Wenn ein Verhör zu Ende war, fing gleich das nächste an. Ungefähr so, wie ein Unwetter ein anderes ablöste. Maria fuhr von Jochen im Altersheim zurück zum Wohnwagen und dann weiter zu Agnes’ Mutter. Sie hieß Rosemarie und war keine von der besorgten Sorte. Das hatte sie am Telefon so oft betont, dass Maria annahm, es handelte sich dabei um eine Lüge, die die Mutter brauchte, um nicht den Verstand zu verlieren.
Sie würden sich in einem Sommerhaus in Väjern, ein paar Kilometer von Kungshamn entfernt, treffen, das Rosemarie von einer Freundin überlassen bekommen hatte. Ray-Ray war auch dabei, und er bestand darauf, dass sie mit dem Auto dorthin fuhren. Während Maria am Steuer saß, berichtete er ihr, was er noch über Fredriks Bauprojekte herausgefunden hatte.
»Ein Risikokapitalist aus Stockholm hat Geld in das Projekt gepumpt«, begann er. »Fredriks Firma stand mit einer anderen im Wettbewerb um die Bauleitung. Soweit der Ursprung des Konflikts. Die Firma, für die Fredrik arbeitet, ist beschuldigt worden, ein falsches Spiel gespielt zu haben, um den Auftrag zu bekommen. Und reagierte hässlich.«
Maria dachte nach.
»Was glaubst du selbst?«, fragte sie schließlich. »Ich meine, ich weiß ja nicht, was du mit dem Ausdruck ›reagierte hässlich‹ meinst, aber da habe ich nicht als Erstes Mord im Kopf.«
»Geht mir auch so«, antwortete er, »aber es steht verdammt viel auf dem Spiel. Die andere Firma ist kleiner als die, zu der Fredrik gehört, und mit fetten Krediten belastet. Die müssen diesen Auftrag im Grunde kriegen, um zu überleben.«
»Davon hat Fredrik kein Wort zu uns gesagt«, meinte Maria nachdenklich.
»Vielleicht kapiert er nicht, dass es wichtig ist«, erwiderte Ray-Ray.
»Oder er ist bedroht worden und schweigt deshalb.«
Wie sich zeigte, hatte Rosemarie die Hütte nur für den einen Tag bekommen. Eine Freundin, die in der Gegend etwas zu erledigen hatte, konnte sie von Göteborg nach Väjern mitnehmen und würde sie am Abend wieder nach Hause bringen. Rosemaries Ehemann, Agnes’ Vater, war einige Jahre zuvor gestorben, und seitdem lebte sie allein.
Sie hätte nicht selbstständig dorthin kommen können, soviel war klar. Rosemarie war Frührentnerin und litt an einer Lungenkrankheit, die ihre Sauerstoffzufuhr herabsetzte. Ein dünner Schlauch half ihr beim Atmen. Offensichtlich konnte sie nur sehr kurze Strecken gehen.
Maria betrachtete die Aufteilung der Hütte. Zwei Zimmer und Küche, mehr nicht und auch nicht weniger. Absolut ausreichend für einen warmen Sommertag, aber viel zu klein sowohl für das herrschende Wetter als auch den Umstand des Besuchs, vor allem, da das Haus nicht sonderlich gemütlich war. Die Wände waren kahl, und die Heizung funktionierte nicht gut. Alles war auf eine Weise unpersönlich, wie es bei Hütten, die oft vermietet werden, gerne mal ist.
Ray-Ray saß, entspannt zurückgelehnt, auf einem Küchenstuhl, die Beine so weit auseinander, dass er wie die Karikatur eines Mannes wirkte, der seinen Körper nicht unter Kontrolle hatte. Rosemarie hatte Kaffee und Kekse auf den Küchentisch gestellt. Noch eine Kaffeestunde. Noch mehr Kekse, die gegessen werden mussten.
Während Maria und Ray-Ray bei Rosemarie waren, hatten gleichzeitig andere Kollegen den Auftrag, Jochens Hinweis zu dem Auto vor dem Restaurant nachzugehen. Maria hatte umgehend den Besitzer des Restaurants kontaktiert, der, wie sich herausstellte, im Ausland war – so auch in der Nacht, als Agnes verschwand. Das Restaurant war geschlossen, und ein Freund kümmerte sich um die Schlüssel. Marias und Ray-Rays Kollegen hatten Zugang zum Restaurant erhalten und durchsuchten es jetzt.
Da war aber nicht viel zu erwarten, es war also kein Grund, nicht weiterzumachen. Zwischendurch kontrollierte Maria immer wieder ihr Handy, in der Hoffnung eine Nachricht vom NFZ zur Halskette und der Kondomverpackung zu erhalten.
»Ich bleibe ruhig«, sagte Rosemarie. »Ich meine, es hilft Agnes nicht, wenn ich Panik bekomme.«
Ihre Hände zitterten, als sie die Tasse zum Mund führte.
Agnes sah wie ihre Mutter aus, dachte Maria. Dieselbe Nase, dieselben Augen, dasselbe entschlossene Kinn.
»Das ist wahr«, sagte Ray-Ray, »Sie helfen weder Agnes noch sich selbst oder uns bei der Polizei, wenn Sie Panik bekommen. Aber mal ganz im Ernst, Rosemarie, wen kümmert das? Wir sprechen von Ihrem Kind. Wenn ich Sie wäre, würde mich eine so verdammt große Panik packen, dass ich durch die Decke ginge.«
Rosemarie stellte die Tasse ab. Das Geräusch, als die Porzellantasse auf den Teller traf, hallte in der kleinen Hütte wider.
»Ich schlafe nicht«, flüsterte sie. »Überhaupt nicht. Ich dachte, es würde leichter werden, wenn ich all das, was in den Zeitungen geschrieben wird, nicht mehr lese, aber … so war es nicht. Kein bisschen.«
Ihre Augen wurden feucht und die Stimme heiser.
Sie strahlte eine abgrundtiefe Angst aus.
»Als Sie angerufen haben, wurde ich so nervös«, sagte sie und sah Maria an. »Ich dachte, dass … dass etwas passiert sei. Etwas Neues. Dass Sie …«
Sie unterbrach sich und verstummte.
Maria schüttelte den Kopf.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, »ich wollte Ihnen keine Angst machen.«
Sie musste sich anstrengen, um entspannt zu wirken. Sie hatte für diese Vernehmung ein sehr klares Ziel: herauszufinden, warum Agnes zu Anfang des Jahres fast schwermütig gewesen war und einige Monate später frisch verliebt zu sein schien. Wenn Rosemarie entscheidende Informationen besaß, dann mussten sie die bekommen.
»Wir würden gerne etwas über Agnes’ Familie sprechen«, begann Maria. »Über Fredrik und Isak und wie es ihnen geht. Was für einen Eindruck machte Agnes, als Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen haben?«
»Gut«, antwortete Rosemarie, »ich glaube, es ging ihr gut.«
»Sie glauben, dass in der Familie alles in Ordnung war?«, hakte Ray-Ray nach.
»Ich habe nie etwas anderes gehört.«
Rosemarie machte einen aufmerksamen Eindruck. Sie wirkte überhaupt nicht verwirrt, es gab keinen Hinweis auf eine Krankheit, die ihre Sinne geschwächt haben könnte. Sie griff erneut nach der Kaffeetasse.
Maria beugte sich über den Tisch.
»Wie oft sehen Sie Agnes?«
»Sie ist sehr zuverlässig, kommt oft nach Göteborg und besucht mich, und manchmal kann ich mit einer Freundin hierher fahren, wir sehen uns also mindestens jede zweite Woche.«
»Wie geht es Agnes und Fredrik miteinander?«, fragte Maria.
»Das haben die Polizisten in Göteborg auch schon gefragt. Es war so ziemlich das Erste, was sie wissen wollten.«
»Wir fragen gerne dasselbe mehrmals«, erklärte Ray-Ray. »Manchmal lässt einen ja das Gedächtnis im Stich, wenn man das erste Mal gebeten wird, sich an etwas zu erinnern.«
»Blödsinn«, erwiderte Rosemarie. »Ich weiß, warum Sie nach Fredrik fragen. Weil es meist der Mann ist, der … der es tut. Aber so einer ist Fredrik nicht. Das weiß ich.«
Die Worte trafen Maria wie ein Schwall kaltes Wasser.
Wenn sie verschwunden wäre, wenn ihre Eltern von der Polizei gefragt würden, wie es ihr und Paul miteinander ging … würden sie dann so antworten wie Agnes’ Mutter?
So einer ist Paul nicht. Das wissen wir.
»Wir wollen Fredrik nicht beschuldigen«, beeilte sich Maria zu sagen. »In der derzeitigen Situation wollen wir überhaupt niemanden beschuldigen. Doch es muss irgendetwas geschehen sein, sonst würden wir nicht hier sitzen.«
»Ein Unfall«, sagte Rosemarie. »Es könnte ein Unfall gewesen sein. Was, wenn es so wäre? Dass Agnes verletzt ist und nicht um Hilfe rufen kann?«
Das war in dieser Situation ein nachtschwarzes Szenario, das musste Rosemarie klar sein.
Maria umschiffte die Antwort mit einer Gegenfrage.
»Einer Freundin von Agnes kam es um die Jahreswende vor, als ginge es ihr nicht gut. Haben Sie das auch bemerkt?«
Rosemarie legte den Kopf schief.
»Nein«, sagte sie bedächtig. »Ich erinnere mich, dass sie um Neujahr herum erkältet war, eine zähe Geschichte, sie wurde es irgendwie nicht los. Aber dann hat sie sich schnell erholt. So ist es immer, schon als sie klein war – das Mädel war niemals längere Zeit krank.«
»Und dann später, im Frühjahr?«, fragte Maria weiter. »Wie ging es ihr da?«
»Wie immer«, antwortete Rosemarie und lächelte wehmütig. »Fröhlich und stark.«
Fröhlich und stark.
Das war eine schöne Beschreibung, die ungeachtet ihrer Einfachheit erstaunlich viele Facetten enthielt.
»Hat sie jemals davon gesprochen, Fredrik verlassen zu wollen?«, fragte Ray-Ray.
Rosemarie wurde ernst.
»Nein«, sagte sie, »niemals. Nicht einmal, als mit Isak alles so anstrengend war. Viele Eltern scheinen allergisch auf die Kleinkindjahre ihrer Kinder zu reagieren, aber ich fand, dass Fredrik und Agnes das gut gemeistert haben.«
»War Isak als Kind anstrengend?«, erkundigte sich Maria.
»Oh ja. Unglaublich stur und hartnäckig, fast aufsässig. Aber Agnes ist ja Lehrerin, und so hat sie ihn zur Räson gebracht.«
Maria dachte an Isak und den Zorn, den er ihr und ihren Kollegen gegenüber gezeigt hatte, den Frust, den er offensichtlich mit sich herumtrug. Sie gab dem Gespräch eine andere Richtung.
»Wie ging es ihm, bevor Agnes verschwand?«, fragte sie. »Viele verändern sich, wenn sie Teenager werden. War er nach wie vor eine Herausforderung?«
»Isak?«
»Ja.«
»Nein, davon habe ich nichts gehört. Ich weiß, dass Agnes fand, er würde sich zurückziehen, sie nicht nahe an sich heranlassen, aber das tun ja schließlich die meisten Teenager.«
Ray-Ray raufte sich die Haare.
»Werden Sie Fredrik und Isak treffen, wenn Sie jetzt schon mal hier sind?«, erkundigte er sich.
Rosemarie schluckte.
»Ich … ich wollte nicht im Weg stehen. Ich weiß, dass Fredrik nichts unversucht lässt, um Agnes zu finden, und Isak hat ja auch alles Mögliche zu tun. Aber sie wissen, dass ich hier bin. Isak wollte heute Nachmittag vielleicht mit dem Fahrrad vorbeikommen, und Fredrik versucht, es auch zu schaffen.«
Versucht, es auch zu schaffen, dachte Maria.
Das hier war Isaks Großmutter. Das könnte er ja wohl schaffen.
Hier lauerte irgendetwas, was Rosemarie nicht preisgeben wollte.
»Haben die beiden eine gute Beziehung, Agnes und Isak?«, fragte Ray-Ray.
Rosemarie nickte mit einem Moment Verzögerung.
Keine so gute Beziehung, dachte Maria.
»Gibt es irgendetwas Besonderes, das Probleme macht?«, hakte Ray-Ray nach, der offensichtlich dasselbe gesehen hatte wie Maria.
Rosemarie wand sich. Das hier war dünnes Eis, das merkte man.
»Erzählen Sie«, ermunterte Ray-Ray sie und legte seine Hand auf ihre.
»Es fühlt sich so dumm an, von etwas zu reden, was ich nicht richtig beurteilen kann«, begann sie. »Aber … aber ich weiß, dass Isak manchmal gewalttätige Wutanfälle hat. Das heißt, er knallt Türen und macht Sachen kaputt. Seine eigenen Sachen. Hat sie an die Wand geschmissen und zerstört.«
»Hat er jemand anders geschlagen? Einen Freund?«, fragte Maria.
»Nein, nein, das glaube ich nicht.«
»Hat er Agnes geschlagen?«
Rosemarie fuhr zusammen.
»Nein, wirklich nicht. Absolut nicht.«
»Sie haben also keine Angst vor ihm?«
»Was ist das für eine verquere Frage? Natürlich nicht. Wir werden uns ja in einigen Stunden sehen.«
»Und Fredrik?«, beharrte Maria und merkte, wie sie einen Kloß im Hals bekam. »Hat er jemals Agnes oder Isak geschlagen?«
Rosemarie begann zu weinen.
»Aber was glauben Sie denn, was eigentlich passiert ist?«
Ray-Ray drückte ihre Hand.
»Wir wissen es nicht«, sagte er. »Deshalb stellen wir so viele unangenehme Fragen.«
Maria suchte nach einer Formulierung, die einfing, was sie immer noch nicht erfahren hatten und was ihr keine Ruhe ließ. Vor sich sah sie das goldene Herz der Halskette mit dem eingravierten »I« und stellte sich vor, wie Agnes über die regennassen Klippen lief.
Wie war sie dort hingekommen?
»Sie haben eben erzählt, dass es Agnes beim letzten Mal, als Sie mit ihr sprachen, gut zu gehen schien«, begann Maria zögerlich. »Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
Rosemarie wischte sich die Tränen ab.
»Das weiß ich tatsächlich nicht«, sagte sie. »Aber …«
Sie verstummte.
»Aber …?«, fragte Ray-Ray nach einer Weile.
»Aber sie meinte ganz kurz, sie hätte etwas zu erzählen. Ich … ich habe nicht so viel darüber nachgedacht. Agnes hat oft so etwas gesagt, dass sie etwas Lustiges zu erzählen hätte oder so.«
»Denken Sie noch einmal nach«, bat Maria. »Hat sie gesagt, dass sie etwas Lustiges zu erzählen hätte?«
Rosemarie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Nein, sie hat wohl nur gesagt, dass sie etwas erzählen müsse. Ich habe nicht gedacht, dass es etwas Dramatisches sein würde. Dann hätte sie es gesagt. Oder zumindest tut sie das meistens.«
»Wenn wir etwas in der Zeit zurückgehen«, begann Maria, »zum Sommer. Wie ging es Agnes da?«
Rosemarie nahm einen tiefen, rasselnden Atemzug.
»Da war sie angespannt«, sagte sie. »Irgendwie unter Druck. Aber darüber habe ich bisher nicht nachgedacht. Sie hat zu viel gearbeitet, und ich dachte, dass sie kurz vor einem Burnout stehen würde.«
Irgendwie unter Druck.
»Wann war das?«, fragte Maria. »Wann wirkte sie unter Druck?«
Rosemarie richtete sich auf, sie wollte offensichtlich helfen und die Ermittlung unterstützen.
»Während der Sommerferien«, sagte sie. »Im Juli und noch ein bisschen in den August hinein. Da gab es irgendetwas, was sie belastete. Einmal sah sie fast ängstlich aus. Aber als ich das ansprach, sagte sie, ich würde dummes Zeug reden, und deshalb nahm ich an, dass …«
Rosemarie verstummte, ihr war bewusst, dass sie vielleicht etwas Wichtiges gesagt hatte.
Irgendwie unter Druck.
Fast ängstlich.
Maria lehnte sich zurück.
Anfang Mai hatte Yvonne, die Agnes’ Freundin war, sie wie frisch verliebt empfunden. Knapp drei Monate später fand ihre Mutter, dass sie ängstlich wirkte. Und vor einer knappen Woche dann war sie in Sturm und Regen auf spiegelglatten Klippen unterwegs gewesen.
Was ist im Sommer passiert, Agnes?, dachte Maria. Was ist dir zugestoßen?