Aber Berlin drohte an meinen fehlenden Papieren zu scheitern. Um drei Uhr nachmittags musste ich in Zürich am Flughafen sein, sonst flogen sie ohne mich ab. Der frühere Übel hätte natürlich aufgegeben, ich nicht. Ich überlegte, wie ich zu einem Pass kommen könnte, und nach kurzem Schlaf im Hotel Moderne ging ich nach unten, ließ mir von der Nachteule das Frühstück zubereiten und überflog als erstes die Todesanzeigen in der NZZ. »Gott dem Herrn hat es in seinem unerforschlichen Ratschluss gefallen, meinen innigst geliebten Gatten aus dem tätigen

»Der Scheiß«, raunte ich ihm zu, »gehört dir. Du kannst ihn unter deinem Namen veröffentlichen.«

»Was willst du dafür?«

»Wir besuchen zusammen eine Abdankungsfeier. Wenn ich dir die Hand auf die Schulter lege, nickst du.«

»Ja. Aber ich warne dich, Amico. Spielst du nicht mit, ist dies dein letzter Text.«

Um die Ecke erwartete uns Carlo Ponti, Sophias Mann, ausnahmsweise mit Hut und Regenmantel, aus dessen Ärmeln die Betonpranken hervorsahen. Marcello war aus dem Fräcktal noch nicht zurückgekehrt, deshalb hatte ich seinen Vater als Soldaten aufgeboten. Er verfrachtete den Kunstkritiker in den Fond eines Fahrschulwagens, und der Fahrlehrer, wieder ein alter Itaker, leitete seine Schülerin routiniert durch den Vormittagsverkehr. Nach einem Zwischenstopp bei einem Fotoautomaten, wo ich mir Passbilder blitzen ließ, wechselten wir vom Niederdorf auf die andere Seite der Limmat.

Als wir zum Gotteshaus St. Peter hochfuhren, kroch eine stadtbekannte Limousine vor uns her. Von außen sah sie aus wie ein billiger Mercedes Diesel, ein 190er, die Türen jedoch waren gepanzert, und unter der Kühlerhaube brodelte der Motor einer Edelkarosse. Ein protestantisches Tarnmobil – denn wie lautet das erste Gebot der Zwinglianer und Calvinisten? Du sollst nicht großtun vor deinen Brüdern und Schwestern (und schon gar nicht vor deinen sozialdemokratischen Wählerinnen und Wählern). Einzig der Herr soll sehen, was du auf der Seite hast: auf der Bank, im Tresor oder unter der Kühlerhaube. Sei bescheiden. Sei diskret. Und bei Gott, das war man hier! Anders als auf Sizilien, wo bei einem Begräbnis eine Blasmusik schmetterte, wo wiehernde Pferde mit Federbüschen nickten und hinter dem festlich geschmückten Sarg die Weiber schluchzten, strebten die hiesigen Trauergäste geisterleise auf das Gotteshaus

Ellen Ypsi-Feuz, von ihren besten Freundinnen begleitet, zog gleich hinter den Angehörigen in die Kirche ein. Der protestantische Zahnstocher, Don Sturzos Gattin, warf mir einen überraschten Blick zu – sie fragte sich wohl, was der Gast aus dem Moderne auf dieser Party verloren habe, und zugegeben, ihr Misstrauen war berechtigt.

Ich war gekommen, um den Mann zu stellen, der dem protestantischen Tarnmobil entstiegen war, den radikal linken Stadtrat Läuchli-Burger. Von meinem Soldaten flankiert, an der Hand den leicht schwankenden Kunstkritiker, machte ich mich im Strom der Trauergäste an ihn heran. Als Läuchli-Burger unsere schwarzen Sonnenbrillen registrierte, schien er sofort zu begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Er zögerte kurz, dann setzte er den Weg in

Mit Läuchli-Burger betraten Ponti und ich das Gotteshaus. Es war innen kahl und klirrend kalt, ein ewiger Frost. Kein Tupfer Farbe, keine Zier, kein Bild – das Gebäude huldigte geradezu pompös der Bescheidenheitsdevise des Protestantengottes. Lautlos schloss sich das Portal. Andacht neigte die Häupter. Der Pastor verkündete mit bescheiden geschlossenen Lidern eine Nummer aus dem Gesangsbuch, und es ertönte, unterstützt von einer diskreten Orgel, »Eine feste Burg ist unser Gott«.

Ich nutzte die drei gewimmerten Strophen, um Läuchli-Burger meine Forderung zu unterbreiten: »Ich brauche einen Pass auf den Namen Heinrich Übel junior.«

Reglos nach vorn blickend, zur Urne, die ohne Blumenschmuck auf einem Sockel stand, hörte mir der Stadtrat zu.

»Amico«, beendete ich meine Ansprache, »wir wissen, dass du nicht so ahnungslos bist, wie du dich gibst. Die Apotheke, wo man das Killer-Rezept abgegeben hat, ist dir und deinen Bullen bekannt.«

Läuchli-Burger fragte emotionslos: »Wollen Sie damit an die Presse?«

Ich legte dem Kunstkritiker die Rechte auf die Schulter. Der Kritiker nickte. Der Stadtrat kapierte.

»Bis wann müssen Sie den Pass haben?«

»Um drei muss er am Flughafen sein.«

Unterdessen hatte der sedierte Pastor, der immer wieder die geföhnte Haarwelle in den Nacken schüttelte, ein »mit dem Verstorbenen befreundetes Glied der Gemeinde« in den Chor gebeten, und es erstaunte mich nicht im Geringsten, dass dieses Glied der Dichter Moff war. In bekannter Manier setzte er dazu an, dem so unerwartet, so überraschend, so plötzlich Dahingegangenen einen »Trauerkranz zu winden«. Er schilderte ihn als liebenden Gatten, als besorgten Familienvater, als unauffälligen Devisenhändler und insbesondere als aufrechten Sozialdemokraten. Er hob das stille Wirken im Hintergrund hervor und sprach, die Lider und die Stimme senkend, von einem Dasein in Demut, einer Existenz in frommer Ergebenheit: »Der nun Dahingegangene verstand sich selbst als Diener, sein Dasein als Dienst.«

Wie Moff anschließend vom Verblichenen auf die Ypsi-Feuz kam, auf ihre Aids-Tanne und die Bekenntnis-Birke, verpasste ich leider – Ponti und ich hatten den Stadtrat in die Mitte genommen und begannen mit der Bearbeitung. Ich stieß ihm meinen linken Absatz auf den Fuß, Läuchli-Burger kippte leicht nach vorn, und als er sich mit der Linken abstützte, geriet diese unter die grau vermörtelte Pranke des Poliers. Der drückte zu.

»Entweder bekomme ich den Pass, Herr Stadtrat, oder Ihre Finger werden platt wie Löffelchen!«

Der Schweiß brach ihm aus, doch war sein zwinglianisches Über-Ich stärker als der Schmerz. Er hielt durch. Er biss die Zähne zusammen. Er gab keinen Ton von sich, und

»Sollten sie mich am Zoll in irgendeiner Weise behelligen, wirst du morgen die Schlagzeile sein, nicht wahr, Amico?«, sagte ich beim Verlassen der Kirchenbank und legte dem Kunstkritiker abermals die Rechte auf die Schulter. Den Kunstkritiker drängte es, mit der Eloge auf Ellen in die Redaktion zu eilen, und mit einem weiteren Nicken machte er den Deal perfekt.

 

Nur wenige Passagiere verteilten sich in der Kabine der verlotterten Pan-Am-Maschine, und sei es, dass die Hostess am Terminal meinen Namen mit der Gummifabrik in Verbindung gebracht hatte, sei es, dass ich per Zufall an diesen Sitz geraten war: Am Fenster brütete der Reklamechef über einem Kreuzworträtsel. Zwei Reihen hinter uns verlor sich der Rest der Delegation: die Gute, der Gummi-Ingenieur, der jugoslawische Versandleiter sowie zwei weitere Herren, vermutlich ebenfalls Jugos, die erst nach meiner Zeit in Kaderpositionen aufgerückt waren. Dass ER ganz vorn saß, im VIP-Bereich, kam mir entgegen – ich wollte ihm nicht inmitten seiner Leute begegnen. Niemand erkannte mich, auch nicht der Rätsellöser. Als wir den Gurt umschnallten, fragte er über den leeren Mittelsitz hinweg: »Bezeichnung für das sowjetisch besetzte Deutschland, sieben Buchstaben«?

»Ostzone.«

Vor einigen Jahren war es hier im Westteil zu Aufständen gekommen. Polizei-Kavallerie war auf demonstrierende Studenten losgeritten, zwar nicht mit gezogenen Säbeln, aber mit Gummiknüppeln, weshalb die Zöllner die Fräcktaler Gummiwerke freundlich durchwinkten – ein kurzer Blick in den Musterkoffer hatte uns die Stadt geöffnet. Überall wölbten sich Wampen, glänzten runde Wangen, füllten gewaltige Ärsche den glänzenden Hosenboden – wenn der Kessel eingenommen würde, wollten die Westberliner offenbar genug Fettreserven haben, um im Sozialismus zu überleben. Niemand hatte etwas dagegen, dass ich ebenfalls in den Hilton-Bus einstieg – ohne die nötigen Unterlagen. Diesmal setzte mich der Zufall neben die Gute, und aus scheuen Blickkontakten entwickelte sich rasch ein oberflächliches Gespräch.

»Sind Sie im Verkauf tätig?«, fragte sie. »Ist es Ihr erster Kongress?«

Der Portier des Hilton glich Peter Lorre, dem Mörder in »M«, allerdings war er ebenfalls gegen eine allfällige Eroberung durch die Bolschewiken mit Fettpolstern gewapp

»Meine Rechnung übernehmen die Übel-Werke, Fräcktal, Schweiz.«

»Doktor Übel-Werke«, sagte der Portier höhnisch und griff nach meiner Reisetasche.

Der Kongress fand in einem futuristischen Gebäude statt, einer Stahlkonstruktion aus aneinandergefügten Hangars, die im Innern von riesigen Röhren durchzogen wurden. Die »mutige Architektur« (Kongressunterlagen) sollte die Zukunft der Weststadt symbolisieren, ging jedoch bereits in einen rostigen Zerfall über. Dr. Heinrich Übel fiel wie immer die Ehre zu, bei der Eröffnung als Vertreter der mittelständischen Unternehmer ein Grußwort zu halten, und

Sein Deutsch war kehlig rau, sein Französisch ein Kauderwelsch, das Englisch eine Katastrophe, doch war diesem Mann die Haupteigenschaft seiner Materie eigen: die Elastizität. Er war ein Bauer, der über dem feisten Nacken seinen Doktorhut schwenkte, und ein Geschäftsmann, der farbig erzählte, wie er als junger Wilderer einer geschossenen Gemse das Blut vom Hals geleckt habe. Nach allen Seiten schüttelte er Hände, scherzte mit britischen Kautschukpflanzern, knüpfte Kontakte, ließ die Gute Verabredungen treffen, und einer Journalistin diktierte er in den Block, wie er aus dem kargen Boden eines Alpentals ein europaweit operierendes Unternehmen gestampft habe. »Wissen Sie«, raunte er der Dame zu, »ich habe ein todsicheres Motto – nicht mit sich selber diskutieren, mit sich selber diskutieren macht schwach, zupacken, handeln!«

Ab elf Uhr nachts traf man sich in der Hilton-Bar, wo der Senior wieder seine Sprüche zum Besten gab (ich kannte sie seit Kindertagen): »Habe in meiner Person stets dem Allgemeinen gedient, der freien Marktwirtschaft, der Gum

Und dann im letzten Februar der dumme Sturz. Eine harmlose Beule. Um weiteren Stürzen die Gefährlichkeit zu nehmen, ließ er den alten Sportboden wieder auslegen, und als die schwarzen Gummimatten, wie von ihm angeordnet, das gesamte Büro auskleideten, als sie auch die Wände bedeckten, die Fenster, die Türen, die Spiegel, musste er feststellen, dass er sich sein eigenes Grab geschaffen hatte. Der Tod war sichtbar geworden. Er schloss ihn ein. Da packte den Stier die Panik. Er wollte sich befreien. Er schrie nach dem Sohn. Der wollte dem Vater zeigen, dass er in all den Jahren nicht untätig war. Er schaffte fast seinen gesamten Papierpalast in den Wagen (holte so den Kater als blinden Passagier an Bord) und verließ Zürich gegen Mitternacht. Auf der N 3 kaum Verkehr, noch verlief alles nach Plan, und wäre genug Benzin im Tank gewesen … aber eben: Es

Durch das Hotelfoyer trottete der Stier jetzt auf die Lifte zu, die Hörner gesenkt, die Augen trüb – alt war er geworden, schwerfällig, langsam. Als er die Kabine betrat, drehte er sich nicht um. Seine Zeit war vorbei, und das lag nicht nur an ihm. Im Plastozän hatte der Kautschuk ausgespielt – das machte der Gummikongress, der in dieser verlorenen Halbstadt abgehalten werden musste, auf trostlose Weise deutlich. Wenn Bradbury einen weiteren Witz über die comfy pants abschoss, tönte das Lachen der ehemaligen Kautschukpflanzer gezwungen. Den greisen Kapitänen sank das Haupt auf die Brust. Die Bar begann sich zu leeren. Um zwei Uhr nachts schwammen nur noch ein paar asiatische Pornohändler wie Haie durch das schummrige Bargewässer, und zwei sich verbeugende Japaner steckten der Guten Visitenkarten zu, auf denen sie ihre Zimmernummer notiert hatten. Die Gute warf die Kärtchen zerfetzt in einen Aschenbecher, trat mit ihrem Glas an meine Seite und fragte: »Sind Sie nicht der Mann aus dem Bus? Trinken wir noch einen?«

Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich ihr irgendeinen Unsinn über meine Zeit in den Tropen erzählt, und Bradbury, auf der Suche nach einem letzten Spender, behauptete steif und fest, er habe mir »draußen« mal geholfen.

»Sir«, sagte er, »hätte gegen eine Revanche nichts einzuwenden, Sir.«

Erst unter der Dusche fiel es mir ein: Abraham.

 

Am nächsten Vormittag hörte ich mir einige Referate an, und hätte ich noch nicht gewusst, was Langeweile ist – jetzt hätte ich es erfahren. Ein Professor der Kieferorthopädie äußerte Bedenken gegen Gummischnuller; schwedische Product-Designer stellten Fetische vor; eine Gewerkschaftsfunktionärin plädierte für mehr Mitbestimmung, »auch und gerade in der Gummi-Industrie«, und eine schwangere Biologin in Latzhosen forderte die Kautschukgewinnung aus Löwenzahn. Das Mittagessen wurde von der Berliner-Kindl-Brauerei gesponsert: eine Pulle Bier sowie eine currygepuderte Wurst mit Ketchup und Mayonnaise, die man in zwei Varianten haben konnte: mit oder ohne Darm – wie die Einheimischen sagten: mit oder »mit ohne«. Wieder fiel mir der Heißhunger der Insulaner auf, und nicht nur die Kellnerinnen, auch die Gattinnen der Politiker, die weiblichen Abgeordneten und sogar die Nutten sahen aus wie Dreihundertpfund-Walküren einer Wagner-Oper. Dass sich der Senior diesen Termin schenkte, konnte ich nachvollziehen, aber dass er auch danach fehlte, in der Halle auf dem Messegelände, fand ich doch etwas seltsam. Zudem störte es mich, dass sich der Reklamechef wieder an meine Fersen heftete (etwa im Auftrag des Seniors?), und das Schlimmste war: Ich verwickelte mich in ein Techtelmechtel mit Pepita.

Pepita gehörte zum Tross des Seniors und moderierte die

»Liebe Berlinerinnen, liebe Berliner«, flötete Pepita ins Mikro, »im Namen von Herrn Doktor Übel darf ich euch zurufen, wie glücklich wir sind, hier bei euch sein zu dürfen, im freien Berlin.«

Am Abend fand in einem bayerischen Festzelt eine Gummi-Revue statt, dazu Blechmusik, Bierschwemme, Miss-Gummi-Wahlen, Tombola, Polonaisen. Irgendwann, es musste gegen Mitternacht gewesen sein, hockte ich in der menschenleeren Ausstellungshalle allein im Stand der Übel-Werke. Ich war eingenickt – und plötzlich schmiegte sich Pepita an mich.

Pepita, die unter dem Silbermantel in einen Ganzkörperanzug gepresst war, wollte reden, nur ein bisschen reden. Ich hörte ihr geduldig zu, und während in den Oberlichtern der Halle nächtliche Wolkengebirge vorüberzogen, kamen wir einander näher. Für mich sei die Messe bestimmt eine aufregende Sache, meinte Pepita, den Handrücken elegisch an die Stirn gelegt, sie hingegen habe schon alles erlebt, alles durchgemacht, alles durchgestanden, auch in Städten, die noch trister seien als Westberlin, zum Beispiel Mülheim an der Ruhr, wo sie sich eines Nachts in der Fußgängerzone verlaufen und erst nach langem Herumirren durch eine doppelspurige Straßenunterführung zur Pension gefunden habe.

»Die Gute«, sagte ich lächelnd.

»Die Gute, o ja. Stets und ständig muss ich die Gute sein! Die gute Gute, die Tag und Nacht dafür sorgt, dass unser Dampfer auf Kurs bleibt. Aber hat sich je einer gefragt, ob sie auch einen Namen hat, die Gute? Du, sag jetzt nicht Pepita! Pepita ist mein Künstlername! Die Pepita bin ich für mein Publikum, für die Leute in Liverpool, Zagreb, Mülheim an der Ruhr und Westberlin.«

»Auch für deinen Chef bist du die Gute«, warf ich ein.

»Ja, natürlich. Gute hier, Gute da! Gute geh, Gute mach! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass der Herr Doktor Übel weiß, wie ich wirklich heiße.«

Ich hob die Schultern.

»Ingeburg«, gestand sie und brach in ein hemmungsloses Schluchzen aus, »Ingeburg!«

Ich bebte vor Verlangen, möglichst bald nach drüben zu gehen, nach Köpenick, zu meinem sozialistischen Engel, und insofern war es gewiss ein Fehler, auf der Taxifahrt ins Hilton die Zärtlichkeiten der Guten zu erwidern, zumindest ein bisschen. Doch waren wir beide angesäuselt, und ich hatte wahrhaftig einen Grund, mir die heimliche Leitung

 

Die Fahrt zum Hilton führte durch die halbe Halbstadt, weshalb ihm die Gute erlaubte, bei einer Wurstbude am Bahnhof Zoo einen Zwischenhalt einzulegen. Dort hingen noch andere Taxler am Tresen, und es war erstaunlich, wie rasch unser Mann zwei Würste verdrückte und einen Jägermeister hinterher schüttete.

»Woran denkst du?«, fragte die Gute.

Ich konnte es ihr nicht sagen. Der Gedanke war mir selber ein bisschen peinlich. Vielleicht hatten die Fresser der Weststadt, die die Eroberung durch die Roten fürchteten, gar nicht so unrecht. Vielleicht herrschte drüben tatsächlich ein gewisser Mangel – und zu peinlich, ich würde morgen mit leeren Händen kommen, ohne Schweizer Schokolade! Verschämt löste ich mich von der Guten, hatte sie aber gleich wieder an der Backe und war froh, als wir endlich das Hilton erreichten. Der Fahrer bugsierte seine weit über den Hosenbund herabhängende Wampe aus dem Taxi und gestand mir zwinkernd, an der Bar eine Handvoll Salznüsschen ergattern zu wollen. Wie gestern um diese Zeit schwammen dort die Haie herum, im Foyer röhrten Staubsauger, und in einer Sitzgruppe saß der Reklamechef, sein Heft auf dem Schoß. Er, das Reptil und der blinde Marder hatten als einzige alle Säuberungen im Werk überstanden, und da der Reklamechef nicht gerade durch Fleiß, schon gar

Ich musste passen. Die Gute wusste es. »Mesalliance«, sagte sie pikiert.

Statt auf die Zimmer zu gehen, um noch etwas Schlaf zu bekommen, landeten wir zu dritt auf einer Party, die ein Porno-Khan aus Hongkong in seiner Suite veranstaltete. Es wurde gekokst gesoffen gekifft, und eh ich mich versah, landete ich mit der Guten und einer Pulle Sekt auf einer Ottomane. Sie, immer noch gummiert und im Silbermantel, redete wieder auf mich ein … und redete und redete, und, du lieber Himmel, ich war es ja gewöhnt, von meinen Mitmenschen zugetextet zu werden. Zuerst hatte mich der Senior mit seinen Weisheiten abgefüllt, dann war ich der Beichtvater meiner Ersatzmutter Cala geworden, und hatte ich im Malatesta Isidor Quassi gegenübergehockt, konnte ich sicher sein, dass sein Monolog mit der stets gleichen Klage enden würde: Das Leben. Die Weiber. Ein dummer Zufall. Hätte ich doch. Wäre ich nur. Eigentlich. Aber. Vergiss es … kurz, als Lebensmüllschlucker war ich hart im Nehmen. Ich flocht nur hie und da ein »Ah ja, wirklich?« ein, legte meine Hand auf ihre, nickte, seufzte, schwieg – und das war leider ein Fehler. Kein großer Fehler, nur ein kleiner, aber auch er sollte Folgen haben.

»So gut wie du«, seufzte die Gute, »hat mich noch keiner verstanden.«

Erst jetzt – und offensichtlich zu spät – bekam ich mit, wovon sie seit längerem sprach.

»Was …«

»Sex«, sagte sie spitz.

Das Gespräch erstarb. Wir nuckelten an der Sektpulle, und wäre in diesem Moment nicht das Mondgesicht des Reklamechefs über uns aufgegangen, hätte ich wohl den Abgang geschafft. Er stand im Rücken der Ottomane und fragte maliziös: »Zentralbegriff bei Freud, sechs Buchstaben?«

»Libido«, jauchzte die Gute, worauf der Reklamechef grinsend abtauchte. Auch andere verzogen sich, die Orgie begann zu ermatten. Der Porno-Khan lag rücklings auf dem Bett, eingerahmt von zwei schnarchenden Walküren im aufgeschnürten Dirndl. Vor uns kauerte ein kleiner Malaie und gab uns mit Gesten zu verstehen, dass er uns beim Ficken zuschauen wollte. Sollten wir vielleicht die Nummer wiederholen, die Ingeburg und Heinrich einst gespielt hatten? Ich erinnerte mich kaum an jene Zeit, aber vollständig ließ sie sich leider nicht vergessen. Im zweiten Jahr meiner Tätigkeit in der Werbeabteilung war ich nach einer Weihnachtsfeier in der Betriebskantine im Bett der GdV gelandet und bis in den Februar hinein ihr Liebhaber geblieben. Sie hatte mich mütterlich umhegt und umgarnt,

Da klingelte nah ein Telefon, und auf einmal drückte der Malaie zu unseren Füßen ein klobiges Plastikgehäuse an sein Gesicht: mit einer Tastatur, einem runden Sprechgitter sowie einer kleinen, dicken, gummigenoppten Antenne. Hastig redete er los, chinesisch oder malaiisch, und kaum zu glauben, aber wahr, aber wirklich: Ich sehnte mich derart nach der Aktivistin, dass ich mir einbildete, der Malaie telefoniere – drahtlos.

»Verzeih, ich muss ins Bett«, befreite ich mich von Ingeburg.

»Würdest du so lieb sein, mich auf mein Zimmer zu begleiten?«

Als wir die Suite verließen, telefonierte der kleine Malaie noch immer, und, du heilige Scheiße, jetzt hielt auch der Porno-Khan, der sich wieder über die Walküre hermachte, ein telefonartiges Plastikgehäuse an seinen Schädel! Redete der Khan auf die Walküre ein? Nein, die Walküre bumste er, aber trotzdem schien er abwechselnd konzentriert zu lauschen und konzentriert zu sprechen, und zwar in das fahlweiße, leicht abgeknickte Ding hinein. Brach da plötzlich die drahtlose Telefonie aus? Ach was, besoffen war ich. Oder bekifft. Und vor allem derart verliebt, dass ich einer

»Kommst du endlich?«

Am Arm führte ich die Gute durch die öden Hilton-Gänge, und es überraschte mich keineswegs, dass wir am Lift dem Reklamechef begegneten.

Ich: »Bedeutende Persönlichkeit, zwei Großbuchstaben?«

Der Reklamechef: »ER

»Lassen Sie ihn grüßen, gute Nacht.«

 

Vor Ingeburgs Zimmer bedankte ich mich für den schönen Abend.

»So nimm doch wenigstens den Hut ab, du ungehobelter Pflanzer!«, schimpfte sie mit einem koketten Augenaufschlag.

Ich gehorchte.

Sie betrachtete meinen Kahlschädel: »Wenn ich bloß wüsste, an wen du mich erinnerst!«

»Vielleicht an Heinrich?« – und schon war es zu spät, mein Bekenntnis durch ein schiefes Grinsen zu relativieren.

Sie zog mich ins Zimmer und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. »Du bist kein Kautschukpflanzer«, versetzte sie scharf, »du warst nie in Afrika.«

»Meinst du?«

»Zur Sache. Worum geht’s?«

»Um den Unfall des Juniors.«

Sie schüttelte den Kopf: »Keine Chance, Mister, die Akte ist geschlossen, der Fall erledigt.«

»Ihr habt ihn halbtot nach Sizilien spediert.«

»Das stimmt nicht.«

»O doch. Der Junior hatte eine Fahne. Eine fürchterliche Fahne. Marder hat ihn notdürftig verarztet. Am nächsten Abend brachten wir ihn nach Zürich.«

»Erst am nächsten Abend …«

»Vorher war er nicht transportfähig. Die Gummibranche ist heikel«, erklärte sie schnippisch. »Wir produzieren Hygieneartikel. Ein Unfall infolge Trunkenheit wäre fatal gewesen. Auf den Namen Heinrich Übel durfte nichts kommen.«

»Wie wurde er nach Sizilien transportiert?«

»Im Nachtzug. Er hat direkte Wagen bis Reggio. Von dort war es nur noch ein Sprung auf die Insel.«

»Wer hat ihn begleitet?«

»Cala und Palombi. Cala stammt aus Kalabrien, Palombi aus Sizilien. Die beiden kennen sich dort unten aus. Palombi hat ihn bei einem Onkel einquartiert, irgendwo im Süden.«

»Das ist mir neu.«

»Der Onkel ist zuverlässig, verschwiegen wie ein Grab, aber in den Nächten meistens draußen, auf dem Meer. Ein Fischer. Als Heinrich wieder halbwegs bei Kräften war, ist er auf und davon.«

»Wie die verletzte Füchsin.«

»Was für eine Füchsin?«

»Ach, das ist eine alte Geschichte.«

Die Gute griff mit der Rechten zur Spange, die ihren silbernen Umhang am Hals zusammenhielt: »Schnüffelnase, für wen arbeitest du?«

»Das Reptil behauptet, am Abend unserer Abreise nach Berlin sei er in die Fabrik zurückgekehrt«, sagte sie.

»Heinrich?«

»Ja, Heinrich. Also liegt die Vermutung nahe, dass du hinter ihm her bist.«

»Klingt irgendwie plausibel«, gab ich zu.

»Du bist nicht sein Mann, Schnüffelnase. Du verfolgst ihn.«

»Lassen wir das mal beiseite, Herzchen.« Ich zog die Hutkrempe etwas tiefer in die Stirn. »Mich interessiert vor allem der Weihnachtsmann.«

»Zu dumm«, rief sie plötzlich und schüttete wie Maureen ihre Handtasche aus. »Hast du ein Verhüterli dabei? Ich habe alle verschenkt.«

»Heinrich«, insistierte ich, blieb aber am Fenster stehen, so dass ich vor dem Morgengrauen ein Schatten für sie war, »ist als Weihnachtsmann in der Villa erschienen. Im Februar!«

Ich lachte, sie nicht. Im Zwielicht der Dämmerung ragte ein alter Kopf aus dem faltenlosen, bläulich schimmernden Gummileib. Der Inhalt ihrer Handtasche lag verstreut auf dem Bett, und ich hatte wieder einmal Anlass, mich zu wundern, was für seltsame Dinge Damen mit sich herumschleppten. Maureen hatte es fertiggebracht, in der mitgeführten Mülldeponie sogar ihre Wohnungs- und Autoschlüssel zu verlieren. Calas Handtasche hatte ein Innenleben enthüllt, vor dem einem angst werden konnte,

»Wenn du wissen willst, was mit dem Weihnachtsmann los war, musst du den Stier fragen«, unterbrach sie meine Gedanken. »Auf der Sightseeing-Tour ergibt sich bestimmt eine Gelegenheit.«

»Glaubst du, dass er dabei ist?«

»Ich denke schon. Irgendwo an der Mauer will er fotografiert werden, an derselben Stelle, wo sie Kennedy fotografiert haben. Soll ich die Gummihaut anbehalten? Oder machst du’s lieber ohne?«

»Mit ohne«, sagte ich, legte den Hut ab und ließ mich in einen Sessel fallen. »Pass auf, Herzchen. Die Geschichte geht so: Im letzten Februar holt sich dein Chef bei einem harmlosen Sturz eine Beule. Da er befürchtet, er könne demnächst wieder hinfallen, lässt er sein Büro mit den alten Gummimatten des niemals in Produktion gegangenen Sportbodens in eine Gummizelle verwandeln. Kein großer Fehler, aber einer mit Folgen. Um sich seine Unsterblichkeit zu erhalten, hat er sich in sein Grab eingeschlossen. Die Zentrale ist zum Mausoleum geworden, mit dir, der Vorzimmerdame, als Cerberus – der dreiköpfige Hund mit

»Ich wollte ihn abfangen, oben, vor der Villa, aber als er aus dem Wagen gestiegen ist …«

»Als Weihnachtsmann.«

Sie zuckte zusammen.

»Vor dem Weihnachtsmann«, scherzte ich, »brauchen anständige Mädchen keine Angst zu haben. Bei denen lässt er die Rute im Sack. Oder bist du vielleicht nicht so brav, wie du dich gibst, hm?«

»Spar dir deine Witze.«

»Das Kostüm war eine Panne.«

»O nein: Absicht!«

»Für wie blöd hältst du ihn?«, blaffte ich sie an. »Er kam unterwegs in Schwierigkeiten. Deshalb musste er sich umziehen. Ich habe die zerrissene Hose in der Total-Tankstelle gefunden, im Kassenhäuschen.«

»Lass uns von etwas anderem reden«, bat sie und zupfte sich die Handschuhe von den Fingern.

»Der verlorene Sohn kam im falschen Kostüm zum Vater. Das war lächerlich, zugestanden, aber ohne Bedeutung.«

»Von diesen Dingen weiß ich nichts«, sagte sie.

»Es könnte der entscheidende Punkt sein«, sagte ich. »Raus damit, Herzchen, Klartext!«

Stille lastete im Raum. Die Nacht steckte nur noch in den gelben Lichtflecken der Lampen.

»Du spinnst.«

»Hör zu. Nach der kurzen Unterredung mit dem Vater …«

»Eine Stunde hat sie gedauert.«

»Wer sagt das?«

»Das Reptil.«

»Es waren nicht mal fünf Minuten. Dann ist er davongestürzt.«

»Immer noch im Kostüm?«

Sie fixierte mich. Dann fragte sie hinterhältig: »Woher hast du eigentlich den Schmiss?«

»Geht es um tutti, stehe ich meinen Mann.«

»Ja«, meinte sie mit einem falschen Lächeln, »du hast einen gierigen Blick hinter deiner Brille. Willst du sie nicht endlich abnehmen … und die Handschuhe ausziehen?«

Sie hatte es geschafft, meinen Unfall wieder in ein Rätsel zu verwandeln, aber du lieber Himmel, was war von ihren Behauptungen zu halten? Durfte ich ihr trauen? War der Umhang des Weihnachtsmanns tatsächlich das rote Tuch, das zwischen Junior und Senior zu einer Auseinandersetzung geführt hatte?

Ich konnte es kaum glauben, und von der Guten, das spürte ich, war in dieser Sache nichts mehr zu erfahren. Sie war ihrem Boss in Treue ergeben, und nicht einmal dann, wenn ich mich als der Junior outete, würde sie auf meine Seite wechseln, denn die GdV war eine Konvertitin, und Konvertiten, wer wüsste es nicht, pflegen die neue Religion zu übertreiben. Die Geschichte hatte ich nicht von ihr

 

GdV, Gute des Vorzimmers. Als damals ruchbar geworden war, dass ein Konsortium den Bau der Talsperre plane, hatte eine junge Primarlehrerin gemeinsam mit einem jungen Vikar den Widerstand gegen das Projekt organisiert. Anfänglich mit Erfolg. Die Zeitungen gaben dem Konsortium keine Chance. Aber dann war der erste Stall in Flammen aufgegangen, und die bischöfliche Kanzlei soll durch ein anonymes Telefonat erfahren haben, dass die Lehrerin Sowjetblusen trage. Sowjetblusen! – das war in der streng katholischen Innerschweiz ein größerer Skandal als das Gerücht, die Lehrerin würde vom Vikar ein Kind erwarten. Der Vikar floh ins Unterland, wo er die schwarze Soutane mit dem Weißkittel des Medizinstudenten vertauschte und über dem Mikroskop seine Augen vollends zerstörte. Die Armee erklärte ihn für untauglich, die Verlobung mit der Tochter eines Landarztes wurde annulliert, für eine Praxis fehlte ihm das Geld. Also kehrte er anno ’49 ins Tal zurück, nun als Doktor med. Mit den dicken Brillengläsern dürfte er nicht mehr allzuviel gesehen haben, doch immerhin genug, um bei der Rückkehr seinen Augen nicht zu trauen. Ein länglicher See spiegelte den Himmel; eine Brücke verband die beiden Längsufer; eine Fabrik ließ aus ziegelsteinroten Schornsteinen Rauchfahnen wehen, und das ursprüngliche Dorf hatte sich in zwei Hälften geteilt, in Vorder- und Hinter-Fräck. Einzig das Wirtshausschild am Frohsinn, ein schmiedeeiserner Pan, kam Marder, als er sich direkt darunter stellte und die Brille nach oben richtete, vertraut

 

Ich löste mich vom Fenster, machte einen Schritt auf die Gute zu. Sie verströmte ihren Gummigeruch, aber die Selbstsicherheit war von ihr abgeglitten wie das seidene Mäntelchen. »Die ganze Brücke war voller Ordner, voller Papiere«, kehrte sie unvermittelt zu meinem Unfall zurück. »Als hätte es Heinrich darauf angelegt, seine Geschichten zu veröffentlichen.«

»Wer hat die Papiere nach dem Crash eingesammelt?«

»Die Werksfeuerwehr.«

»Du hättest dich darum kümmern sollen!«, schrie ich sie an. »Heinrich hat dem Alten nur die Arbeitsleistung zeigen wollen, nicht die einzelnen Artikel. Der Text selbst war weder für dich noch für ihn bestimmt!«

»Mitten in den Papieren lag ein verletzter Kater.«

»Ist das wahr?«

»Ja«, brachte sie unter Tränen hervor. »Ich dachte, er stirbt.«

Sie sagte: »Ich bin über die Brücke zurückgerannt, mit dem blutenden Tier im Arm.«

Ich wiederholte es wie ein Gebet: »Du bist über die Brücke zurückgerannt, mit dem blutenden Tier im Arm …«

»Am nächsten Morgen hat ihm unser Werksarzt eine lange Wunde genäht, unten am Bauch. Drei Tage und drei Nächte kämpfte der Kater um sein Leben. Trank Wasser gegen sein Fieber. Erbrach sich. Schien tot zu sein. War vielleicht tot. Wachte wieder auf und leckte das Erbrochene weg. Es war schrecklich, schrecklich … und dann, auf einmal, hat er sich gereckt und gestreckt und ist mit hoch erhobenem Schwanz aus dem Saniraum hinausspaziert. Seither macht er einen großen Bogen um diesen Ort. Der Geruch ist ihm unangenehm, vermutlich auch der Mardergeruch – den Heinrich übrigens ziemlich treffend beschrieben hat, als eine Mischung aus Chloroform, Lavendel, Zigarre.«

Ums Haar hätte ich mich für das Lob bedankt, aber die Rührung übermannte mich. Meine Augen füllten sich mit Wasser.

»Danke«, sagte ich leise. »Danke, dass du dem Kater das Leben gerettet hast.«

Sie starrte mich an.

»Du bist es«, rief sie schluchzend. »Du bist Heinrich.«

Dann fiel sie mir um den Hals, zitternd am ganzen Leib. Sie wurde in der Fabrik von allen gefürchtet, doch nun kam

»Ingeburg«, sagte ich, »du hast alles richtig gemacht.«

»Nein. Ich hätte mich um dich kümmern müssen. Wir dachten, dass du noch im Wagen bist. Die Werksfeuerwehr hat eine Tür aufgeschweißt, vorsichtig, um dich nicht zu verletzen …«

»Es hat heftig geschneit in jener Nacht.«

»Zwanzig Zentimeter Neuschnee. Wäre ich an der Unfallstelle geblieben, hätte ich bestimmt gemerkt, dass da eine Blutspur war … eine Fährte aus roten Tropfen … sie ging zum Friedhofsufer …«

»Es war die falsche Richtung, Ingeburg. Und auch die längere Strecke.«

»Ja«, sagte sie traurig. »Nach der Begegnung mit dem Vater hattest du wohl keine andere Wahl. Ich hätte es wissen müssen.« Sie heulte jetzt hemmungslos. »Aber ich dachte, du bist tot, eingeschlossen im Wrack. Ich wollte nicht warten, bis sie endlich die Tür aufgeschweißt haben …«

»Da hast du den blutenden Kater über die lange Brücke zur Pforte getragen.«

»Ich kann ein Tier nicht leiden sehen, Heinrich. Es drückt mir das Herz ab.«

»Ingeburg«, ich legte ihr zwei Finger unters Kinn und hob es ein wenig an. »Fürchte dich nicht! Es wird alles gut. Drüben im Osten haben sie ein Patent, mit dem wir die Welt erobern werden. In unserem Kinderwagenmodell »Erika« plärrt nicht das Baby, da klingelt in Zukunft das Telefon!«

Schrill lachte sie auf, dann verging ihr das Lachen, und als ich die Tür zuzog, lag die alte Gummipuppe rücklings auf dem Doppelbett.

 

Am Vormittag wieder das übliche Programm: Referate Modeschauen Podiumsdiskussionen, und nach einem Stehimbiss mit Bier und Bouletten, diesmal unter der Ägide des Regierenden Bürgermeisters, wurde der gesamte Gummikongress in Busse verladen. Unser Stadtführer stellte sich als Ex-Scharführer der SS vor. Er stand vorn beim Chauffeur im Mittelgang und hielt das Mikro mit einer Kunsthand aus schwarzem Hartgummi, was allgemein mit Wohlgefallen registriert wurde. Der rechte Ärmel des schwarzen Ledermantels steckte flach in der Seitentasche, und eine schwarze Augenklappe machte ihn zu einem Kyklopen, der uns die gleiche Verachtung entgegenbrachte wie Polyphem, sein sizilianischer Urahn, den ersten Inseltouristen, als die unter der Führung des listenreichen Odysseus in die Höhlenkäserei hineingetrampelt waren.

»Werte Gäste des freien Berlin«, bellte der Ex-SS-Mann aus den Lautsprechern, »war in Stalingrad. Gehörte zu den letzten, die rausgekommen sind. Weiß, was ein Kessel ist. Dass mir der Iwan den Arm weggeschossen hat, kam mir seinerzeit gelegen. Hat mir den Hitlergruß erspart!«

Gelächter und Applaus. Dann fuhren wir los, quer durch die Stadt, wobei der einarmige Scharführer einen Abriss über Berlins jüngere Geschichte ins Mikro schnarrte: Roaring Twenties, Tingeltangel, blauer Engel, Inflation,

Applaus. Als wir in eine Seitenstraße des Kurfürstendamms einbogen, wies er auf die oberste Etage eines Gebäudes hin. »Dort haben sie Willy Brandt die Miezen hinjebracht, jede Nacht ‘n halbes Dutzend! Willy war ein verdammter Sozi, hat aber mehr vernascht als die Kennedy-Brüder.« Bei einem Zwischenhalt vor dem dunklen Reichstag: »Auf diesem Platz war anno ’33 janz Berlin versammelt, unter ihnen auch mein Vati, SA-Mann der ersten Stunde. Hunderttausende haben geschrien: Lieber Führer, sei so nett, zeige dir am Fensterbrett!« In der Potsdamer Straße: »Hier haben wir Puffs für jeden Jeschmack, besonders zu empfehlen: Mutter Ilse – bei der hängt die Peitsche am Schaukelstuhl!« Johlen Gelächter Applaus, und weiter ging’s, vorbei an Wurstständen, wo sie Grillhähnchen verschlangen, die »Gummiadler« genannt würden – »hoho!«, freuten wir uns, »Gummiadler!« –, durch menschenleere Straßen, über breite Brücken, an rostwässrigen Kanälen entlang. Als unser Bus durch die südöstlichen Quartiere rumpelte, ließ er den Fahrer an einigen Stellen die Hupe drücken, worauf oben in den Fassaden Fenster aufsprangen und bärtige Revoluzzer leere Bierpullen nach uns warfen. Sie zerplatzten auf dem Kopfsteinpflaster, und mit einem

Der Potsdamer Platz, einst das pulsierende Herz von Groß-Berlin, war seit dem Krieg eine schmutzige Brache, vermülltes Niemandsland mit Krähen und Ratten. Die meisten Gummileute dachten nicht daran, den warmen Bus zu verlassen, der Senior jedoch stürmte eine hölzerne Treppe hinauf, mit wehendem Gummimantel, um sich hoch oben auf der Aussichtsplattform wie ein Denkmal vor den rötlichen Dämmerungshimmel zu stellen. Wir folgten ihm: die Gute, der Versandleiter, der Chefingenieur, der Reklamechef, ebenso die beiden Models, die unseren Katalog verteilt hatten, und zum Schluss, etwas langsamer, ich.

Eisiger Wind empfing uns auf der gezimmerten Hochbühne, und ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn der Senior sogleich den Rückzug angeordnet hätte, aber nein, an der Balustrade schaute er feldherrlich hinüber in die andere Welt. Sie schien ihn derart zu faszinieren, dass er sogar vergaß, die Gute zu loben. Die hatte trotz einer Nacht ohne Schlaf an alles gedacht und gab jedem von uns einen gummierten Regenschutz. Während sie mir hineinhalf, gurrte sie von hinten: »Hast du gut geschlafen, Darling?«

»Wir werden glücklich sein«, hauchte sie, packte plötzlich meine Hand und rief: »Da kommen sie wieder! Schick sie weg! Schaff sie mir vom Hals!«

Zwei kleine Japaner eilten die Holztreppe hoch – es waren die beiden, die der Guten an der Hilton-Bar ihre Visitenkarten mit der Zimmernummer zugesteckt hatten. Als ich versuchte, sie am Betreten der Plattform zu hindern, drängten sie – einer links, einer rechts – an mir vorbei und verfielen vor der Guten in eine ganze Serie von Verbeugungen. Die Gute spannte ihren Schirm auf (die Stahlspitze gummigenoppt), hielt ihn über den Stier und erklärte den Japanern, Herr Doktor Übel habe sich dankenswerterweise bereit erklärt, an diesem symbolträchtigen Ort ein Statement abzugeben.

»Was für ein Statement?«, fragte er verblüfft.

»Unsere Freunde aus dem Reich der aufgehenden Sonne möchten wissen, was die europäische Gummibranche von der deutschen Teilung hält.«

»Aha«, sagte er und straffte sich. »Unsere Meinung zur deutschen Teilung.«

Alles nickte.

»Werte japanische Freunde«, begann der Stier, »in meiner Person habe ich nie dem eigenen Wohl, sondern stets der Allgemeinheit gedient: dem freien Unternehmertum, dem christlichen Abendland, der Gummibranche, den bürgerlichen Werten. Aufgewachsen bin ich in den einfachsten Verhältnissen. Gewohnt haben wir in der Siederei«, fuhr er fort, allmählich an Fassung gewinnend, in Fahrt kommend. »Sie lag in einer Flussbiegung hinterm Dorf, und wenn es

»Dr. Henry Malice«, unterbrach ihn die Gute, »regrets the German division.«

Die beiden Japaner verbeugten sich wieder.

»Yes«, brüllte der Stier, »the German division is bullshit! Abgelehnt! Und überhaupt, was die Berliner als große Nummer verkaufen, haben wir im Fräcktal schon anno 38 hinbekommen. Unser Dorf ist in zwei Hälften geteilt: drüben der Friedhof, hüben mein Werk …« Auf einmal verlor er seine Haltung, riss sich den Kragen auf, taumelte zur Balustrade. »Ich mache mir keine Illusionen mehr«, stieß er hervor, »ich weiß jetzt, was die Teilung von Dörfern, von Städten bedeutet. Wir haben gemeint, wir könnten den Tod, den großen Unsichtbaren, negieren. Was für ein Irrtum! Er ist schlauer als wir. Er schafft sich seine Denkmäler. Er teilt Dörfer und Städte, um uns zu sagen: Es gibt ein Hüben und ein Drüben. Es gibt diese und die andere Welt. Die deutsche Grenze, geschätzte japanische Freunde …«,

»Herr Dr. Übel«, erklärte ich, »hat die deutsche Grenze zum Schweizer Fräcktal in Bezug gesetzt. Er erkennt in ihr die Narbe im Antlitz einer todesvergessenen Welt.«

Von unten brüllte der SS-Scharführer, wir sollten endlich kommen, »dalli dalli, verdammte Touri-Bande dort oben!«, dann rannte er zum Bus und hangelte sich aufs Trittbrett, als würde er wieder als letzter aus dem Kessel von Stalingrad hinausgefahren. Winkend flatterte der lose Ärmel, und über die von Reifenspuren zerfurchte Platzbrache schaukelte der fröhlich singende Gummikongress davon. Wir blieben mit dem Stier auf der Plattform zurück.

 

Direkt unter ihm verlief die vordere Mauer, dahinter der sandige Todesstreifen, gespickt mit Panzersperren und Stacheldrahtrollen, alles in kalkweißes Licht getaucht, auch die zweite Mauer mit ihren trostlosen Betonplatten. Aber die Oststadt lag im Dunkel – als würden sie ihren gesamten Strom für die Grenze verbrauchen. Die Fenster in den Fassaden zugemauert, die Schornsteine abgetragen, die Traufen demontiert. Gewölk sauste über uns hinweg, vom Widerschein der Industriekombinate in ein giftiges Rotgelb verfärbt, ein deutscher Himmel im Tiefflug, und schon um diese Zeit, am späten Nachmittag, hatte der Eiserne Vorhang etwas Nächtliches. Auf dem Dach eines Wachtturms brannte ein Scheinwerfer. In der vieleckigen Beobachtungskanzel war eine Scheibe hochgeklappt, darin ein Schatten, ein Grenzsoldat, vor dem Gesicht etwas Blitzendes, wahrscheinlich ein Fernglas – der Volksarmist fragte sich wohl,

»Hört ihr?«, rief er auf einmal, »hört ihr, wie es knattert?«

Eine Grenzpatrouille war’s, ein olivgrüner Kübelwagen mit rotem Sowjetstern, der über eine schmale Piste aus Betonplatten durch den Sperrgürtel tuckerte.

Ich trat an seine Seite. »Sir«, sagte ich, »das ist ein ausgeleierter Keilriemen! Versprödetes Gummimaterial!«

»Gute Ohren, junger Mann. Bin derselben Meinung. Wer sind Sie?«

»Vater, ich bin dein Sohn.«

Der Senior lauschte wieder auf das sich entfernende Tuckern, als habe er mich nicht gehört, und murmelte dann, dass da drüben ein riesiger Markt auf ihn warte.

»Als Lieferant von Keilriemen?«, fragte ich.

»Unter anderem. Wenn sie nicht einmal genug Gummi für ihre Militärfahrzeuge haben, sind sie in einer desolaten Lage.«

Nun, da war ich im Besitz einer besseren Idee, einer Jahrhundertidee, und wenn der Alte die Chance witterte, auf einen Schlag sämtliche Erika-Kinderwagen loszuwerden, ging er bestimmt darauf ein. Ob ich es wagen durfte, die Aktion an dieser symbolträchtigen Stelle zu lancieren? Die

Der Sandstreifen sei vermint, erläuterte der Versandleiter, für Menschen lebensgefährlich, nicht jedoch für gewisse Tiere – Dachse und Hasen würden hier, mitten in der Großstadt, einen mehr oder weniger geschützten Lebensraum vorfinden. Tatsächlich, ein Feldhase hoppelte übers Gelände, vom Lichtteich eines Suchscheinwerfers verfolgt, der Ton wurde laut und lauter, ein gellendes Sirren – ein Schäferhund war an einen langen, quer durch den Todesstreifen gespannten Draht geleint und hetzte hinter dem Hasen her. Gleich würde die Geifer verspritzende Schnauze zuschnappen, doch nein, im letzten Moment schlug der Hase einen Haken – und der Hund schoss an seiner Drahtleitung geradeaus ins Leere. Nun ruhte der Lichtteich. Im kalkweißen Oval lag dampfend der Hund. Der Hase war ihm entkommen. Mir gegenüber stand der Stier.

»Junger Mann, ich möchte jetzt wissen, wer Sie sind.«

»Dein Sohn, Sir.«

»Mein Sohn ist tot.«