Wie der Name verriet, war das Hotel Moderne hoffnungslos von gestern. Es gehörte zum Imperium Don Sturzos, und einmal am Tag, um fünf Uhr nachmittags, kam seine Gattin vorbei, um die Bücher zu kontrollieren, die Küche zu inspizieren, die Scheine aus der Kasse zu raffen sowie dem italienischen Personal die Leviten zu lesen. Ich beschwerte mich bei ihr über den Zustand der Toiletten (sie lagen ihr besonders am Herzen und waren das Sauberste am ganzen Laden), und siehe da, die von Dada übernommene Strategie, durch einen einzigen Feind eine ganze Schar von Freunden zu gewinnen, führte zuverlässig zum Erfolg. Sobald mir Don Sturzos Gattin (Sophia Loren hatte sie als »protestantischen Zahnstocher« bezeichnet) ihre Abscheu bekundete, war ich im Moderne der allseits geschätzte Dutturi. Weder verlangten sie den Pass zu sehen, noch erheischten sie ein Trinkgeld, und es war ihnen eine Ehre, meine Wünsche zu erfüllen. Sie alle, der Concierge, der Koch, der an Gicht leidende Nachtportier hatten das geliebte Italien in ihrer Jugend verlassen und versammelten sich an den Sonntagen am Bahnhof, um den südwärts abgehenden Zügen nachzuträumen. Ihre Heimat, das war eine getreppte Gasse in einem Gebirgsdorf oder eine Promenade am blauen Meer, auf der hübsche Mädchen den Corso machten, doch während die Träume jung blieben, lagen vom schönen Italien, das sie einst verlassen hatten, nur noch Bruchstücke herum – wie die Steintrommeln zerbrochener Säulen der einstigen Tempel. Tja, und dann kam der Dutturi in ihr Haus, sprach ein altmodisches, mit sizilianischen Einsprengseln versetztes Kalabresisch, trug einen klassischen Sommeranzug, verstand aus einem Schluck Kaffee eine Zeremonie zu machen, war dem protestantischen Zahnstocher ein Dorn im Auge und ihnen allen, dem Concierge dem Koch dem Nachtportier, ein Wohlgefallen: ihr Heimweh, Gestalt geworden.
Es war neun Uhr abends. Die Nachteule hatte bereits ihren Posten bezogen und begleitete mich unter Verbeugungen an die Tür. Ich, den Regenmantel über die Schulter gelegt, zog den Federleichten etwas tiefer in die Stirn und hängte mir eine Fluppe in den Mundwinkel. Auch heute hatte ich nach dem Frühstück wieder einen Fisch geklaut (in der Delicatessa-Abteilung des Globus) und hoffte natürlich, im Lauf der Nacht irgendwo Dada zu begegnen.
Die Nachteule gab mir Feuer: »Schönen Abend, Dutturi, bis später!«
Wieder hing ich im Malatesta am Tresen und hatte den Eindruck, Bruno, der ab zehn einen vollen Laden hatte, mit meinem Gequatsche auf die Nerven zu gehen. Doch war ich nicht zum Vergnügen hier – ich wollte endlich Klarheit über meine Fahrt ins Fräcktal bekommen. Laut Bruno hatte ich das Malatesta um acht Uhr abends verlassen, aber mein Gefühl beharrte darauf, dass ich bei Nacht und Nebel, also erst Stunden später, verunglückt war. Bruno konnte mir leider nicht weiterhelfen. Er hatte keine Ahnung, wohin ich vom Malatesta aus gegangen war. In Frage kam ein Besuch im Galeriehaus – ich könnte versucht haben, dort jemanden anzupumpen, möglicherweise Maureen, meine Ex, und am besten wäre es wohl gewesen, Maureen einem kleinen Verhör zu unterziehen. Ob ich das Galeriehaus aufsuchten sollte? Bestimmt würde sie um diese Zeit auf Ellens Party sein, aber wieder hatte ich eine Schnitte Lachs in der Tasche, wieder stank ich nach Fisch, und so blieb ich auf dem Hirschenplatz stehen, allein mit meinem überlebensgroßen Senior auf der Litfaßsäule – »Tut es mit meinen Verhüterli!«
Aus einem der Hinterhöfe war ein Jaulen zu hören, dann wurde es wieder still, und ich stellte mir vor, wie Papagei Johnny in der muffigen Wohnung der alten Dame aus dem Malatesta in ein dumpfes Dröhnen verfallen würde, in die Nachahmung einer Schiffsturbine, um so wieder über die Meere zu fahren und heimzukehren zu seiner Insel. Afrika, das unendliche, lag hinter mir wie ein Traum. Weggewesen war ich nicht länger als ein halbes Jahr, und doch kam ich mir jetzt, in der vertrauten Umgebung, so fremd vor, dass es mich fröstelte. Was hatte ich noch mit dem Heinrich Übel junior zu tun, vor dessen Briefkasten ich schließlich stand? Hoch oben, auf dem Dachboden, war der Papierpalast eingelagert; fünf Umzugskartons enthielten die Ordner mit meinem Lebenskatalog, und aus Schachteln Kisten Koffern würden die Seiten hervorquellen wie hier unten die Rechnungen und Mahnungen aus meinem Briefkasten. Der Erbauer des Papierpalastes war jetzt un homme sans papiers. Kein Pass, keine Schlüssel. Daheim – und fremd. Fremd in der vertrauten Umgebung. Das Sprudeln des Hofbrunnens sammelte Stille um sich.
Ich stieg das Treppenhaus hinauf und knackte gegenüber der geschlossenen Mansarde die Brandschutztür zum Dachboden. Hier wollte ich Dada aufspüren oder geduldig auf ihn warten, denn sollte er unterwegs sein, würde er spätestens im Morgengrauen über die Dächer zurückkehren in sein sicheres Versteck. Stille … ein Rascheln … wieder die Stille … und helahopp!
»Also doch, alter Freund, du kennst mich noch!«
Gähnen. Dann Recken und Strecken. Offensichtlich hatte Dada wundervoll geschlafen und war durch mein Stochern und Bohren im verrosteten Schlüsselloch geweckt worden. Ich setzte mich auf ein ausrangiertes Kanapee, Dada hockte sich auf eine verstaubte Kommode, und beide lauschten wir konzentriert nach unten, denn das spitznasige Abwarte-Ehepaar kannte das Haus derart gut, dass es imstande war, jedes Knarren einer Stufe, jedes Ächzen des Geländers zu vermeiden und synchron die Treppe hinaufzuschleichen. Den Palast konnte ich im Dunkel des Dachbodens so wenig erkennen wie meine an einer Leine aufgehängten hundert Lebensläufe. Wie früher vermischte sich der Teer- und Holzduft vergangener Sommer mit dem mehligen Geruch der schneeartig schimmernden Staubschicht. Ich hatte im Warenhaus Jelmoli, vor dem Quassi in der Adventszeit mit klingelnder Schelle den Weihnachtsmann gab, nicht nur den Lachs, sondern auch eine Dose Katzenfutter mitlaufen lassen, stach mit dem Messer den Deckel auf, klaubte das Fleisch heraus und servierte dem misstrauisch lauernden Kater auf dem Untersatz einer alten Ständerlampe eine schmackhafte, selbst meiner Menschennase wohlriechende Mahlzeit.
Effekt? Null. Im Schein des Nachthimmels, der durch eine Dachluke hereinsah, blieben die Augenscheiben starr. Kein Blinzeln, kein Schnurren. Eine Statue aus schwarzem Marmor. Ich kauerte mich hin, verschränkte die Hände auf dem Rücken und wandte den Blick deutlich von ihm weg, eine Haltung, durch die ich ihm signalisierte, keine feindlichen Absichten zu hegen. In dieser Beziehung sind Katzen wie Sizilianer. Aug in Aug heißt Angriff, wegschauen heißt abducken. Also wartete ich inmitten von Seemannskisten in der Demutshaltung … wartete geduldig … und wartete … und wartete … vergeblich. Dada rührte sich nicht. Irgendwie kam er mir dünner vor, auch jünger, aber natürlich könnte er während meiner Abwesenheit abgenommen haben, schließlich hatte ihn der Zuverlässigste seiner Futterknechte längere Zeit im Stich gelassen.
In Afrika war ich am Rand der Sahara mit einem alten Marabu ins Gespräch gekommen. Neben uns hatte eine Katze geschlafen, zu einer Pelzkugel geformt, und der Marabu hatte mir erklärt, auf diese Weise schütze sich das frömmste aller Tiere vor seinen gefährlichsten Feinden – aus der Vogelperspektive gleiche die schlafende Katze einer gerollten Schlange. Ich hatte den weisen Mann gefragt, weshalb der Islam die Katzen für fromm halte, und seine Antwort war: weil sie so sauber seien. Katzen würden sogar ihre Nachgeburt verschlingen, und bevor sie die Moschee aufsuchten, nähmen sie mit dem roten Zünglein die den Gläubigen auferlegten Waschungen vor. Deshalb soll der Prophet eine Katze gestreichelt haben, »und weißt du«, wandte ich mich an Dada, »seither tragt ihr Tiger fünf schwarze Streifen auf dem Rücken: ein allerhöchstes, vom Propheten verliehenes Rangabzeichen. Ein hohes Tier mit fünf Streifen bist auch du, ich achte und liebe dich und hätte es eigentlich verdient, von dir etwas gnädiger behandelt zu werden. Warum fremdelst du vor mir? Warum beäugst du mich, ohne zu blinzeln, ohne zu maunzen? Bist du am Ende gar nicht Dada? Bist du vielleicht sein Sohn? Oder muss ich andersherum fragen: Bleibst du auf Distanz, weil ich … nicht mehr Übel bin?«
Irgendwo rauschte eine Spülung, gellte ein Wecker. Dann begannen Tauben zu gurren, flatterten mit schnalzenden Flügeln ins Freie und drehten überm Hof ihre erste Runde. Der Morgen graute – und auf einmal sah ich es. An der Leine hingen nur noch wenige meiner Lebensläufe, und wo früher der Papierpalast gestanden hatte, war – nichts. Leere. Lücke. Staub.
»Wieso hätten wir ihn daran hindern sollen, die Kisten abzutransportieren? Er war der rechtmäßige Besitzer«, blaffte mich die Weideli an. »Der ganze Karsumpel hat ihm gehört. Damit konnte er machen, was er wollte, und eins sag ich Ihnen gleich: Mein Weideli und ich waren froh, schon aus Feuerschutzgründen, dass er den Papierhaufen abtransportiert hat.«
»Langsam, Signora, eins nach dem andern. Wer hat die Kisten abtransportiert?«
»Übel.«
»Wie bitte?«
»Zusammen mit dem Mieter Dill.«
»Wie, mit dem Mieter Dill …?«
»Sind Sie schwer von Begriff? Mieter Dill hat Übel geholfen, den Kram ins Auto zu schleppen.«
»Dieter Mill …«
»Mieter Dill.«
»Mieter Dill war ihm behilflich … seinen Papierpalast zu verladen?«
Weideli männlich saß am Küchentisch, einen Teller Suppe vor sich, den Löffel in der Rechten; Weideli weiblich hatte sich in seinem Rücken postiert; ich, ihnen gegenüber, lehnte am Buffet.
»Signore Weideli«, konzentrierte ich mich auf ihn. »Sie erinnern sich doch bestimmt an den Tag, da der Mansardenmieter verschwunden ist. Es war im späten Februar, grau der Himmel, die Scheiben beschlagen, auf dem Herd köchelte die Suppe, und hier, auf dem Buffet … tatsächlich, da liegt es ja! … lag auch damals das große Buch, aufgeschlagen wie die Bibel auf dem Altar.«
»Das protestantische Kochbuch für den Kanton Zürich«, sagte die Weideli schuldbewusst.
»Da klingelte im Flur das Telefon …«
»Ja«, bestätigte sie eifrig. »Das hab ich Ihnen schon beim letzten Mal erzählt. Eine Dame war’s, die Sekretärin von Übels Vater. Sie hat mich gebeten, den Junior an den Apparat zu holen. Den eigenen Anschluss hatten sie ihm ja schon vor Monaten gekappt.«
»Übels Vater«, presste Weideli männlich hervor, »ist der Alte im Weißkittel, der dauernd im Fernsehen kommt. Tut es! Tut es! Tut es!«
»Wenn unsere Mieter telefonieren, hören wir natürlich nicht zu«, nahm sie wieder das Wort, »aber als der Mieter Übel aufgehängt hat, war er ganz bleich. Da haben wir ihm einen Teller hingestellt. Eine Brennnesselsuppe. Können Sie sich nicht erinnern?«
»Ich? Nein …doch! Natürlich, Signora, natürlich erinnere ich mich, dass wir uns darüber unterhalten haben, oben, in seiner Mansarde.«
Der Mann ließ den Löffel schweben. Sie fixierte mich. Ich trug sicherheitshalber die Sonnenbrille, trotz des düsteren Regentags, und hielt es für besser, den Kahlschädel mit der Narbe ins volle Licht der Küchenlampe zu setzen.
»Wissen Sie noch«, fragte ich leise, »wie spät es damals war, als der Anruf kam?«
»Etwa halb sechs«, antwortete Weideli weiblich. »Während Übel die Suppe gegessen hat, ist unten im Hof der schreckliche Schauspieler aufgetaucht.«
»Quassi«, zischte Weideli männlich.
»Ja«, bestätigte sie, »Quassi. Aber Übel musste erst die Suppe fertigessen, und Quassi ist abgehauen.«
»Ist Übel von Ihnen aus direkt ins Malatesta gegangen?«
Die Weideli nickte: »Etwa um neun ist er dann mit Quassis Chevy vorgefahren. Direkt vor dem Eingang zum Vorderhaus. Im Parkverbot.«
Ich opferte einen von Brunos Hundertern. Sie schnappte danach, entblößte für einen Moment die Backenzähne. Dann schlich sie auf leisen Sohlen zum Fenster, zog es einen Spalt weit auf, deutete auf die gegenüberliegende Fassade und sagte: »Hören Sie? Das ist der Mieter Dill. Um diese Zeit übt er am Spinett. Er hat viel Dreck am Stecken, stimmt’s, Weideli?«
Vorstehende Zähne, große Ohren, gefärbte gelbe Locken wie Butterröllchen. Ein T-Shirt mit rosa Elefanten, eine hüftlange Strickjacke, Röhrenhosen, Plüschpantoffeln. Dills Dackel hieß Fifi und diente ihm wohl dazu, über Kinderspielplätze zu spazieren, ohne Verdacht zu erregen. Ein böses Kind, ein alter Clown. Einer, der ein Leben lang den Kürzeren gezogen hatte. Und einer, beteuerte er, der stets bereit sei, den Mitmenschen Gutes zu tun. Das habe er auch in jener Nacht im Februar getan, als Übel mit Quassis Chevy vorgefahren war.
»In bester Absicht, nicht wahr, Dill?«
»Ja«, winselte Dill. »Die Kartonkisten haben Übel gehört. Wieso soll es da falsch gewesen sein, ihm beim Tragen zu helfen? Er wollte sie seinem Vater zeigen.«
»Ah ja, wirklich?« Meine Augenbraue wölbte sich in die Stirn.
»Sie als Italiener werden den Senior nicht kennen«, erklärte Dill. »Hierzulande ist er eine bekannte Persönlichkeit. Er warnt in allen Medien vor ungeschütztem Verkehr und empfiehlt der Bevölkerung den Gebrauch von …«, er räusperte sich, »… Sie wissen schon.«
Ich hatte es mir in der Stube der Weidelis auf dem Sofa bequem gemacht. Vor mir stand schuldbewusst der vorgeladene Mieter Dill. Weideli männlich saß im TV-Sessel, Weideli weiblich lehnte mit verschränkten Armen am Fenstersims.
Ich fragte: »Wann sind Sie Übel an jenem Abend begegnet?«
»Etwa um neun«, antwortete Dill.
»Die Aussage ist korrekt«, versetzte Weideli weiblich. »Um neun kommt der Mieter Dill ein letztes Mal mit Fifi herunter.«
»Sie sind also mit Fifi heruntergekommen«, bemühte ich mich um einen strengen Verhörton, »da fährt der Mieter Übel mit Quassis Wagen vor.«
»Jawohl«, bestätigte Dill. »Er hat Schiss gehabt, ohne akademischen Abschluss vor den Vater zu treten. Deshalb hat er den Wagen organisiert. Er wollte seinem Vater zeigen, wie fleißig er war in all den Jahren.«
»Wieso hat sich das Einladen der Kartons dermaßen verzögert?«
»Übel musste gewisse Texte aussondern.«
»Eins nach dem andern, Dieter Mill.«
»Mieter Dill.«
»Mieter Dill. Wenn ich Ihre Aussage richtig interpretiere, wollte Übel nicht mit leeren Händen vor dem Vater erscheinen. Hat er sich Ihnen gegenüber so geäußert?«
Dill schwieg verstockt. Ich fixierte ihn durch die Sonnenbrille. »Mein Job ist es, Übels Unfall zu klären. Da gibt es einiges, was Fragen aufwirft. War das Buxtehude, vorhin?«
»Ja. Übel war der einzige, der sich für mein Spiel interessiert hat. Vor einigen Jahren waren wir zusammen in der Oper, L’Orfeo von Monteverdi. Ob ihm die Musik gefallen hat, weiß ich nicht, aber die Operngläser fand er niedlich. Ich hab ihm eins zu Weihnachten geschenkt.«
»Was soll dieses Gequatsche, Mill!«
»Dill.«
»Dill. Haben Sie immer noch nicht kapiert, dass ich es verdammt ernst meine? Übel hat also seine Schriften zensiert. Ein Teil davon blieb hier.«
»Ein kleiner Teil. Die meisten Kisten haben wir hinuntergeschleppt, eine elende Plackerei.«
»Hat Ihnen Übel erzählt, warum man ihn nach Hause bestellt hat?«
»Ja. Sein Vater« … er räusperte sich … »Sie wissen schon« … er schluckte … »war gestürzt.«
»Das können wir bestätigen«, warf die Weideli ein, ihr neues Gebiss bleckend.
Ihr Mann bleckte sein Gebiss ebenfalls: »Andauernd kommt dieser Übel im Fernsehen. Und schauen Sie sich in der Stadt um, Signore – da hängt er überall. Tut es! Tut es!«
»Der alte Übel war also gestürzt«, kam ich auf meine Frage zurück. »Schlimm?«
»Nein«, antwortete Dill. »Sein Sohn hat mehrmals betont, der Sturz sei harmlos gewesen.«
»Warum wurde er dann nach Hause gerufen? Können Sie mir diesen Widerspruch erklären?«
»Hören Sie«, protestierte Dill, »mich gehen die Übels nichts an. Ich bin zu dieser Geschichte gekommen wie die Jungfrau zum Kind.«
»An Ihrer Stelle würde ich das Wort Kind nicht in den Mund nehmen. Und glauben Sie mir: Die Bullen sind bei ihren Verhören weniger zimperlich. Die ziehen Ihnen erst die Zunge aus dem Maul und dann Ihr Wissen.«
»Signore«, bat Dill weinerlich, »nicht die Polizei! Bitte!«
»Dann reden Sie, verdammt nochmal! Spucken Sie aus, was Sie wissen. Wenn der Sturz des Alten harmlos war, wie Sie sagen, wird er nicht der Grund für den Anruf gewesen sein. Was folgt daraus? Oben im Fräcktal war etwas passiert. Etwas Ungewöhnliches. Etwas Beunruhigendes. Deshalb der Anruf. Deshalb die dringende Bitte der Sekretärin, der Sohn möge umgehend antanzen. Mann, Dill! Sie beide haben stundenlang die Papiere durchgesehen. Da wird er Ihnen doch gesagt haben, weshalb er sich so eine Heidenmühe gibt, den Alten zufrieden zu stellen.«
Dill nickte, kam zwei Schritte auf mich zu und sagte verschämt: »Nach seinem Sturz hat Herr Doktor Übel alte Gummimatten aus dem Lager holen lassen …«
»Ich verstehe. Der Herr wollte sich vor künftigen Stürzen schützen. Also hat er befohlen, sein Büro mit den schwarzen Matten des sogenannten Sportbodens auszukleiden – er hat die Zentrale in eine Gummizelle verwandelt. Wir könnten auch sagen: in einen Darkroom.«
»Mit Sauereien«, winselte das bunt gekleidete Männchen, »habe ich nichts zu tun.«
»Ah ja, wirklich?«
Er war weiß geworden. »Hören Sie«, stieß er mit zitternder Unterlippe hervor, »der Dill war Buchhalter bei Lindt & Sprüngli. Der Dill hat keinen einzigen Tag gefehlt. Der Dill hat darauf verzichtet, dass sie ihm die Überstunden bezahlen, und warum? Weil er ein guter Mensch ist. Weil er helfen will. Darum! Sonst war da nichts, das schwöre ich – Marcello lügt!«
»Dem haben Sie höchstens mal eine Tafel Schokolade geschenkt, nicht wahr, Dieter Mill?«
»Zum Geburtstag.«
»Und zu Ostern einen Schokoladenhasen und Schokoladeneier, und im Januar bekam er all die Schokoladen-Weihnachtsmänner, die ihr Scheißkerle von Lindt & Sprüngli im Weihnachtsgeschäft nicht losgeworden seid.«
Meine Wut war echt. Wut auf mich! Vor der Abfahrt ins Fräcktal hatte ich feiger Frosch drei geschlagene Stunden meinen Katalog durchgesehen und vieles aussortiert.
»Wann war Übel damit fertig?«
Das bunte Männchen war jetzt völlig durcheinander. Wischte an der Strickjacke die Schweißhände ab. Glotzte grinste sabberte. »Er musste auch die Lebensläufe durchsehen«, stotterte der Zeuge, der plötzlich zum Angeklagten geworden war. »Die hingen an einer Leine, mehr als hundert, glaube ich. Natürlich kam sein Vater darin vor, und ich nehme an, als eher negative Figur. Aber das meiste hat er mitgenommen. Nur: Im Kofferraum des Chevys war dafür kein Platz. Der war randvoll mit Kostümen und Requisiten.«
Wieder bleckten beide Weidelis die neuen Zähne: »Schauspieler!«
»Und Rezitator, meist auf bunten Nachmittagen in Pfarr- und Altersheimen«, fuhr Dill beflissen fort. »Aber in seiner Wohnung hat er für die Garderobe keinen Platz gehabt. Deshalb waren sämtliche Kostüme im Chevy eingelagert, auch die Requisiten. Kronen, Schwerter, Toupets, und natürlich alles, was er für das einzige Engagement braucht, das ihm ein bisschen Geld bringt. Quassi ist der Weihnachtsmann vor dem Warenhaus Jelmoli.«
»So so«, sagte ich nachdenklich. »Quassi ist der Weihnachtsmann vor dem Warenhaus Jelmoli. Mit einer Schelle? Ruft er Sonderangebote aus?«
»Ja«, meinten die Weidelis im Chor, »alle Jahre wieder!«
»Habt ihr die Garderobe ausgeladen, um Platz für die Kisten zu haben?«
»Nein«, antwortete Dill, »das meiste haben wir auf dem Rücksitz untergebracht. Den Rest, diverse Schachteln und Tüten, auf dem Vordersitz.«
»Was habt ihr mit den aussortierten Artikeln gemacht?«
»Die blieben auf dem Dachboden. Etwa um Mitternacht ist er losgefahren. Ich musste ihm noch einen Zehner pumpen. Für Benzin. Er war völlig blank.«
»Dill«, sagte ich heiser, »seit wann werden Sie von Marcello erpresst?«
»Schon länger. Aber da war nichts. Ich hab ihn nur ein bisschen geknufft.«
»Künftig wird Sie der Kerl in Ruhe lassen, das verspreche ich Ihnen.« Ich setzte den Federleichten auf, erhob mich.
»Signora«, sagte ich leise, »sollten Sie Dada auch nur ein Schnauzhaar krümmen, schlage ich Weidelis Eier in die Pfanne.«
Dill lächelte schadenfroh, Weideli männlich erschrak, aber Weideli weiblich ließ sich durch die Drohung nicht beeindrucken.
»Signore, der Kater ist mit Übel verschwunden.«
Die nächsten Tage galten der Vorbereitung der Heimkehr. Inzwischen war ich überzeugt, im Februar auf der Rückfahrt von der Brücke, nicht auf der Hinfahrt, verunglückt zu sein. Also musste ich davon ausgehen, dass mein erster Versuch, den Senior nach achtzehn Jahren wiederzusehen, schiefgelaufen war, und fasste den Entschluss, nach dem bewährten Brauch der Freunde der Freunde einen Soldaten mitzunehmen. Meine Wahl fiel auf Marcello, den ältesten Sohn der Sophia Loren aus dem Erdgeschoss. Gegen Abend, wenn er Schulaufgaben machen sollte, erschien er jeweils im Hotel Moderne und erwartete, dass ich meine Faust in seiner Wampe versenkte. Das konnte er haben, mir machte es Spaß, den fetten Kerl in seine Schranken zu weisen, und ihm schien es ein Bedürfnis zu sein, zu mir aufzuschauen wie ein Hund zu seinem Herrn. Als Italo hatte er eine panische Angst vor der Hölle, und ich machte sie noch ein wenig heißer, noch ein wenig schrecklicher (mit Details aus Dantes Commedia). Wenn er aber ob all der Qualen zu zittern und zu schwitzen und wie ein Hund zu winseln anfing, warf ich ihm eine Zigarette zu und erklärte lachend, die Mittelmeerantike hätte eine ganz andere Vorstellung vom Jenseits gehabt als das christliche Mittelalter. Für die Griechen, dozierte ich, im Morgenmantel am Fenstersims lehnend, den Federleichten auf dem Kopf, sei der Erebos ein ins Schattenhafte prolongiertes Diesseits gewesen, denn niemand sei dort verbrannt, gegrillt oder mit glühenden Zangen gezwackt worden. Da habe weder Heulen noch Zähneknirschen geherrscht, und kein Feuer habe gebrannt, um den armen Seelen die Sünden wegzubrennen. Nichts davon! Sisyphos sei kein Verbrecher gewesen – es sei denn, man werfe ihm vor, den Tod überlistet zu haben, aber dann müsse man sämtliche Ärzte und selbst den auferstandenen Christus eines Verbrechens beschuldigen.
»Daraus ziehe ich den Schluss«, sagte ich, den Hut in den Nacken schiebend, »dass die Toten der alten Griechen etwas fortführen, was sie schon im Leben gemacht haben. Sisyphos hat vermutlich mit der Schwerkraft experimentiert, und natürlich eignet sich ein physikalisches Experiment hervorragend dazu, im Schattenreich ad infinitum wiederholt zu werden. Hast du begriffen, Dicker? Im Leben trainieren wir uns irgendeine Repetition an, die wir dann mitnehmen auf die andere Seite.«
»Dutturi«, sagte Marcello überglücklich, »ich werde drüben ewig wichsen.«
Aber ich hatte ihn nicht nur von seiner Höllenpanik erlöst, ich verhalf ihm auch zu einem neuen Outfit – seit meiner Einkleidung durch den Paten wusste ich ja, dass ein italienischer Maßanzug selbst einen Übel junior zum Mann machte, und so kam Marcello zur Freude seiner Mamma bei Grieder Les boutiques in der Zürcher Bahnhofstrasse zu einer kompletten Ausstattung: Hut, Anzug, Regenmantel, Seidenschal, Lederhandschuhe, italienische Schuhe. Monsieur Daniel höchstpersönlich bediente uns, und natürlich beantwortete ich die Frage nach der Rechnung mit den gleichen Worten wie einst in Pollazzu: »Geht an Dr. Heinrich Übel, Gummifabrik, Fräcktal.«
Dann musste noch eine letzte Hürde überwunden werden. Marcello hatte mir verraten, dass seine Mamma mit dem Gedanken spielte, das Verschwinden des Mansardenmieters den Bullen zu melden und eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Ich trug Marcello auf, dies zu verhindern, und die noble Art, wie er den Auftrag erfüllte, bewies mir, dass ich den Richtigen zum Soldaten erwählt hatte. An einem Morgen lag ein Strauß roter Rosen vor der Parterrewohnung, und die Loren ließ mir durch den Concierge des Moderne ausrichten, Übel lebe – er habe ihr Rosen geschickt, genau wie früher. Damit war die Gefahr einer Vermisstenanzeige fürs Erste gebannt, die letzte Hürde genommen, der Heimkehr stand nichts mehr im Weg.
An einem trüben Vormittag im späten September trat ich die Reise in die Berge an, diesmal in Begleitung meines jungen Soldaten, der nun seine Gurgel hinter einem Foulard, die Augen hinter einer undurchdringlichen Sonnenbrille verbarg. Um 09 Uhr 20 betraten wir das Theorielokal einer Fahrschule. Eine Wand war mit Verkehrsschildern vollgehängt; Marcello deutete auf »Links abbiegen verboten«, und die Blondierte, die an ihren Nägeln herumfeilte, verwies uns auf die Wartestühle – der nächste Wagen werde uns mitnehmen.
Marcello erledigte hie und da kleine Aufträge für Don Sturzo, deshalb wusste er, wie der Zürcher Pate seine Geschäfte abwickelte: über bestehende Systeme, wie etwa über die Apotheken. Zwar hatte Sturzo den lukrativen Zweig der Liquidierungen (aus Rücksicht auf den protestantischen Zahnstocher an seiner Seite) den Serben überlassen, aber auch die hielten sich weiterhin an das bewährte Prinzip. Dass die vermeintliche Unterschrift des Arztes auf dem Rezept in Wirklichkeit der Name des Opfers war, wäre bei einer Razzia nicht einmal dem klügsten Bullen aufgefallen, und natürlich wirkte jemand, der aus einer Apotheke trat, völlig harmlos – jedenfalls erweckte er nicht den Verdacht, soeben den Auftrag zur Ermordung eines Geschäftspartners oder seiner Ehefrau erteilt zu haben. Auch das Theorielokal einer Fahrschule konnte man unauffällig aufsuchen, auch hier verkehrten, wie in einer Apotheke, die unterschiedlichsten Leute, Ausländer wie Inländer, und da die Wagen von den frühen Morgen- bis in die späten Abendstunden unterwegs waren, eigneten sie sich hervorragend für Kurierdienste. Dabei erhielten die Fahrschüler ihren normalen Unterricht (und transportieren, ohne es zu wissen, Koffer voller Koks oder Schwarzgeld zu einem von Don Sturzos Klienten).
Angelo, der Fahrlehrer, der uns mitnahm, war ein alternder Itaker und seine Schülerin eine Dame der besseren Gesellschaft. Die Dame quälte den Opel fluchend wie ein Rossknecht durch die City, und Marcello, der sich in seine Rolle rasch einfühlte, machte Angelo klar, dass wir einen besseren Lift wünschten. Die Dame wurde zu einem Parkplatz gelotst, auf dem ein anderer Fahrschüler gerade das Rückwärts-Einparken übte. Marcello und ich stiegen um und strandeten gut eine Stunde später, es ging bereits auf elf zu, in den stillen Straßen einer Vorortgemeinde (irgendwo in Adliswil). Nach diversen Telefonaten mit der Blondierten in der Fahrschule, die vermutlich immer noch an ihren Nägeln feilte, fuhr gegen zwei ein weiterer Wagen vor, mit einem Priester als Fahrschüler. Der Priester kroch so ängstlich über die N 3, als glaube er nicht an den heiligen Christophorus, dessen Medaille am Armaturenbrett haftete. Bei einer Esso-Tankstelle stiegen wir aus. Marcello suchte eine Telefonkabine auf, um den nächsten Wagen zu organisieren, und plötzlich fiel mir ein, dass ich im letzten Februar hier getankt und den Mann an der Kasse gefragt hatte, ob ich es wagen dürfe, mit Sommerreifen ins Fräcktal hinaufzufahren. Jetzt saß ein anderer an der Kasse als in jener Nacht, doch kaum war mir dies bewusst geworden, hatte ich die Szene von damals klar vor Augen. Der Nachtwart, der mit seinen Fettwülsten dem Michelin-Männchen geglichen hatte, war auf eine Plauderei aus gewesen und hatte mich vor dem Winter, der mich weiter oben erwarten würde, gewarnt. Mit Sommerreifen, hatte das Michelin-Männchen entrüstet ausgerufen, bleiben Sie im Fräcker Tobel liegen. Miserable Straßenverhältnisse. Schnee und Eis!
Sehr gut. Wenn ich einen Ort berührte, an dem ich auf meiner Unglücksfahrt vorbeigekommen war, öffnete die Gedächtniskapsel ihren sonst so verschlossenen Mund und gab die verlorenen Informationen heraus. Also weiter, ab ins Fräcker Tobel, aber leider mussten wir bald feststellen, dass Sturzos Fahrschulsystem seine Tücken hatte. Ehe wir uns versahen, befanden wir uns wieder auf der Fahrt nach Zürich, wo wir infolge eines Staus erst am frühen Abend eintrafen. Nun war es natürlich zu spät, um erneut die Richtung zu wechseln und mit irgendeinem Fahrschulwagen wenigstens bis zum Eingang des Tobels vorzustoßen – wir mussten meine Heimkehr auf den nächsten Tag verschieben. Vor dem Moderne verabschiedeten wir uns, beide etwas geknickt, und dann unterlief mir leider ein Fehler. Es war kein großer Fehler, nur ein kleiner, doch sollte er Folgen haben, schlimme Folgen …
Ihre Hand, die unablässig die Asche von einer Zigarette tupfte, war eine sehnige Kralle, und alt waren auch die Augen, getrübt von Alkohol Einsamkeit Glückstabletten. Nachdem sie mich registriert hatte, wandte sie den Kopf in einer langsamen Drehung wieder dem Finger zu, der weiter die Zigarette beklopfte.
»Wir kennen uns«, sagte ich.
»Was für eine plumpe Anmache«, sagte sie. »Sprichst du deutsch?«
»Sogar schweizerdeutsch.«
»Ich bin Amerikanerin.«
»Aus Frisco.«
»Du hast gute Ohren, Secondo.«
Secondo wurde ein hierzulande geborener Nachkomme italienischer Einwanderer genannt. Auch sie, sagte Maureen, sei Immigrantin, und dann, als würde sie schlagartig erwachen, legte sie los, genau wie damals, vor sieben Jahren, als wir uns hier, im Seerosen-Saal der Ellen Ypsi-Feuz, zum ersten Mal begegnet waren.
Dass ich an diesem Abend nach der Odyssee mit den Fahrlehrern noch einmal in die Galerie gekommen war, hatte mit meiner Finanzknappheit zu tun. Ich war darauf angewiesen, einen Gimpel zu finden, der mir das Geld für den Ausflug zum Vater vorschoss – und erwischte Maureen, meine Ex. Maureen würde mir bestimmt etwas Geld vorstrecken. Bis es jedoch soweit war, musste ich wohl oder übel das Märchen über mich ergehen lassen, das sie mir schon seinerzeit erzählt hatte: eine Variante zu »Hans im Glück« der Brüder Grimm.
Maureen im Glück. Nachdem sie am College ihren Geschichtslehrer verführt hatte, setzte sich Maureen nach Europa ab, wollte Malerin werden, reiste durch Italien, landete in Neapel, lernte einen deutschen Motorradfahrer kennen, schwang sich auf dessen Rücksitz und brauste über den Gotthard-Pass ins nächste Glück hinein. Der Motorradfahrer starb an der Unfallstelle, in Maureens Armen, und der Chirurg, der ihren Fuß, wenn auch verkürzt, gerettet hatte, hielt noch im Spital um ihre Hand an. Er richtete ihr ein Atelier ein, doch der frühere Pinselschwung war weg, eine Therapie folgte auf die andere, wobei Maureen mit Hilfe ihrer Therapeuten herausfand, dass sie als Sturzgeburt zur Welt gekommen war, nur wenige Tage nach Pearl Harbour, dem Sturzangriff der Japaner auf die US-amerikanische Flotte. Dabei ging es weniger um die geographische Frage, wie ein Angriff auf Hawaii eine Kindheit in San Francisco versaut haben könnte, vielmehr darum, was Maureen fühle, wenn sie ihre Stürze thematisiere: den Sturz ins Leben, vom Motorrad, in die Ehe. Die innerlich Verletzte bat ihren Mann, den Chirurgen, um ein Facelifting, aber was im Praxisalltag stets gelang – bei der eigenen Gattin verrutschte das Messer. Als man die Verbände entfernte, hatte sie durch eine leichte Verzerrung der äußeren Augenwinkel einen Touch ins verhasst Fernöstliche, die Ehe wurde geschieden, und Maureen, der Pinselei überdrüssig, wurde Therapeutin. Natürlich hatte sie wieder Glück, ihr Atelier für Maltherapie war auf Anhieb erfolgreich. Die Patienten übergossen sich eimerweise mit Farbe und wälzten sich wie New Yorker Happening-Künstler über ausgelegte Papierbahnen. Dumm war nur, dass sich die Nachbarn über Orgien beschwerten, worauf die Stadtpolizei Zürich, mit dem Begriff Analphase überfordert, dem bunten Treiben ein Ende setzte. Pech gehabt? Ach was, Maureen schaffte es, ein weiteres Tauschgeschäft zu ihren Ungunsten abzuwickeln. Als Maltherapeutin war sie in den Bannkreis der Ypsi-Feuz geraten. Die war zu jener Zeit noch mit Quassi liiert, aber nach einem Besuch Tinguelys, der über Ellens Lover die Nase gerümpft haben soll, suchte sie nach einer eleganten Lösung, sich der kompromittierenden Beziehung zu entledigen. Klar, da war ihr Maureen gerade recht gekommen. Maureen, die seit dem Motorradunfall am Gotthard einen verkürzten linken Fuß hatte, hinkte gewissermaßen dem Glück hinterher und verliebte sich ausschließlich in Männer, die sie für noch unglücklicher hielt als sich selbst. Ihr Bestreben war es, diese Männer zu erlösen – und sich, die Erlöserin, mit ihnen. Beider Dunkel sollte sich zum Licht addieren – für Ellen Ypsi-Feuz ein gefundenes Fressen, und natürlich gelang es ihr im Handumdrehen, durch ihre besten Freundinnen eine scheinbar zufällige Begegnung der sturzgeschädigten Amerikanerin mit einem psychisch labilen Genie zu arrangieren. In Ellens Schlafzimmer, wo Maureen ein bisschen aufräumen sollte, war ein gewisser Quassi gerade dabei, seine Socken zu suchen …
»Schau«, sagte Maureen jetzt zu mir und schüttete auf einem Glastisch im Seerosen-Saal ihr Täschchen aus, »sein Bild hab ich immer dabei.«
»Fürchte, ich weiß Bescheid. Im Bett ein Hirsch.«
»Nein«, entgegnete sie, »ein Hirsch war er nicht. Zumindest nicht so, wie sich das ein Italiener vorstellt.« Sie fischte ein graues Automatenfoto aus dem Müll ihrer Handtasche: »Das ist er.«
Ich starrte auf das Foto. Ich schluckte. Ich schloss für einen Moment die Augen. Dann starrte ich wieder auf das Foto, das einen jüngeren Mann mit langen Haaren zeigte: mich. Besser gesagt: Heinrich Übel junior.
»Ja«, wiederholte Maureen mit dem versonnenen Lächeln einer selig Entrückten, »er war die große Liebe meines Lebens. Dabei hätte ich mich nie und nimmer auf ihn einlassen dürfen. Als Psychologin hab ich den Problemfall sofort gerochen. Sein Vater hat mit Gummis einen Haufen Geld gescheffelt, Senior hat er ihn immer genannt, natürlich ohne zu merken, dass er sich dadurch zum ewigen Junior erniedrigte. Seine Mom, hat er mir einreden wollen, sei früh gestorben, als er drei oder vier war …«
»Sieben«, stieß ich hervor.
»Tagsüber hat er sich gern auf Friedhöfen herumgetrieben, und kam ich von Ellen nach Hause, hat er mich mit einem verlegenen Lächeln erwartet, hundert rote Rosen im Arm, Friedhofsrosen.«
»In denen noch die Trauerkarte gesteckt hat!«
»Ja, manchmal war er ein bisschen schusselig.« Sie wischte sich eine Träne aus den japanischen Augen. »Ich hab ihn immer noch lieb. Ganz ganz fest lieb. Er war der Mann meines Lebens.«
»Quassi.«
»Nein, Henry!«
Ich nahm ihr das Automatenfoto aus der Hand: »Du meinst diesen Typen da?«
»Ja!«
»Aber das ist doch … Übel!«
»Bist du blöd? Natürlich ist das Übel. Henry Übel junior.«
Sie schob ihren Müll ins Täschchen zurück … und ich, völlig verdattert, glotzte auf die Seerosen an den Wänden, die in blutigen Tümpeln schwammen. Von oben war Applaus zu hören. Als Ellens Assistentin, meinte Maureen, müsste sie eigentlich an der Feier teilnehmen.
»Was für eine Feier?«
»Das weißt du nicht, Secondo? Die ganze Stadt spricht davon. Ellen hat eine Ehrengabe der Jüdischen Kultusgemeinde erhalten. Für ihre Bekenntnis-Birke. Die Juden liiieben Ellen. Was ist los, gehst du schon?«
»Brauche frische Luft«, rief ich ihr zu.
Weg, einfach nur weg. Weg von der quasselnden Maureen, weg vom Automatenfoto, weg von der bekennenden Ypsi-Feuz! Doch war da kein Durchkommen, sogar im Treppenhaus standen sie dicht gedrängt und lauschten ergriffen einer spontanen Ansprache des Dichters Moff, der gerade ins Mikro raunte, Ellens Kunst sei von der Seerosen-Phase über die Solidaritätsbekundungen zu Nicaragua und Europa bis zur Anerkennung der Aidsopfer ein denkwürdiges Ringen um Zeitgenossenschaft gewesen, das nun in der Versöhnung mit der eigenen Herkunft einen unerwarteten Gipfelpunkt erreiche (Raunen). Ein strafender Blick auf Traxel, der gerade seinen Flachmann zückte, dann holte Moff die Pfeife aus der Tasche, schenkte der Runde ein Lächeln und schloss mit den Worten: »Und dafür gebührt dir, liebe Ellen, der tiefe Dank von uns allen.«
Ellen wurde von allen Seiten gedrückt und geküsst; der Feuilletonchef der NZZ bahnte sich einen Weg zum Redner; Traxel soff den Flachmann leer; Moff gab dem Kunstkritiker des Tagesanzeigers ein Statement (»Zürich kann auf seine Ellen stolz sein!«), und als es mir endlich gelang, in den Türbereich vorzudringen, prallte ich mit dem radikal linken Stadtrat Läuchli-Burger zusammen, der völlig aus dem Häuschen war. »Ellen wird gleich ein jüdisches Lied singen«, jubelte er, »gemeinsam mit Rabbi Bodenheimer!« Dann drängte er sich im Gewühl zur Geehrten durch, die, glücklich heulend, von den vielen Händen der besten Freundinnen gestreichelt wurde. Erst draußen, in der herbstkühlen Nacht, merkte ich, dass Maureen die Feier gemeinsam mit mir verlassen hatte.
In dieser Gasse war ich einst zu feig gewesen, um endlich über den Schatten meines Vorgängers Quassi zu springen. Ich hatte es dabei belassen, Maureen gegen die Brandmauer des Kinos zu drücken und an ihrem nackten, von einer Straßenlaterne bestrahlten Hinterteil meinen Hosenstall aufzuknöpfen.
Am schönsten seien die gemeinsamen Herbstspaziergänge gewesen, hauchte Maureen, Dunst über dem See, die Berge fern, welkende Blumen, fallendes Laub, raschelnde Schritte. »Und weißt du, Secondo, niemand konnte besser zuhören als Henry. Henry hat mich zuhörend angenommen. Ah ja, wirklich?, hat er immer gesagt, nicht mehr, nur diese drei Worte, aber wieviel hat er damit ausgedrückt! In diesem Ah ja, wirklich? war seine ganze Persönlichkeit, seine Anteilnahme am Sosein des Partners, sein tiefes Mitgefühl, sein Verständnis für die Frau.«
»Ah ja, wirklich?«
»Ja«, gestand Maureen unter Tränen. »Das Glück war zum Greifen nah. Wir hätten nur zugreifen müssen.«
»Das war nicht so einfach.«
»Doch«, rief sie trotzig. »Wir liebten uns. Er verstand meine Bedürfnisse. Er wollte mich heiraten. Er schenkte mir Blumen. Dass es nicht geklappt hat, war ganz allein meine Schuld.«
»Ah ja, wirklich?«
»Ich bin wieder zur Mutti geworden. Wie bei Quassi.«
Im Odeon, einem Nachtlokal, das bis zwei Uhr offen war, setzten wir uns an die Bar. Bestimmt hatte Quassi auch hier gewaltige Schulden, und sollte einer der Kellner hinter meiner Italomaske den Verhüterli-Sohn und ehemaligen Quassi-Kumpan identifizieren, würden sie nichts unversucht lassen, um durch mich an ihren Zaster zu kommen. Der Anstand gebot es, Maureen auf diese Möglichkeit hinzuweisen: »Hör zu, Puppe, wenn hier gleich die Fäuste fliegen, nimmst du dein Täschchen und haust ab.«
»Warum sollten denn die Fäuste fliegen?«
»Wegen Quassi.«
»Quassi«, schrie Maureen wie von der Tarantel gestochen, »komm mir nicht mit Quassi! Sollte er dir mal begegnen: wegrennen, Secondo, einfach wegrennen!«
»Aber du hast doch darauf bestanden, dass an Weihnachten auch Mutter Gertrud eingeladen wird …«
»Ja, was für eine Dummheit! Die beiden haben den ganzen Sekt weggesoffen, und als wir sie endlich losgeworden sind, hat die alte Gertrud in den Hof gepisst.« Wütend klopfte Maureen mit ihrem alten Finger auf die Zigarette, starrte eine Weile vor sich hin und sagte dann, wieder dem Weinen nah: »Wenn wir uns nicht getrennt hätten, würde Henry bestimmt noch leben.«
Ich tupfte ihr die zerlaufende Wimperntusche von der Wange: »Es war halt vorbei, Maureen. Da kann man nichts machen.«
»Secondo, ich weiß bis heute nicht, wie es passiert ist.«
»Es war im Park am See.«
»Nein, wir waren hier.«
»Ah ja, wirklich?«
»Ja, hier im Odeon. An diesem Tresen. Dann haben wir ein Taxi genommen. Ich war etwas beschwipst, deshalb hab ich Henry meine Tasche gegeben, damit er den Taxifahrer bezahlt. Dann hat er mich nach oben gebracht, in die Wohnung. Ich musste dringend aufs Klo, hab mein Mäntelchen fallen lassen, und weißt du, Secondo, das war typisch Henry – er kam rein, um das Mäntelchen aufzuhängen und im Schlafzimmer das Licht anzumachen.«
»Da hat er die Fotos von Quassi entdeckt.«
»Kann sein …«
»Und du hast Henry zum hundertsten Mal um die Ohren gehauen, wie gut dieser Quassi im Bett sei. Ein Hirsch, hast du gesagt, dennoch zärtlich.«
»Mann! Er hätte mich einfach aufs Bett werfen müssen.«
»Hat er nicht?«
»Nein. Von Quassi hat er gesprochen. Er war’s, der damit angefangen hat. Er wollte mir unbedingt einreden, dass Quassi im Bett bestimmt besser sei als er – ein Hirsch.«
»Aber so doof kann man doch gar nicht sein!«
»Doof? Henry hat an meine Bedürfnisse gedacht. Dann lagen wir beide auf dem Rücken, beide nackt, er mit einem runden Aschenbecher auf dem Bauch … und aus.«
»Wie aus?«
»Unsere Liebe, die Beziehung, die Partnerschaft. Er ist aufgestanden und gegangen. Weil er sich geschämt hat, glaube ich.«
»Moment, das ist doch im Park geschehen, am See, abends, im Nebel!«
»Wie, was …«
»Na, die Trennung! Und mit Scham hatte es nichts zu tun. Wieso soll er sich geschämt haben?«
Sie trank ihre Sektflöte leer.
»Das geht dich einen Dreck an«, sagte sie betrunken. »Er hat sich geschämt, ein Übel zu sein, der Junior eines Verhüterli-Fabrikanten.«
Eine Weile schwiegen wir, beide in Erinnerungen versunken, doch waren es Erinnerungen, die überhaupt nicht zusammenpassten. Sie, die amerikanische Realistin, ließ die Geschichte in einem Aschenbecher zu Asche werden, bei mir, einem abendländischen Romantiker, endete sie im düsteren Nebel eines Parks am See – ohne Streit, einfach so. Wie zwei Duellanten hatten wir uns den Rücken zugedreht und waren dann in schnurgerader Linie auseinandergegangen, beide Fuß vor Fuß setzend, sie in die eine Richtung, ich in die andere. Klar, bei einem Duell wäre man nach einer bestimmten Strecke stehen geblieben, hätte sich umgedreht, mit der Pistole das Gegenüber anvisiert, aber selbst dann, wenn wir bewaffnet gewesen wären, hatte uns damals die Kraft zum Krümmen des Fingers gefehlt. Wie die Liebe war auch unser Hass erloschen, und im wortlosen Entschluss, unser Verhältnis zu beenden, waren wir uns zum ersten Mal einig gewesen. Während Maureen nordwärts davongehumpelt war, mit ihrem Spezialstiefel ein rasch sich entfernendes Klopfen erzeugend, hatte ich mich südwärts abgesetzt, den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in die Taschen gestopft …
Jetzt schob sie mir das Täschchen zu: »Bezahlst du für uns?«
Wir nahmen ein Taxi, und dass ich dem Fahrer die Adresse nennen konnte, fiel Maureen nicht auf – so sehr war sie in ihr Leid versunken, in ihre Trauer um den verlorenen Übel. Wir hielten vor dem Haus, in dem sie wohnte, und wieder, wie im Odeon, bezahlte ich mit Geld aus ihrer Handtasche. Das Taxi wendete, und bald war das Sirren der Reifen auf der nassen Straße verklungen. Das Retourgeld hatte ich vorsorglich eingesteckt, und natürlich wäre es am klügsten gewesen, damit unverzüglich abzuhauen. Doch aus einer Straßenlampe regneten Silbernadeln auf Maureen herab, und ich, von Mitleid gepackt, durchwühlte ein weiteres Mal ihre Handtasche: jetzt, um den Haustürschlüssel auszugraben. Dass ich das schwankende Mädchen dann auch noch die Treppen hochbrachte, bis vor ihre Wohnung, wo ich ein drittes Mal im Müll kramte, bis ich zwischen Tampons und unbezahlten Rechnungen den Wohnungsschlüssel fand, war kein Fehler, höchstens Anstand. Ich lüpfte den Hut.
»Ciao Bella. War schön, dich kennenzulernen«, sagte ich. Und küsste sie.
Sie wand sich aus der Umarmung, humpelte ins Bad, setzte sich aufs Klo, ließ es sprudeln und rief: »Sag mal, Secondo, habt ihr euch gekannt?«
»Den Verhüterli-Sohn hat niemand gekannt«, rief ich ins erleuchtete Bad.
»Ja, ich war wohl die Einzige. Ich hatte ihn so lieb. Und jetzt ist er tot.«
»Woher weißt du das?«
Die Spülung rauschte.
»Quassi behauptet, er hätte ihn gesehen. Auch andere wollen ihn gesehen haben, ein- oder zweimal sogar bei Ellen. Aber sie täuschen sich. Würde Henry noch leben, hätte er sich längst gemeldet. Dann wäre er an deiner Stelle.«
»Er.«
»Ja, er, mein Henry. Und du, Secondo, hättest nicht den Hauch einer Chance.«
»Ah ja, wirklich?«
Ich betrat den Flur, doch nur, um ihr Mäntelchen aufzuhängen und im Schlafzimmer das Licht anzumachen. An der Innenseite der Tür hing der blau-weiß gestreifte Morgenmantel, er hatte Quassi gehört, gleich würde sein Name fallen und mir zum raschen Abgang verhelfen.
Da sagte Maureen, ohne zu schlucken: »Schau, da hängt Henrys Morgenmantel! Zieh ihn an, er passt dir bestimmt.«
Und auf einmal verströmte dieselbe Maureen, die in den Umarmungen des Juniors fad wie Papier gerochen hatte, den Vanillegeruch eines jungen Kätzchens. Auf meiner Glatze bildeten sich Lusttropfen, alles an mir begann zu zittern, der Atem ging schneller. Sie war aus dem Rock geschlüpft und legte sich rücklings aufs Bett, direkt vor mich hin, so dass sich im dünnen Stoff ihres Höschens der Vliesschatten zeigte wie Seegras unter Wasser. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie mich begehrte. Diese Frau mochte ihre Männer immer erst hinterher: nie, wenn sie da waren, erst, wenn sie weg waren. Wenn sie vor dem Schatten des Vorgängers kapituliert hatten und in ihrer Erinnerung zu Objekten wurden, über die sie beliebig verfügen konnte. Maureens Liebe war exisch.
»Willst du dich nicht ausziehen, Secondo?«
Ich studierte ihre Fotogalerie: Maureen, mit Bubikopf, im Dartmouth-College; Maureen mit einem Motorradfahrer in Lederkluft, vermutlich dem Deutschen, der am Gotthard den Tod gefunden hatte; Maureen mit dem Chirurgen, ihrem Ehemann; Maureen mit mehreren Therapeuten, auf einem Psychokongress; Maureen mit Quassi und Maureen mit Übel, und, du heilige Scheiße, seine lange Mähne, sein doofes Grinsen, die etwas schiefe Haltung, die abgetragenen Klamotten, der verzagte Ausdruck zeigten den geborenen Versager.
Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt, nestelte am Spezialschuh.
»Bei Henry«, kicherte sie, »hab ich ihn anbehalten müssen.«
»Ah ja, wirklich?«
»Hör auf, ihn nachzuäffen! Bei dir klingt’s nur komisch.«
Ich stand etwa zwei Meter von ihr entfernt, vom Vanillegeruch zugleich angezogen und abgestoßen. Höchste Zeit, mich zu verabschieden!
»Warum hast du den Schuh anbehalten müssen?«
»Henry mochte Mädchen mit kleinen Defekten. Weil er selber einen hatte.«
»Ah ja, wirklich?«
Auf einer Digitaluhr klickten die Zahlen; in der Tiefe fuhr ein Auto vorüber; Regen sprühte an die Scheiben.
Ich sagte kalt: »In deiner Fotogalerie fehlt jemand.«
»Ellen.«
Ich nickte.
»Seine Mommy hängt man nicht auf.«
»Verkleidest du dich deshalb als Pippi-Girl – um Mommys Töchterlein zu sein?«
»So hat mich Henry immer genannt, Pippi-Girl! Von Pippi Langstrumpf … Secondo, wer bist du?«
Ich studierte meine Fingernägel, und so ganz allmählich kapierte sie, dass ich nicht der Typ war, den sie mit dem Verweis auf den Vorgänger einschüchtern konnte – ich war der Vorgänger. Ich war mein eigener Vorgänger und mein eigener Nachfolger und wusste alles über sie – wie ein Gott. Ich stand vor dem Bett, schweigend, schnaufend, mit feuchter Platte und zog langsam die Sonnenbrille aus der Visage. Ihre Züge verzerrten sich. Sie wurde blass. So blass, als hätte ich sie mit einem Kübel Kalk übergossen. Meine Maske durchschaute sie nicht, noch nicht, aber den Ernst der Lage hatte sie begriffen.
»Ich möchte jetzt schlafen«, sagte sie.
»Ich bin nicht betrunken, falls du das meinst. Drei Negroni.«
»Und ziemlich viel Wodka.«
»Die paar Russen kratzen mich nicht.«
»Warum hast du dich im Galeriehaus weggeknallt?«
»Weil mir Ellens Bekenntnis-Birke auf den Senkel ging. Und dein Gesülze über Übel. Übel war eine Pfeife! Übel war eine lächerliche Pfeife!«
»Bitte geh jetzt«, flehte sie, »bitte …«
Sie hatte recht, ich musste gehen. In einem von Don Sturzos illegalen Schnapsläden konnte ich noch ein paar Drinks in mich hineinschütten, ein paar Pokerrunden gewinnen, den früheren Übel vergessen. Die Digitaluhr klickte; der Regen lief in schrägen Schnüren über die Scheibe. Ich sah mich nach meinem Hut um, ich nahm ihn vom Bett, ich wollte ihn aufsetzen, noch hatte ich mich unter Kontrolle.
»Vielleicht sieht man sich bei Gelegenheit wieder. Ciao. Cara!«
Da machte sie einen Fehler. Es war kein großer Fehler, nur ein kleiner. Sie öffnete meine Hose, holte meinen Schwanz raus und sagte, ihn wie ein Mikro in ihrer Hand haltend: »Ich blas dir einen.«
… und du lieber Himmel, was ging da ab? Ich stieg mit dem Wagen, den Atem anhaltend, in die Senkrechte, dann rasselte das Brückengeländer wie eine Bahnschranke nieder und fand samt der Piste in die richtige Lage zurück, in die gewohnte Ordnung, in die gültige Geographie. Ich aber, zu einem göttlichen Auge geworden, sah vom Himmelsgewölbe herab zu, wie tief unter mir ein spielzeugkleines Auto auf einer langen schmalen schnurgeraden Brücke weitertorkelte, wie es von den Rädern aufs Dach und dann auf die Seite schlug, wobei mein Körper, den ich aus guten Gründen verlassen hatte, in embryonaler Krümmung und zeitlupenhaft langsam durch die enge Wagenkabine segelte. Ich war gleichzeitig oben im Kosmos und drinnen in der Kabine und konnte alles genau verfolgen, kein Detail entging mir, auch nicht der Kater, der sich auf einer parallelen Flugbahn ebenfalls der Frontscheibe näherte. Du heilige Scheiße, war ich nicht allein verunglückt? Hatte mich Dada begleitet?
Zu meiner grenzenlosen Verwunderung hielt ich nicht das Steuer in den Händen, sondern umklammerte Maureens Hals. Zugegeben, Maureens Kichern war mir auf die Nerven gegangen. Ich lebte schließlich ein neues, gutes Leben. Sophia Loren würde sofort mit mir ins Bett hüpfen. Ihrem Marcello konnte ich nach Belieben die Wampe polieren. Die Weidelis hüteten sich, mir frech zu kommen. Die Truppe im Moderne behandelte mich mit dem Respekt, den ein weitgereister Mann mit akademischem Titel verdiente, und als Psychologin hätte Maureen eigentlich wissen müssen, dass ich ihr Kichern nicht dulden würde. Seit Pollazzu war ich ein Mann – das hatte nun auch meine Ex zur Kenntnis zu nehmen.
Schwer und plump hing Maureen in meiner Umklammerung, und als ich sie losließ, rutschte sie schlaff zu Boden. Vor dem Bett blieb sie rücklings liegen. Ohne das misslungene Facelifting, fand ich, hätte sie recht schöne Augen gehabt, groß und dunkel …