»Das konnte nichts werden mit euch, das musstest du doch auch einsehen.«

Die Stimme seines Vaters klang flehend.

Karl hasste ihn.

Doch noch gab es Hoffnung. Die musste es geben. Die Hoffnung, dass Agnes am Leben war und sich alles ordnen würde.

Karl presste sich an die Tür. Eben noch hatte er auf dem Fußboden gelegen. Sein Vater hatte ihn niedergerungen. Wie unglaublich stark er war. Ein Gedanke schoss ihm in den Kopf: Hatte sein Vater diese Kraft aufgewandt, um Agnes zu verletzen?

Karl vermied es, die Gummistiefel anzusehen, während sein Vater schnell und zielgerichtet arbeitete. Mit einer geschmeidigen Bewegung steckte er das Handy in eine Papiertüte, die er dann zusammenknüllte und wiederum in eine andere Papiertüte legte. Auch die Gummistiefel wanderten in die Tüte. Papa hatte ein paar Handschuhe an den Händen, grüne, die Karl nicht kannte.

»Es war nicht geplant, dass du das hier siehst«, sagte sein Vater.

»Sag mir, was passiert ist«, flüsterte Karl.

Sein Vater zog die Handschuhe aus und schob sie in die Jackentasche.

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Mach die Tür auf, dann gehen wir zusammen.«

Karl rührte sich nicht.

»Ich bringe dich um.«

Die Worte waren so fremd und gleichzeitig so klar. Er sagte sie noch einmal:

»Ich bringe dich um, wenn du nicht sagst, was du getan hast und wo sie ist.«

Sein Vater starrte ihn an. Das Bootshaus lag jetzt im Schatten, und es wurde immer dunkler.

Karl machte einen Schritt auf seinen Vater zu. Er stand jetzt sicherer, fühlte sich stärker. Der Blick seines Vaters veränderte sich von entschlossen zu traurig.

»Lebt sie?«, flüsterte Karl.

»Nein, Karl, das tut sie nicht.«

Im Bootshaus war plötzlich keine Luft mehr.

Karl fiel auf die Knie. Sein Gesichtsfeld verkleinerte sich und verschwamm.

Alles war vorbei.

Alles.

Plötzlich ging die Tür auf. Karl winselte, und jemand hielt ihn im Arm.

Mama.

Die nachts nicht schlief und nur darauf wartete, dass eine Katastrophe sie ereilen würde.

»Mein lieber Kleiner«, flüsterte sie. »Jetzt wird alles gut.«

Und dann zu seinem Vater:

»Was hast du getan, Erling?«

Karl schrie. Nein, nein, nein. Er schlug mit den Armen, um sich zu befreien, und traf die Schulter seiner Mutter mit einem harten Schlag.

Und er brüllte mit aller Kraft seiner Lunge:

»Wo ist sie? Wo ist sie? «

Sein Vater überwältigte ihn ein weiteres Mal. Eine Tür schlug zu, und noch jemand schrie.

Sein Vater.

Seine Mutter.

»Wenn du älter bist, wirst du verstehen, dass sie krank war, Karl, sie war gestört, das, was sie gemacht hat, tut man nicht, das ist so falsch.«

Alles drehte sich. Karl wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war, ob er die Augen geschlossen hatte oder sehen konnte. Aber er wusste immer noch, was richtig war und was falsch. Und nichts von dem, was zwischen ihm und Agnes geschehen war, war so falsch wie ein Mord.

Die Stimme seines Vaters war jetzt nur mehr ein Flüstern und verströmte Panik.

»Du musst mir glauben, Karl, ich wollte sie nur erschrecken. Sie hat gesagt, sie würde wegziehen, sie würde Kungshamn verlassen, aber ich wollte Beweise sehen. Also haben wir uns hier im Bootshaus getroffen. Und alles, was sie dabeihatte, war die Kopie einer Mail an diesen August Strindberg. Ich wurde so wahnsinnig wütend, dass ich sie an die Wand drückte und anschrie. Ihr gesagt habe, dass es nun verdammt noch mal ernst würde.«

Karl weinte.

Seine Mutter war aschgrau im Gesicht und flüsterte:

»Du hast sie doch wohl nicht getötet, Erling, oder?«

Ihre Stimme klang plötzlich so seltsam, so rau und dünn.

»Ich wollte es nicht«, flüsterte sein Vater. »Sie rannte, oh mein Gott, wie sie rannte. Aber ich war schneller und holte sie ein, und da lief sie direkt hinaus rüber nach Klåvholmen.«

In Karls Ohren dröhnte es, er konnte nicht länger zuhören.

Dennoch fragte er:

»Was hast du mit ihr gemacht?«

Sein Vater schluckte.

»Dieser verdammte Ponton war ja teuflisch glatt, ich hatte Todesangst, als wir darüberliefen. Aber ich konnte sie doch nicht wegrennen lassen. Sie war ja nicht bei Trost, weiß der Teufel, was für eine Geschichte sie sich hinterher ausdenken würde. Sie schrie wie besessen, aber um diese Zeit im Jahr ist ja niemand hier. Ich habe sie mitten auf der Klippe eingeholt und zu Boden geworfen. Da beruhigte sie sich, denn sie hatte sich den Kopf und das Gesicht angeschlagen, und wurde ein bisschen, ja, schlaff.«

Karl starrte ihn an.

Es war, als würde er einen völlig fremden Menschen hören.

»Es war also ein Unfall?«, fragte seine Mutter zögernd.

Der Vater fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, rieb es, als wolle er wach werden.

»Ich habe sie hier zurück ins Bootshaus gebracht«, sagte er mit angespannter Stimme. »Ich wollte checken, ob sie okay war, denn sie blutete aus der Nase und … Sie war so verdammt bleich und konnte nicht richtig stehen. Dann ist sie hingefallen und …«

Sein Vater begann zu weinen.

»Ich wollte nicht, dass sie stirbt. Sie ist hingefallen und auf den Rand der Bank geschlagen, aber ich … da war ja das Messer. Sie hatte ein Messer mitgebracht, in der Jackentasche. Ich habe es erst hinterher gemerkt, und beim Hinfallen, da hat sie sich mit dem Messer geschnitten. Es war keine größere Wunde, aber eine Menge Blut. Dann war sie weg. Kein Puls, keine Atmung, kein … nichts.«

Es gab so viel, was jetzt wehtat.

Zuhören tat weh, denken tat weh.

Trotzdem hatte Karl das Gefühl, dass er alles hören musste.

»Sie ist gestorben«, flüsterte sein Vater. »Und mir tut das alles so verdammt leid, aber es durfte doch nicht herauskommen, was passiert war. Nicht, dass sie mit dir zusammen war, Karl, und nicht, dass ich … dass sie hier vor meinen Augen gestorben ist.«

In diesem Moment fand ein Sonnenstrahl seinen Weg durch das schmutzige Fenster des Bootshauses und leuchtete direkt auf etwas, das auf dem Fußboden glänzte. Ein Teppichmesser . Karl wusste, dass sein Vater die bei der Arbeit benutzte. Wahrscheinlich hatte er es dabeigehabt und verloren. Er trug seinen Maleroverall, vielleicht kam er direkt von der Arbeit.

Karl fand neue Kraft, und noch ehe jemand sichs versah, stand er, mit dem Messer bewaffnet, mitten im Raum. So wie Agnes es hatte tun wollen, aber nicht geschafft oder über sich gebracht hatte.

Er stand mit dem Rücken zur Tür.

Seinen Eltern direkt gegenüber.

»Wo ist sie?«, fragte er.

Sein Gesicht war tränennass, aber die Stimme klar und unmissverständlich.

Sag es oder stirb.

Sein Vater schüttelte langsam den Kopf.

»Leg das Messer weg«, sagte er. »Nicht dass du uns verletzt.«

Nicht?

»Ich werde euch verlassen«, entgegnete Karl. »Sag, wo Agnes ist, oder schafft euch einen neuen Sohn an. Mich dürft ihr jedenfalls nicht behalten.«

Da schrie seine Mutter wieder auf.

»Zum Teufel«, sagte sein Vater schwach. »Hör schon auf. Sie ist in einem Haus, wo ich was gearbeitet habe. Ich habe im Keller einen neuen Fußboden gegossen, und da habe ich sie gelassen.«

Seine Mutter brüllte als Antwort:

»Nein, nein, nein! Erling, bist du wahnsinnig? «

»Ich wollte sie doch einfach nur wegbringen«, sagte sein Vater mit brechender Stimme. »Von Karl und von uns. Und dann lief alles so verdammt falsch.«

Seine Mutter sank auf der Bank zusammen, auf der Karl eben noch gelegen hatte.

»In welchem Haus ist sie?«, fragte Karl.

Denn obwohl er das Geständnis seines Vaters gehört hatte, wollte er sich immer noch an eine Hoffnung klammern.

Seine Mutter schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie. »Du bist nicht böse, Erling. Wie … wie hast du … wie wusstest du, was du machen würdest?«

»Das habe ich nicht. Ich habe versucht, mich normal zu verhalten und auf den Anruf der Seenotrettung geantwortet. Dann bin ich aber früher vom Schiff runter als die anderen, habe gesagt, ich könnte nicht länger dabeibleiben. Agnes lag im Auto von Nils, da würde ja niemand suchen. Ich bin mit ihr zum Bestattungsinstitut, wo wir damals gerade was renoviert haben. Bin wie ein verdammter Idiot mit der Taschenlampe reingeschlichen, habe gesucht und mich nicht entscheiden können.«

Karl merkte, wie alles in ihm in Nebel tauchte. Er hörte und sah alles, was geschah, aber nur aus der Entfernung, als wäre er nicht da. Nicht wirklich.

»Danach habe ich beschlossen, die Arbeit im Bestattungsinstitut alleine fertig zu machen, ohne dass jemand anders dabei war«, sagte sein Vater. »So hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was ich mit ihr machen sollte.«

Seine Mutter sah ihn komisch an. Sie war innerlich zerbrochen, würde nie wieder ganz werden.

»Ich dachte, du wärst mit einem anderen Auftrag beschäftigt«, sagte sie tonlos.

»Du wusstest, dass die Firma den Auftrag bekommen hatte, hast aber nicht viel gefragt. Das tust du nie. Es geht immer nur um dich, dich, dich und dann Karl. Immer Karl. Aber dieses Mal war das gut. So konnte ich das in Ruhe regeln.«

Karl zitterte am ganzen Leib.

»Ich … ich hatte ja keinen Plan«, sagte sein Vater. »Zuerst habe ich versucht, einfach Zeit zu gewinnen. Die Tage vergingen. Aber dann habe ich etwas im Haus des Bestatters entdeckt. Jemand hatte im oberen Stockwerk etwas versteckt, und … glaubt mir, das wollt ihr nicht wissen. Aber so bin ich auf die Sache mit dem Fußboden und dem Beton gekommen.«

Karl stieß einen heiseren Schrei aus.

Er konnte das Gerede seines Vaters nicht mehr ertragen, der musste jetzt die Klappe halten.

»Hörst du nicht, wie das klingt?«, schrie er.

»Was zum Teufel hätte ich denn tun sollen?«, brüllte Erling. »Ich hatte es schließlich eilig, die Leiche musste weg. Und dann ist wieder etwas schiefgegangen. Die Gummistiefel passten nicht rein. Und ich hatte Angst, dass der Pullover zu sehr riechen würde, deshalb habe ich den auch rausgenommen. Das Messer habe ich einfach vergessen. Als der Beton aufgebracht war, lag es daneben.«

Karl ging es so schlecht, dass er meinte, sich übergeben zu müssen.

»Als es mal passiert war, konnte ich nichts anderes tun, als die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen«, erzählte sein Vater. »Für euch. Ist euch klar, was für Wochen ich gehabt habe? Ich habe alles – a lle s – in meiner Macht getan, um euch aus dieser Sache rauszuhalten. Ich habe es sogar geschafft, einmal ins Eishaus einzubrechen, um nachzusehen, ob da noch Spuren von Agnes und dir, Karl, waren, aber ich habe nichts gefunden.«

Seine Mutter zuckte zusammen, als sei ihr etwas Wichtiges eingefallen.

»Das Messer«, murmelte sie. »Erling, du hast das Messer in Karls Fahrradtasche gelegt. Wolltest du deinem eigenen Sohn einen Mord in die Schuhe schieben?«

Karl hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, doch sein Vater wusste es offenbar.

»Natürlich wollte ich das nicht«, sagte er. »Aber jemand musste die Schuld zugeschoben bekommen. Jemand anders als ich. Und Isak hat immer … Ich meine, du findest ja auch, dass er schräg ist, Cecilia. Und als ich sah, dass Isak Karls Fahrrad ausgeliehen hat, da kam mir die Idee. An sein eigenes Fahrrad konnte ich ja nicht rankommen. Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt. Aber dann hat Isak das Ding zurückgebracht und da … verdammt, ich hätte das Messer schneller verschwinden lassen sollen.«

Im Bootshaus wurde es still.

»Du musst mir verzeihen«, sagte sein Vater schließlich. »Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann.«

Er konnte nicht mehr.

Karl ließ das Messer fallen und rannte los.

Schneller denn je.

Er erinnerte sich nicht, wie er aus dem Bootshaus gekommen war, von einem Moment auf den nächsten war er auf dem Steg und hörte seine Schritte über das Holz donnern. Jemand lief hinter ihm, aber nicht im Entferntesten so schnell.

Halt aus, Agnes, dachte er. Jetzt komme ich.

Hinter ihm rief seine Mutter, laut und gequält.

Es war ihm egal.

Er rannte einfach nur.

Und rannte.

Den ganzen Weg bis zu Agnes.