. Euer System hat mehrere Jahrhunderte Zeit gehabt, um sich zu entwickeln und imperialistisch durchzusetzen, aber jetzt sind wir an der Reihe! Im Bereich der Telefonie werden wir euch endgültig abhängen, das heißt, in eurer End- und Fäulnisphase zurücklassen … Huhu, Genosse Delegationsleiter!«, rief sie einem Mann zu, der wie ein Stoßtruppführer im Grabenkrieg von der Macchia her die Düne eroberte. Als würde er zum Angriff winken, fuchtelte er mit dem Arm, worauf eine Verbindung von Mensch und Möbel zum Vorschein kam. Auf der Düne angelangt, wälzte der Mensch das Möbel vom Buckel, und nun stand dort oben ein Ohrensessel. Jawohl: ein Ohrensessel. Ein Ohrensessel aus einem bürgerlichen Wohnzimmer stand mitten im wogenden Strandhafer unter dem blauen Himmel. Die beiden Genossen, der Stoßtruppführer und der Sesselschlepper trugen Bata-Sandalen – schwarze Lederjoppen, kurze Hosen und Bata-Sandalen! Der Sesselschlepper plumpste in den Sand; der Delegationsleiter nahm Platz, richtete den Feldstecher zum Horizont und trommelte mit den Fingern auf die Armlehnen. Auf einmal klingelte es.
»Es klingelt«, sagte ich.
»Natürlich«, rief die Schöne, »der Ohrensessel ist ein Telefon.«
Ich schloss für einen Moment die Augen. Ich zählte bis Sieben. Ruhig bleiben. Durchatmen. »Was haben Sie gesagt?«
»Dass ihr keine Chance habt, ihr im Westen. Dass wir im Bereich der drahtlosen Telefonie den Markt in der spätkapitalistischen Hemisphäre erobern werden.«
»Drahtlos.«
»Ja«, sagte sie, »drahtlos.«
»Und das Möbel dort ist kein Ohrensessel …«
»Selbstverständlich ist der Ohrensessel ein Ohrensessel! Was soll das denn sonst sein?«
»Nein nein, der Sessel ist ein Sessel, das kann ich schon erkennen …«
»Aber du hörst schlecht, vermutlich von deinem Unfall. Hast du kein Hörgerät?« Ihr Kopf kippte nach links, nach rechts. »Bei euch herrscht natürlich Batterienmangel. Da hat es keinen Sinn, die Dinger einzustöpseln.«
»Ja, das heißt, nein …«
»In der Volkstanzgruppe haben wir eine, die praktisch taub ist, Nancy Trampe. Die Trampe ist mit unseren technisch ausgereiften Hörhilfen ausgerüstet und besitzt einen Sonderausweis, der ihr bei entwicklungsbedingten Versorgungsengpässen den Bezug von Batterien erleichtert. Ach du grüne Nudel! Dass ihr dermaßen auf dem Hund seid, hätte ich denn doch nicht gedacht! Wohlfühlhose! Und keine Hörgeräte trotz Taubheit.«
»Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht …«
»Nicht schlimm? Die Ausbeuter haben dir das Gehör gestohlen, und du findest es nicht schlimm?«
In ihre Augen traten Tränen, ihre Finger berührten meine Ohren, und sollte der Kapitalismus je einen Sinn gehabt haben, dann in dieser Weltsekunde, da er der schönen Aktivistin Anlass gab, mich als dessen Opfer zu beweinen und meine Ohren zu berühren.
Auf der Düne meldete der Stoßtruppführer in den schwarzen Telefonhörer, den er der Armlehne des Sessels entnommen hatte: »Kupferschmidt, Delegation für ökonomische Sondermaßnahmen! Südküste Siziliens, nahe Pollazzu, am Afrikanischen Meer! 16 Uhr 57 Ortszeit!«
Der Rest der Meldung wurde von heranrollenden Wogen überdonnert, doch konnte ich deutlich sehen, wie er das Gespräch nach einigen Sätzen beendete und den Telefonhörer wieder in der hochgeklappten Armlehne des Sessels verstaute.
»Habe begriffen«, stotterte ich lachend, »mit dem Ohrensessel kann man telefonieren.«
»Ja«, schrie sie in meine vermeintlich tauben Ohren, »unser Telefoniesystem ist weltweit einzigartig und wird das Wesen der Kommunikation vollständig verändern!«
»Sozialistischer Fortschritt«, erklärte der Genosse Delegationsleiter, dem der vertraute Umgang seiner Genossin mit dem Fremden zu missfallen schien. »Möglichkeit, sich in jedes normale Telefonnetz einzuwählen. Teilnehmerstation garantiert internationale Verbindung. Weltsensation!«
»Drahtlos«, sagte ich.
Sie, die Hände vor dem Mund zum Trichter geformt: »Ja, drahtlos! Siehst du irgendwo Leitungen? Er kann ein bisschen deutsch«, wandte sie sich an den Delegationsleiter, »hat aber Probleme mit dem Hören, Folge eines Autounfalls.«
»Haben uns in der Pampa verlaufen«, brüllte der Delegationsleiter. »Untaugliches Kartenmaterial. Skandalöse Zustände.«
»End- und Fäulnisphase«, ergänzte die Aktivistin.
»Wo soll’s denn hingehen, Herr Oberst?«, wollte ich wissen.
»Genosse Oberst«, korrigierte er mich. »Nach Pollazzu! Wichtiger Geschäftstermin. Dringend.«
»Immer am Meer entlang. Dann kommen Sie direkt zum Hafen.«
»Genosse Peschke«, befahl der Oberst, »Zielrichtung Hafen! Aufladen! Abmarsch!«
»Im Schulterschluss mit dem friedliebenden sowjetischen Brudervolk wollen wir den Prozess des sozialistischen Wachsens und Werdens weiterführen«, knurrte der Sesselschlepper, lud sich den Ohrensessel auf den Rücken und stand dann in gebückter Stellung parat, geduldig wie ein Esel. Delegationsleiter Kupferschmidt hingegen ärgerte sich über seine Genossin, die beim Umziehen ein sozialistisches Liedlein trällerte, aus dem Spanischen Bürgerkrieg: »Halt stand, rotes Madrid!« Schließlich erklärte er genervt, die vom VEB Möbelwerke Gera produzierten Ohrensessel hätte man in den neuen Plattenbauten durch keine Tür gekriegt, nicht einmal dann, wenn man die Holzfüße abgesägt hätte. Also habe man die gepolsterten Ungetüme anderweitig verarbeiten müssen, und nach langen Diskussionen sei auf Funktionärsebene entschieden worden, das Telefoniesystem, für das man noch keine Fassung gehabt habe, in die überflüssigen Ohrensessel einzubauen.
Als Ehemaliger der Gummifabrik konnte ich seinen Unwillen nachvollziehen. Nicht immer war richtig, was oben angeordnet wurde, und auf einmal fiel mir ein, dass mir die Gute am Telefon gesagt hatte, der Senior habe die seinerzeit von mir textierten Gummimatten aus dem Lager holen und erneut in seinem Büro verlegen lassen. Ach ja, unser Lager! Ein betrübliches Abbild der geschäftlichen Entwicklung, war es in der vergangenen Dekade immer voller geworden: tonnenweise Dr. Übels Verhüterli mit abgelaufenem Datum; ganze Halden von Dr. Übels Gummisandalen, verdrängt durch den östlichen Preisbrecher; faltbare Gummibadewannen (für bessere Herren), rote Gummi-Corselets (für vollschlanke Frauen), graue Gummimäntel (für Polizisten im Einsatz) sowie Hunderte von »Erikas«, ein in den fünfziger Jahren produziertes, an der Eiform orientiertes Kinderwagenmodell. Ihr aufklappbares Regendach, die Plane, die Räder sowie die Karosserie waren entweder gummiert oder ganz aus Gummi, was im anbrechenden Plastozän zu einem Verkaufsflop geführt hatte – die moderne Mutter wollte ihr Baby lieber in einem Plasticgehäuse herumfahren und hatte unsere Erika boykottiert. Klar, die moderne Mutter würde nicht im Traum daran denken, einen plüschigen Ohrensessel als Telefon zu benutzen, für die permanente Kommunikation jedoch wäre sie sicher zu haben – wenn sie das System in einer Erika vor sich herschieben könnte! Ich fand meine Idee ziemlich gut und holte schon Luft, um mich dem Genossen Delegationsleiter als Übel vorzustellen, Unternehmersohn, Erbe einer Fabrik mit freien Kapazitäten, aber da trat die Schöne heraus, immer noch ihr »Halt stand, rotes Madrid!« auf den Lippen. Sie trug jetzt wie die beiden Genossen eine schwarze Lederjoppe, ein weißes Sommerhütchen und grässliche Bata-Latschen mit bedecktem Spann und verstellbarer Schnallenbindung. Die weißen Stiefel und ihre Uniform hatte sie in der Sporttasche verstaut, das gerollte Badetuch klemmte sie unter die Achsel.
»Ihr Kapitalisten werft uns immer gleich die Mauer vor«, rief sie mir zu, »und verkennt dabei völlig, dass sie eine nötige Entwicklungsstufe im sozialistischen Fortschrittsprozess darstellt. Sobald unsere Republik kein Baby mehr ist, wird sie ohne Laufgitter auskommen! Mach’s gut, Siziliano!«
»Im Schulterschluss mit dem friedliebenden sowjetischen Brudervolk«, knurrte der Sesselschlepper unterm Sessel hervor, »wollen wir den Prozess des sozialistischen Wachsens und Werdens weiterführen.«
Offenbar war dies sein einziger Satz, doch schien er stets zu passen. Die Delegation entfernte sich am Meer entlang, der Genosse Oberst voran, an seiner Seite die Schöne, dahinter der Ohrensessel, die Rückenlehne nach unten gedreht, so dass er wie ein aufrechter Riesenkäfer mit gelblichem Rückenpanzer auf zwei stark behaarten Waden durch die Wellenzungen davonwatschelte. Da meine Fähre erst in zwei Stunden ablegen würde, erstieg ich die höchste Düne, um ihnen nachzuschauen. Ich hatte die Begegnung mit der Delegation nicht geträumt, die vier Vertiefungen im Sand zu meinen Füßen bezeugten, dass hier der Ohrensessel gestanden hatte … der Ohrensessel, der ein Telefon war. Auch ein paar Abdrücke von Bata-Sandalen waren im rieselnden Sand noch zu erkennen, und unten, vor der Cabanna, fand ich ein paar Kippen … Kippen von Zigaretten, die ich mit Laila geraucht hatte … Laila? Nein, das war nicht Laila, aber dennoch hatte ich das sonderbare Gefühl, die Frau mit den kupferroten Haaren, den leicht schlitzigen Augen (Katzenaugen!) und den hohen Wangenknochen von irgendwoher zu kennen. Die Stapfen der Bata-Sandalen bildeten im feuchten, von den Wellen geplätteten Meersaum eine Fährte, die von der Gischt allmählich gelöscht wurde. In der Macchia tosten die Grillen. Hoch über der Brandung segelten Möwen mit starren, plötzlich zuckenden Flügelspitzen, Schatten im Licht.
Ich verpasste die Fähre – mit voller Absicht. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, Pollazzu zu verlassen, ohne die Schöne noch einmal gesehen zu haben. In der Villa Vittoria war die Nummer 43 zum Glück noch frei, und auch im Speisesaal bekam ich am Abend den alten Platz wieder, meinen Einzeltisch zwischen den graubärtigen Seekapitänen.
Nach der Cena, da ich mit ihnen eine Zigarre rauchte, nahm mich einer der beiden zur Seite und flüsterte: »Dutturi, sind Sie Piddus wegen zurückgekommen? Der arme Junge ist in einem fürchterlichen Zustand.«
»Du lieber Himmel, was ist passiert?«
»Eine klassische Regression«, meinte der andere. »Vermutlich ist er dem schweren Amt, das ihm sein Onkel hinterlassen hat, nicht gewachsen. Er ist wieder zum Jungen geworden, der den Brunnenesel antreibt.«
Ich eilte durch die langen, teilweise noch winterfeuchten Gänge zum hintersten Hof, wo ich, hinter dem haarigen Stamm einer Palme versteckt, erst einmal die Lage überblicken wollte. Der psychologisierende Seekapitän hatte recht. Das war nicht mehr der junge Pate, sondern ein Häufchen Elend, das reglos in die Flammen eines kleinen Feuers starrte. Nach dem Tod von Don Pasquale hatte mir Piddu erzählt, wie eisenhart er erzogen worden war – sein Onkel hatte ihn gezwungen, hier im Hof die Nächte zu verbringen, sommers wie winters. Um den Ziehbrunnen trottete ein alter Esel und sorgte dafür, dass aus einem tiefen, jahrhundertealten Schacht das Wasser hochgeschafft wurde. Natürlich hätte man sich eine Motorpumpe leisten können, aber für Don Pasquale und die älteren Insulaner war der Rundumlauf des Esels ein Symbol, das auf das Geheimnis der Schöpfung verwies, auf das große Kreisen der Sterne und der Zeit. Wir Menschen, soll er Piddu gelehrt haben, sind wie Tage und Nächte, wie der Frühling und der Herbst, wir kommen und gehen, gehen und kommen. Aber das störrische Tier pflegte öfter stehen zu bleiben, und es war der höllische Job des Knaben gewesen, ihn mit Tritten und Steinen am Laufen zu halten. Ich trat aus dem Dunkel.
»Consigliere«, schrie Piddu verzweifelt, »ich habe mich verliebt!«
»Wer …«
»Ich!«
»Sie?«
»Ja, Consigliere, es war … es ist … Madonna biniditta, wenn Sie wüssten, was ich heute Abend erlebt habe! Ich bin … ich war …«
»Himmelarsch, was ist los mit Ihnen?«
»Sie war … sie ist … also wenn Sie die gesehen hätten, Sie würden … Sie könnten …« Er schlug die Hände vors Gesicht. Er winselte. »O Consigliere, tausend Dank, dass Sie zurückgekehrt sind. Ich muss es jemandem sagen. Ich halt es nicht mehr aus. Es hat mich erwischt.«
»Sie haben sich verliebt.«
»Ja.«
»In Mafalda?«
»Sind Sie verrückt? Mafalda war die Letzte vom Alten.«
»In Giucy?«
»In eine Fremde«, sprach er traurig und leise. »In eine Deutsche.«
Im ersten Moment kam mir der furchtbare Gedanke, der schöne Jüngling könnte sich ebenfalls in die schöne Funkwerkerin verliebt haben, aber würde sich eine kluge, für den Sozialismus engagierte Frau in so einen Trottel verlieben? Nie und nimmer. Oder doch? Durchatmen, einfach durchatmen, so tief wie möglich durchatmen. O, ich kannte das Syndrom. Mit der Liebe kam die Eifersucht. Mit der Liebe tat sich nicht nur der Himmel, sondern auch die Hölle auf, und ich konnte nur hoffen, dass ich mich täuschte. Der Esel war stehen geblieben.
Piddu nahm einen Stein von einem Haufen und sagte drohend: »Ich hätte Sie dringend gebraucht. Als Dolmetsch! Jetzt ist es zu spät, aber morgen begleiten Sie mich. Verstanden? Ihr Vertrag als Consigliere ist um eine Woche verlängert. Sie werden für mich übersetzen.«
Er holte aus und schleuderte den Stein mit Schwung in die Flanke des armen Esels. Entsetzt wandte ich mich ab.
»Vom Italienischen ins Deutsche?«
»Ja, und vom Deutschen ins Italienische.«
Der Esel stand im Mondschein am Ziehbrunnen. Er rührte sich nicht. Er trug eine Art Narrenkappe: einen Kartoffelsack, den man ihm über den Schädel gestülpt und am Hals zugebunden hatte – als Fliegenschutz oder damit ihm die Einsicht in sein bitteres Los erspart blieb. Ich empfand Mitleid mit ihm, doch war ich viel zu verwirrt, um Piddu daran zu hindern, einen weiteren Stein vom Haufen zu pflücken. Vermutlich war der Gedanke, wir könnten uns in dieselbe Frau verliebt haben, eine pure Wahnidee, aber leider wusste ich aus bitterer Erfahrung, dass die Liebe eine Schaukel ist, die den Verliebten zwischen übertriebenen Ängsten und gleisnerischen Hoffnungen hin und her wirft. Zum Beispiel meine Liebe zu Mimi. Oder die Liebe zu Maureen! Liebe? Eher ein Schleudertrauma! In meinen Armen hatte Maureen von Isidor Quassi geschwärmt und seufzend behauptet, er sei der Mann ihres Lebens. Ich hatte es hinnehmen müssen, dass sie seine Wäsche wusch, seine Mutter Gertrud betreute, seine Korrespondenz mit den Behörden erledigte, ihn auf die Sozialämter begleitete und auch von mir verlangte, dass ich diesen Säufer und Schnorrer finanziell unterstützte. Aber Maureen hatte wenigstens eine leichte Behinderung, ein Hinkefüßchen, das sie ein wenig zugänglicher machte, während die Schöne aus dem Osten topfit war, eine trainierte Tänzerin, durch Eisbäder gestählt, mit breiten Schultern, strammen Schenkeln, festen Waden. So eine wollte gepackt und genommen werden, und, du heilige Scheiße, von einer Sekunde zur andern war ich so liebeskrank wie der dumme Piddu. Auch der zweite Stein traf das bockstarr stehende Tier mit voller Wucht; durch seine Flanke lief ein Zittern.
»Es ist lange her«, begann Piddu auf einmal zu erzählen, »ich war damals noch ein Knabe, etwa fünf Jahre alt. Die Mamma und ich haben das Dorf in aller Frühe verlassen, sie mit einem Koffer auf dem Kopf. Es war ein heißer Tag mitten im Sommer. Ich war glücklich, darauf hatte ich mich seit Tagen gefreut – mit der Mamma in die Stadt zu reisen, zu den großen Häusern und den großen Schiffen. Als der Bus kam, hat sie mich geküsst, dann ist sie eingestiegen, und der Bus fuhr mit einer langen Staubwolke davon. Ich blieb allein zurück, am Rand der Landstraße. Nachts war es bitterkalt. Die wenigen Autos sind vorbeigefahren. Ich habe in einer Steinhütte geschlafen. Am nächsten Tag hat neben mir eine Limousine angehalten, mit getönten Scheiben. Die hintere hat sich geöffnet.«
»Don Pasquale?«
Piddu nickte. »Der Kofferraum ist automatisch aufgeklappt. Ich bin hineingeklettert.«
Eine Weile schwieg er, den Blick ins Feuer gerichtet, dann senkte er die langen blonden Wimpern und sagte mit zitternden Lippen: »Ich habe meine Mamma nicht verraten. Sie haben sie trotzdem gefunden, im Bett ihres Kerls. Don Pasquale hat dem Kerl in die Stirn geschossen. Dann hat er die Mamma an den Haaren ans Meer geschleift und ihren Kopf an einem Felsen zerschmettert.«
»Meine Mutter ist ebenfalls verschwunden«, sagte ich nach einem längeren Schweigen, worin die Flammen knisterten, die Funken knallten. »Sie hieß Mimi. Ich war damals sieben. Wir haben ein ähnliches Schicksal.«
»Haben Sie sie wiedergesehen?«
»Sie haben ihre Asche über dem Meer verstreut. Da sieht man sich nicht wieder.«
Auf einmal knarrte es. Der Esel stemmte sich in die Zugstange, und über dem runden Brunnentrog begann sich ein flaches Holzkreuz zu drehen, das eine Kette von Krügen antrieb, die das Wasser aus dem Brunnenschacht heraufbaggerten.
»Piddu«, sagte ich, den Tränen nah, »ich habe mich ebenfalls verliebt.«
»Ah, ich verstehe. Deshalb sind Sie nicht abgereist. Sie wollen sie wiedersehen.«
Er zog aus seiner Hirtentasche eine Flasche und setzte sie an. »Meine«, bemerkte er, »hat einen tollen Busen.«
»Meine einen tollen Hintern.«
»Und der Busen?«
»Niedlich.«
Er reichte mir die Flasche. Wein aus der Vulkanerde.
»Consigliere«, sagte er und fand plötzlich sein Lachen wieder, »dann kann es nicht dieselbe sein! Meine hat so einen Busen!«
»Wenn das stimmt, dann … dann wäre das großartig! Meine ist eher der andere Typ.«
Er, lachend: »Flach wie ein Brett?«
»Nicht wie ein Brett, aber dezent.«
»Dann kann deine nicht meine sein«, jubelte er.
Lachen Umarmung Schulterklopfen. Und erneut Erstarren. Wieder eine Schrecksekunde. Jeder nahm den andern ins Visier, mit angehaltenem Atem. »Wo hast du sie kennengelernt?«, wollte er wissen.
»Am Meer. Heute Nachmittag. Wann bist du deiner begegnet?«
»Heute Abend. Bei einem Geschäftsessen der Freunde. Offizieller Gast war ein Oberst aus Deutschland-Ost, dem Land hinter der Mauer.« Er kicherte. »Consigliere, du würdest es nicht glauben …«
»Dieser Oberst wollte euch eine Weltneuheit andrehen, einen Ohrensessel, der eigentlich ein Telefon ist. Oder umgekehrt.«
»Ee?«
»Das Telefon ist ein Ohrensessel.«
Er fixierte mich und sagte: »Du bist gut informiert, Consigliere.«
Krug um Krug fuhr klappernd am Brunnen herauf und kippte, langsam den Zenit überkriechend, sein Wasser in eine Holzrinne ab, um dann mit hohlem schwarzen Maul und tropfendem Schlammbart in den Schacht zurückzukehren. Der Mond bestrahlte die Palmen, den Brunnen und das geduldig rundumlaufende Zugtier mit eisigem Licht. Die Holzrinne verteilte silberne Rinnsale zwischen die schwarzen Büsche des Innenhofs, verwirrend wie ein großes Strickmuster, und je mehr in der Erde versickerte, desto betörender duftete das Paradies. Piddu hockte sich wieder hin und wickelte sich wie ein wachender Hirte in seine Decken.
»Die Wahrheit ist«, sagte er, »meine liebt einen andern.«
»Hat sie dir das gesagt?«
»Ich wollte sie küssen. Sie hat mich zurückgestoßen.«
Ich machte mir keine Illusionen. Noch war alles offen. Noch stand unser Glück in den Sternen. Aber hatte sie nicht für mich getanzt? Hatte sie mir beim Abschied nicht gewinkt und zugezwinkert? Ja, hatte sie. Amor hatte einen Volltreffer erzielt. Der Pfeil war durch beide Herzen gegangen und würde sie nun für immer zusammenheften. Die! Keine andere. Sie ist es. Der! Kein anderer. Er ist es. Jedenfalls hatte sie von Piddus Avancen nichts wissen wollen. Hau ab, wird sie geschrien haben, du kommst um eine Stunde zu spät, ich bin eben dem Mann meiner Träume begegnet … auf Deutsch natürlich, aber in einer Tonlage, die selbst der Sizilianer verstand. Als Konkurrent fiel er aus.
Ich stupste ihn an, lachend: »Mensch Piddu, du kannst doch jede haben!«
»Jede?«
»Ja, jede. Mit einer Ausnahme natürlich. Weißt du zufällig, wer dir dein Busenwunder weggeschnappt hat?«
»Nein. Aber ich vermute, es ist ein älterer Mann.«
»So?«, rief ich viel zu hoffnungsfroh. »Wie kommst du darauf?«
»Consigliere, was mache ich falsch? Wie kommt es, dass jeder andere bei den Weibern mehr Chancen hat als ich?«
»Hast du je in den Spiegel geschaut?«
»Macht doch jeder.«
»Na also.«
»Also was.«
»Griechen«, erklärte ich und tupfte ihm mit meinem Foulard die Tränen von den Wangen. »Griechen, Karthager, Römer, Vandalen, Goten, Byzantiner, Sarazenen, Normannen, Schwaben, Spanier, Franzosen, dann Mussolinis Schwarzhemden, die SS, die Wehrmacht und schließlich die kaugummikauenden Charlies der US-Armee. Kapiert?«
»Nein.«
»Sieger und Schänder«, fuhr ich fort, »Tempel, Trümmer, Kathedralen, dunkle Kastelle, kahle Hügel, ausgebrannte Dörfer und götterschöne Menschen. Menschen mit vielfach gemischtem Blut. Menschen, deren Haut arabisch dunkel ist. Menschen, die nordisch blondes Haar haben, italienische Locken, kalifornische Zähne und Augen, aus denen das Blau der sie umgebenden Meere leuchtet. Piddu, eines Tages wird die Richtige kommen!
»Consigliere, glaubst du das wirklich?«
»Ja«, stieß ich hervor. »Das sagt dir ein Mann, der weiß, wie Weiberherzen ticken.«
»Consigliere, du bist ein Genie. Morgen gehen wir zu ihr. Du wirst mein Mund sein. Noch eine Flasche?«
Zwei. Drei. Vier. Er holte die Flaschen in einem nahen Keller, und die Sauferei ging weiter, mit Wein, mit Grappa, mit Likör. Was für ein Zufall! Wir beide, beide am selben Nachmittag, wir konnten es nicht fassen, ich noch weniger als er. Ich machte Piddu vor, wie sie für mich am Meer getanzt hatte, für mich ganz allein, in der Fülle des Lichts, auf den ausgestreckten Armen die Lerchen wiegend, ein sozialistischer Engel vor der unendlichen Bläue; und Piddu stolzierte mit wiegenden Hüften und klimpernden Wimpern vor mir auf und ab, bis er in einem Rosenbeet auf die Nase fiel, brüllend vor Lachen.
Heißhungrig verschlang ich in den frühen Morgenstunden eine Käseplatte, die er in der Küche geholt hatte, und versuchte, zwischen den Bissen mein Wissen über die Polymerisation weiterzugeben. Ich musste das Wort mehrmals buchstabieren: »Poly. Meri. Sati. On. Verstehst du?«
»No.«
»Du bist verliebt, und auf einmal ist die Welt völlig verwandelt, auf einmal besteht sie einzig und allein aus deinem Mädchen.«
»Du bist ja ein Poet«, rief Piddu.
Und ich, mit gesenkten Wimpern: »Nicht ich, Piddu, nicht ich.« Gehaucht, seufzend: »Aus mir dichtet die Liebe.«
Und die Flaschen leerten sich, eine nach der anderen, und es war das Leben, das wir tranken, das Leben mit all seinen Höhenflügen und Abstürzen, mit seinen Freuden und Leiden, seiner Süße, seiner Bitternis. Beide spürten wir, was für eine Gnade die Liebe ist, was für eine Gnade und was für eine Strafe, denn »Glück und Glas«, zitierte ich auf Deutsch, »wie schnell bricht das. Goethe, im Faust.«
»Wer?«
»Goethe! Toller Bursche, echter Klassiker. War auch mal hier, im schönsten Frühling, hat die Urpflanze gesucht und im April 1787, vor gut zweihundert Jahren, hat er sie in den weichen Umarmungen einer drallen Puttana gefunden. – Piddu, was ist denn? Weinst du wieder?«
Er legte mir schluchzend den Arm um die Schultern. »Consigliere, ich wäre so gern wie du. So gebildet, so klug, so mutig …«
»How many roads must a man walk down«, sang ich mit der heiseren Stimme des Betrunkenen, »before they call him a man. Glaub mir, auch ich bin diese Straßen gegangen. Auch ich habe schwere Zeiten erlebt … Maureen, meine Ex, hat dauernd von einem Isidor Quassi geschwärmt. Quassi sei im Bett ein Hirsch, hat sie behauptet. Ein Hirsch, dennoch zärtlich.«
»Du hast die Frau erwürgt.«
»Natürlich.«
»Salulle!«
Sein Kopf sank schielend auf meinen Schoß. Duft der Blüten, Kühle der Nacht, irgendwann ein Motorrad, fernes Gebell, allmählich verebbend und wieder Stille. Über den Dächern rotierten drei Mondsicheln, eine lunarische Trinität, die an die dreifache Aktivistin erinnerte, und weil sie nicht hier war, streichelte ich ersatzweise den Lockenkopf Piddus. Wir lagen nun beide im taufeuchten Gras, und wie froh war ich, dass der Esel brav seinen Gang absolvierte, im Kreis, immer im Kreis, so dass er von Steinwürfen verschont blieb.
Als hoch oben ein Punkt durch das Nachtmeer fuhr, ein Blinken, ein Zwinkern, ein Satellit oder ein Flugzeug, kehrte auf einmal die Erinnerung an den Unfall zurück. Also doch! Meine Ahnung bestätigte sich. Der verlorene Sohn war nach Hause gerufen worden, er hatte sich Quassis Wagen ausgeliehen, war auf abgefahrenen Sommerreifen ins Fräcktal hochgebrettert und auf der vereisten Brücke über den Stausee mit vollem Karacho gegen das Geländer gekracht. Dann hatte ich, vom Schlag beduselt, rücklings auf der Piste gelegen und mit erstaunten Augen die kosmische Pracht empfangen, genau wie jetzt, im nächtlichen Paradies, das für den armen Esel die Hölle war. Sobald das Drehkreuz nicht mehr knarrte, die Kette nicht mehr quietschte, die kippenden Krüge nicht mehr klackten, würde die Stille Piddu wecken, und wie in seinen bitteren Knabenjahren, als er hier die kalten Winternächte verbracht hatte, würde er seine Steine schmeißen, bis sich der Esel mit seiner Narrenkappe in die Zugstange stemmte. Dann begann es zu tagen, aus der bleichen Hausfassade mit den dunklen Läden wimmerte ein Wecker, eine Toilettenspülung röhrte, eine Amsel sang, und immer noch trottete der Esel um den runden Brunnentrog, verschwand nach hinten, kam nach vorn, verschwand und kam, verschwand und kam, wieder und wieder. Sein Gestänge hatte ihm den Rücken wund gescheuert, und im blutkrustigen Sattel saß ein durchsichtiger, fortwährend sich verändernder Reiter aus sausenden sirrenden schwirrenden Fliegen …