»Ist es nicht seltsam: die Menschheit verfügt nur über zwei oder drei Geschichten, und sie wiederholen sich wieder und wieder mit einer Heftigkeit, als wären sie nie zuvor geschehen; so wie die Lerchen, die in diesem Landstrich seit Tausenden von Jahren dieselben fünf Noten singen.«
So schrieb Cather in ihrem frühen Roman Pioniere! (1913). Und beschreibt auf diese Weise das Programm, das ihr so oft unterschätztes Werk ausmacht: die Weite der wenigen Geschichten der Menschheit und zugleich die Intensität der fünf Töne der Lerche an einem Sommermorgen über einem Getreidefeld in Nebraska. Wie der amerikanische Dichter Wallace Stevens kurz vor ihrem Tod formulierte: »Wir haben nichts Besseres als sie. Sie gibt sich so viel Mühe, ihre Meisterschaft zu verbergen, dass man ihre Klasse leicht übersieht.«
Was sind diese zwei oder drei immer gültigen Geschichten? Tatsächlich wohl diese, die sich in der Literatur wiederholen, seit die Lerche ihr Lied singt: Entweder bricht ein Junge oder Mann – oder ein Mädchen beziehungsweise eine Frau – auf ins Unbekannte. Oder ein Fremder, eine Fremde kommt in eine bestehende Gemeinschaft und bringt dort die Ordnung durcheinander. Ob es nun derjenige ist, der fortgeht, oder diejenige, die wiederkommt, er oder sie ist bei Cather ein Außenseiter, eine, die nicht recht hineinpasst in die Gemeinschaft.
Cather entwickelt aus diesem Grundmuster weitere Konflikte. Wer indes bei ihr nach Statements zu großen gesellschaftlichen Themen, zu Politik, Zeitgeschehen oder sozialen Konflikten sucht, wird ihre Werke sehr genau lesen müssen; so gut gelingt es ihr, diese Themen zu verbergen in Narrativen, die zumindest vordergründig von großer Intimität sind: Sie schreibt von Familienbanden, Krankheit, Liebe und gebrochenen Herzen, von Freundschaft und Verlust, vom Erwachsen- und vom Altwerden. Eine lange Trennung – nicht selten der Tod – ist oft der einzige Ausweg aus einem Konflikt. Und als roter Faden zieht sich durch ihr nicht gerade kleines Œuvre: das Anderssein.
Willa Cather war immer anders. Sie hob das nicht unbedingt hervor, sie lebte es einfach. Sie wachte ihr Leben lang eifersüchtig über ihre Privatsphäre. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, einen autobiographischen Roman zu schreiben oder gar ihre Memoiren. Aber dennoch ist sie, ist ihr Anderssein in ihren Werken stets präsent. Das zeigt diese Auswahl einiger ihrer schönsten Erzählungen, die, jede für sich genommen, einen Ausschnitt ihrer Erfahrungswelt darstellt. Liest man sie jedoch als ein literarisches Ganzes, tritt aus ihnen die Person Willa Cather in einer Deutlichkeit hervor, die ihr vielleicht gar nicht recht gewesen wäre.
»Mein Herz wendet sich mit tiefer Zuneigung diesem großknochigen, langsamen, einsamen Mädchen zu«, schrieb Katherine Anne Porter, »das ganz zufällig auch eine Künstlerin war, immer wieder mit einem alten Ladenangestellten im Städtchen Latein und Griechisch lernte, bei der Hausarbeit half, vor dem Ofen saß und eine unbezähmbare Brut von Brüdern und Schwestern zusammenhielt. Sie versuchte sich an ihnen, weigerte sich, in ihrer Schar verloren zu gehen – diejenige mit den weitesten Flügeln, die am Ende in die Freiheit entfliegen würde.«
Vielleicht hatte Porter die Erzählung »Der verwunschene Fels« im Sinn, in der ein Schreikranich über eine Gruppe von Jungen hinwegfliegt, die auf einer Sandbank im Fluss kampieren. Sie springen auf in der Hoffnung, das Kranichweibchen vielleicht landen zu sehen, aber zu ihrer Enttäuschung fliegt es einfach weiter, ruhig und entschlossen, wie die Autorin selbst.
Das Örtchen Sandtown in dieser Erzählung ist nur eine der vielen »Reinkarnationen« von Red Cloud, dem an einer Eisenbahnstrecke gelegenen Städtchen im Westen Nebraskas, in dem Cather heranwuchs. Geboren wurde sie dort nicht, sondern im Jahr 1873 im grünen Virginia, als Älteste von sieben Geschwistern und nur acht Jahre nach Ende des Bürgerkriegs, der die Region zutiefst gespalten hatte. Wohl um dieser angespannten politischen Situation zu entgehen – die Cathers waren Unionisten, die Boaks hingegen, die Familie der Mutter, Anhänger der Konföderation –, folgten die Eltern Charles und Jennie im April 1883 seinem älteren Bruder George und den Großeltern Cather ins Grenzland Nebraskas, wo die US-Regierung großzügige Landzuweisungen vornahm (wobei sie ebenso großzügig übersah, dass sie dieses Land zuvor bereits den Lakota zugewiesen hatte). Willella (genannt nach ihrem Onkel William Cather, der auf der Seite der Union als 19-Jähriger im Bürgerkrieg gefallen war) war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt; bei dem Umzug mit dabei waren zudem die Brüder Roscoe (1877) und Douglass (1880) und das damalige Nesthäkchen Jessica. Mit den beiden Brüdern verband Cather ihr Leben lang eine enge Beziehung, was auf die vier jüngeren Geschwister, von denen drei in Nebraska geboren wurden, nicht zutraf.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Romanfigur, die in Pioniere! Cathers literarisches Programm verkündet, ein Mann ist. Auch der Erzähler in »Der verwunschene Fels« ist ein junger Mann, der als Einziger in der Geschichte namenlos bleibt; so detailliert er die anderen Jungen auch beschreibt, über ihn erfahren wir fast nichts. Aus der Tatsache, dass er wenige Tage später auf die Hochebene hinaufmuss, um sich als Junglehrer zu verdingen, können wir schließen, dass er etwa sechzehn Jahre alt ist, so alt wie Cathers Brüder waren, als sie ähnliche Positionen antraten, um die Großfamilie finanziell zu entlasten. Cather selbst blieb dieser Job erspart; ihre außergewöhnliche akademische Begabung war früh offensichtlich, und sie war nach dem Abschluss der örtlichen Schule nach Lincoln an die neu gegründete Universität von Nebraska geschickt worden. Schon als Studentin war sie als junge Kritikerin ausgesprochen produktiv und trug so zu ihrem eigenen Unterhalt ebenso bei wie zu dem der Familie in Red Cloud.
Der Ich-Erzähler in »Der verwunschene Fels« ist der Intellektuelle unter den Jungen, der reflektieren kann. Er ist der Außenseiter, der das Städtchen verlässt. Und doch, auch das erfahren wir über ihn, packt ihn großes Heimweh, noch bevor er überhaupt fort ist, obschon er weiß, dass er den Ort hinter sich lassen muss, um zu seinem eigenen Leben zu finden. Genau wie die anderen auf der Sandbank denkt er dort an Orte der Sehnsucht, die verwunschenen Felsen in seinem Leben, sobald er aber aus Sandtown heraus ist, wird das Städtchen selbst zu einem solchen Sehnsuchtsort.
Nicht anders erging es Cather, die sich ihr Leben lang nach Red Cloud zurücksehnte und, solange ihre Eltern lebten, regelmäßig die mehrtägige Bahnfahrt auf sich nahm, um im Sommer oder zu den winterlichen Feiertagen dorthin zurückzukehren. Dieser Teil von ihr verbirgt sich in der Gestalt des Erzählers. Als sie die Geschichte schrieb, war sie schon weit vorangekommen auf dem Weg zu ihren Sehnsuchtsorten: Sie lebte (nach Jahren in Pittsburgh) bereits in New York. Und wenige Jahre nach der Publikation sollte sie zum ersten Mal den Südwesten besuchen; ihr Bruder Douglass arbeitete für eine Eisenbahngesellschaft in Arizona.
Warum verbirgt sie sich hinter einer männlichen Stimme? Fast immer, in ihren Erzählungen und Romanen, die aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, ist der Erzähler ein Mann (oder ein Junge). Das mag zunächst der Tatsache geschuldet sein, dass Henry James ihr großes Idol war, doch das allein erklärt es nicht.
Sie, die aus einem zutiefst konservativen, kleinstädtischen Umfeld kam, versteckte sich unter der konservativen Oberfläche so gekonnt, dass vielen ihrer Leserinnen und Leser bis heute nicht einmal bewusst ist, dass sie weit mehr als die Hälfte ihres Lebens, seit 1906, in New York City lebte, wo sie 1947 starb. Und schon das Jahrzehnt zuvor hatte sie in Pittsburgh verbracht, einer Stadt, die durch das industrielle Mäzenatentum der Jahrhundertwende über ein reiches Kulturangebot verfügte. Sie ist eben nicht die Autorin, die das Leben der späten Pioniere im Westen Amerikas verherrlicht. Sie beschreibt es aus der Distanz ihres urbanen Lebens. Und sie beschreibt es aus der Beschränkung ihrer Zeit, die zu durchbrechen sie keinerlei Neigung zeigt, jedenfalls keine radikale Neigung. Ihre Radikalität, ihre Neuerung lässt sich darin erkennen, was sie nicht ausspricht. Sie schubst ihre Frauen-Charaktere fast zur Seite, lässt die Männer erzählen – womöglich auch, um aus dieser Distanz Kritik an ihren Erzählern zu üben.
Denn nicht alle von Cathers Ich-Erzählern sind so sympathisch wie der junge Mann in »Der verwunschene Fels«. 1904 erschien in der Zeitschrift Everbody’s »Ein Wagner-Konzert«. Der als »Clark« angesprochene Erzähler teilt ebenfalls Züge mit der Autorin, etwa die Begeisterung für Wagner. Er ist ein junger Karrierist aus Boston, wo Cather, als sie die Erzählung schrieb, noch nie gewesen war (wo sich aber nur wenige Jahre später eine für sie lebensentscheidende Begegnung ereignen würde). Es ist gut möglich, dass ihr die Idee zu dieser Erzählung bei einem Besuch in Red Cloud während der Sommerferien 1903 kam. Denn hier geht es nicht so sehr um die Figur desjenigen, der es geschafft hat, die rurale Umgebung zu verlassen, sondern Cather versetzt mit Tante Georgiana eine am harten Leben im Grenzland fast zerbrochene Gestalt abrupt in die Großstadt – eine Gestalt, deren Entwurzelung dadurch verstärkt wird, dass sie in ebendieser kultivierten Umgebung aufgewachsen ist und sich dieses Verlusts bei dem Konzertbesuch aufs Schmerzlichste bewusst wird. Obwohl ihr Neffe Clark betont, wie viel seiner Erziehung und Bildung der Tante geschuldet ist, betrachtet er sie doch mit einem kühlen, fast klinischen Interesse und beschreibt ihr Äußeres, ihre Lebensumstände in Nebraska und ihre Reaktion auf Wagners Musik nahezu mit Herzlosigkeit.
Mit dieser Erzählung machte sich Cather im heimischen Red Cloud keine Freunde. Wie so oft in ihren Werken ließ sie nur zu deutlich durchscheinen, wer das lebende Vorbild ihrer Figur war: Hier ist es ihre geliebte »Tante Franc«, die Frau des Onkels väterlicherseits, die aus Neuengland stammte und einen College-Abschluss hatte. Wie in der Familie oft erzählt wurde, hatten Frances und George Cather nach der Ankunft in Nebraska im Sommer 1873, wenige Monate vor Willas Geburt, tatsächlich ein Tuch an die Speiche des Rads eines gemieteten Wagens gebunden, den Umfang des Rads abgemessen und anhand der Umdrehungen bestimmt, wo genau sich das ihnen zugeteilte Siedlungsland befand. Tante Franc, die Cather einmal als »hässlich, klug und schrullig« beschrieben haben soll, bekämpfte auf der Hochebene ihr Heimweh nach dem Nordosten dadurch, dass sie kulturelle Veranstaltungen in den Häusern der Siedlerfamilien organisierte, Chorgruppen leitete, den Kindern Nachhilfeunterricht gab und ihnen vorlas. Sobald ihre eigenen fünf Kinder alt genug waren, ließ sie sie bei ihrer Schwiegermutter zurück und fuhr nach Boston, um eine reichliche Portion Kultur zu tanken. Die Degradierung zu einer wandelnden verkohlten Leiche, die in einer Bruchbude lebt, vor deren Hintertür alte Wischtücher zum Trocknen in trostlosen Bäumen hängen, konnte weder Tante Franc und der Familie Cather noch den respektablen Bürgerinnen und Bürgern von Red Cloud und den umliegenden Farmen gefallen. Für eine Sammlung von Erzählungen, die 1920 von dem ambitionierten jungen Verleger Alfred A. Knopf herausgebracht wurde, revidierte Cather »Ein Wagner-Konzert«; so fehlt etwa der Vergleich der Protagonistin mit einem verkohlten Leichnam.
Es bleibt jedoch Tatsache, dass sich die hochtalentierte junge Autorin entscheidet, zugunsten der Dramatik ihrer Erzählung all jene Aspekte im Charakter der Tante zu unterdrücken, die diese als gebildete, selbstbestimmte und gesellschaftlich prägende Kraft auszeichneten. Die Frau, von der Cather in einem Brief schrieb, sie sei für die Gemeinschaft im Grenzland »Manna in der Wildnis«, wird hier als Opfer stilisiert.
Cather war immer an Frauen interessiert, schwärmte mit Heftigkeit für Studentinnen oder auch Gattinnen von Fakultätsmitgliedern, oft zur Irritation der Auserwählten sowie deren Familien. Eine frühe große Liebe war die Kommilitonin Louise Pound, eine hochbegabte, zudem athletische Studentin, die zu den prominentesten Kultur- und Literaturwissenschaftlerinnen ihrer Zeit zählen sollte. In dem bereits zitierten Brief vom Sommer 1893, den Cather aus Red Cloud an die Freundin Mariel Gere in Lincoln sandte, schrieb sie: »Nachdem Louise abgefahren war [nach einem Besuch bei den Cathers in Red Cloud], fühlte ich mich einsam und voller Weltschmerz […]. Mir kam dieser Besuch allzu kurz vor, gerade lang genug, mich das Verlangen spüren zu lassen, und sie dann wieder zu verlieren.« Sie fügt eine humorvolle Beschreibung der Begegnung ihres siebenjährigen Bruders James mit der Angebeteten an und fasst zusammen: »Sie gefiel ihm ziemlich gut, aber er hat auf genau denselben Granit gebissen, durch den ich mich seit drei Jahren hindurchkämpfe.«
Es gibt keine Belege, dass Louise Pound Cathers Gefühle erwiderte. Als Freundinnen schienen sie kompatibel: Eines der bekanntesten Fotos von Cather, ganz zu Beginn der College-Zeit 1890 in Lincoln aufgenommen, zeigt die zwei Frauen aus einer eigenwillig diagonalen Perspektive, beide mit Krawatte und in schicken, sorgfältig gebügelten Oberteilen, die mit ihren gepufften Schultern jedoch deutlich als Frauenkleidung zu erkennen sind; man darf davon ausgehen, dass sich daran, obwohl nicht sichtbar, jeweils ein Rock und keinesfalls Hosen anschlossen. Beide tragen das Haar kurz geschnitten und einen eher für Männer gearbeiteten Hut (Cather) beziehungsweise eine Ballonmütze (Pound).
An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass dieser Look keinerlei Hinweis auf Cathers (oder Pounds) Homosexualität gibt; es war damals vielmehr die Mode vieler junger Mädchen, die auf Gleichstellung mit den Jungen und Männern ihrer Generation pochten. Schon während ihrer Studienzeit in Lincoln ließ Cather ihre Haare wieder länger wachsen.
Sie trug weiterhin die populären »shirt waists« – das waren Hemdblusen, eine Angleichung an die männliche Oberbekleidung, oft kombiniert mit einem Hut. Auch Eden Bower in der Erzählung »Schon bald: Aphrodite« trägt diese durchgeknöpften Blusen, und der Maler Don Hedger pflegt intimen Umgang mit den jungen Schneiderinnen aus den nahe gelegenen Textilfabriken, die während der Mittagspause auf den Bänken im Washington Square ihr mitgebrachtes Butterbrot verzehren.
Cather bewahrte sich diesen Stil – Hemdbluse und Rock und praktische Schnürschuhe – ein Leben lang. Für besondere Anlässe besaß sie elegante Jacken, ein paar Pelze und Hüte. Auf Reisen trug sie ausgesuchte, aber praktische Kleidung, ob zum Reiten in New Mexico oder Wandern auf der verregneten kanadischen Insel Grand Manan.
Obwohl frühe biographische Studien gern behaupteten, Willa Cather sei mit ihrem Werk »verheiratet« gewesen, besteht an ihrer Homosexualität in der Forschung schon lange kein Zweifel mehr. Sie hängte ihre Sexualität nicht an die große Glocke – es hätte ihrem Charakter nicht entsprochen, ihrem tiefen Bedürfnis nach Privatsphäre. Später verbarg sie sie nicht; die Cather-Spezialistin Melissa Homestead hat detailreich aufgezeigt, dass die Schriftstellerin etwa auf Weihnachtskarten, bei Danksagungen, Einladungen etc. das »wir« genauso für ihre Partnerin Edith Lewis und sich benutzte, wie es andere Paare tun, sei es gegenüber Familienmitgliedern oder Freunden.
Cather arbeitete sich an diesem Thema ab, sie schrieb darüber. Eine Reihe von Charakteren in ihren Romanen und Erzählungen sind homosexuell, vor allem Jungen und Männer – womit wir wieder beim Thema des Verbergens wären. Oft, das muss gesagt sein, sind diese Männer nicht die sympathischsten Gestalten. Ihre Schöpferin setzte sich ab, zog eine Grenze zwischen sich und ihnen.
Aus derselben Zeit wie »Ein Wagner-Konzert« stammt die Erzählung »Pauls Fall«. Cather schreibt über ihren aktuellen Wohnort: Pittsburgh, Pennsylvania, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Hochburg industrieller Geschäftigkeit war, widersprüchlich geprägt von kulturellen Angeboten auf hohem Niveau und einem tief verwurzelten Puritanismus. Hier war sie, Zufall und Glücksfall, als blutjunge Herausgeberin des Hausfrauenmagazins Home Monthly im Sommer 1896 angestellt worden – der erste große Schritt in den amerikanischen Osten. Cather, die zunächst in eine schäbige Pension zog, konnte nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten, sondern auch noch Geld nach Hause schicken, eine Gewohnheit übrigens, die sie in der einen oder anderen Form ihr ganzes Leben beibehielt.
Und dann gab es noch einen zweiten Glücksfall: Während eines Gastspiels der angesagten Schauspielerin Lizzie Hudson Collier begegnete Cather in deren Garderobe Isabelle McClung, der Tochter eines prominenten Richters am Ort. Isabelle, vier Jahre jünger als die Zugezogene, hochgewachsen, schön, reich, lud Cather ein, das großzügige Stadthaus der Familie in der Murray Hill Avenue zu ihrem Zuhause zu machen; die beiden teilten sich fortan mehrere Räume im Dachgeschoss, wo McClung das Nähzimmer zu einem Arbeitszimmer für die neue Freundin umgestaltete. Dass sie darauf bestand, die talentierte, doch etwas eigenartige junge Journalistin ins Haus zu holen, mag Ausdruck ihrer Rebellion gegen den strengen konservativen Vater gewesen sein, der die bohemistischen Tendenzen seiner älteren Tochter äußerst kritisch sah. Dennoch verhalf Richter McClung Cather zu einer Anstellung im Schuldienst; auf diese Weise hatte sie zumindest den unterrichtsfreien Sommer für ihre schriftstellerische Arbeit zur Verfügung.
Der Fall von zwei Jungen, die zweitausend Dollar der Firma, in der sie arbeiteten, veruntreut und in Chicago durchgebracht hatten, ging durch die Pittsburgher Presse. Darüber hinaus hatte Cather zufolge die Figur des Paul ein lebendes Vorbild in einem Schüler, den sie in Latein unterrichtete. In »Pauls Fall« verwendet ein auktorialer Erzähler gleich zu Beginn viel Raum darauf, dessen Äußeres, Gesicht, Mimik und Gestik sowie die Kleidung, detailreich zu beschreiben, bis hin zur unpassenden roten Nelke im Knopfloch. Es ergibt sich der Gesamteindruck eines jungen Oscar Wilde, dessen Werk und Biographie Cather vertraut waren; sie hatte, in jugendlicher Selbstgerechtigkeit, ausgesprochen harsche Kritiken seiner Theaterstücke veröffentlicht und nach seinem Sodomie-Prozess im September 1895 in einer Kolumne im Lincoln Courier geschrieben: »Jedem, der großes Talent besitzt, öffnen sich zwei Wege, ein schmaler und ein breiter, groß zu sein und zu leiden oder gewieft und gut situiert.« Sie ordnete Wilde der zweiten Kategorie zu und zeigte sich mit seiner Verurteilung zu zwei Jahren verschärfter Zuchthaushaft durchaus einverstanden, denn nun seien »das Chaos und Durcheinander eines verschwendeten Lebens« für die ganze Welt sichtbar.
Nein, ein nach außen getragener Bohemismus war Cather, der konservativen Kleinstädterin, eher suspekt, vielleicht sogar unheimlich. In »Pauls Fall« zeigt sich das in einer intensiven Farbpalette der Kleidung und Ausstattung von Räumen und vor allem in der Darstellung üppigen Blumenschmucks. Wie Paul liebte Cather Blumen; in ihrer Korrespondenz beschreibt sie immer wieder die Sträuße und Pflanzen, mit denen sie ihre Wohnungen dekorierte; ihr Lektor Ferris Greenslet bei Houghton Mifflin in Boston und später ihr New Yorker Verleger Alfred Knopf (und besonders seine Frau Blanche) achteten darauf, ihr regelmäßig Buketts zukommen zu lassen. Doch für Paul werden diese Blumen zur Gefahr; ihr Duft ist betörend, ja betäubend, und natürlich begleitet ihn die rote Nelke am Ende in den Tod.
Cather teilte mit Paul auch die Liebe zum Theater, und ihr war sehr wohl der Widerspruch bewusst zwischen den rauchenden Fabrikschloten, die Pittsburgh umgaben, und den hochkarätigen Gastspielen. Doch nie wäre sie, die Kritikerin, dem Zauber des Spektakels erlegen in der naiven Weise, in der Paul ihm erliegt. In der Erzählung, die aus einer auktorialen Perspektive geschrieben ist, obwohl sie oft seiner Sicht der Dinge folgt, taucht an bezeichnender Stelle eine Art griechischer Chor auf: Die Schauspielerinnen des Schmierentheaters, das Paul als der glanzvolle Mittelpunkt der Welt erscheint, arbeiten dort nur, um ihren dysfunktionalen Familien ein Einkommen zu verschaffen.
Cather gibt sich selbst einen Cameo-Auftritt als Pauls Englischlehrerin, die nicht nur an der ihn verdammenden Lehrerkonferenz teilnimmt, sondern auch seine Illusion der Theaterwelt ins Wanken bringt, als sie dank der von einem wohlhabenden Gönner gestifteten Karte in den teuren Parkettreihen der Carnegie Hall auftaucht, für die Paul Platzanweiser ist – in ihrer schäbigen Lehrerinnenkluft. Aber genau diese Kleidung ist Cathers Schutz, ihre Rüstung gegen das Abgleiten in eine frivole und im Endeffekt selbstzerstörerische Boheme.
Cather kannte Pauls Wunsch, in New York zu leben, einem weiteren Sehnsuchtsort. Sie war im Februar 1898 zum ersten Mal dort gewesen, als Kritikerin, also genau in jener harschen Jahreszeit, in der auch Paul eine Woche dort verbringt, und sie war ein Fan des damaligen Hotels Waldorf. Aber im Gegensatz zu Paul machte sie natürlich ihre Hausaufgaben und bereitete sich gründlich auf die Übersiedlung vor. Sie hatte sich bereits herausgearbeitet aus dem beengten Haus in Red Cloud, dem Studentenquartier in Lincoln, der tristen Pension ihrer ersten Station in Pittsburgh. Das opulente Stadthaus der McClungs mit Personal und zahlreichen Annehmlichkeiten hatte ihr einen Eindruck vom besseren Leben vermittelt. Und dennoch wurde sie nie übermütig, lebte nie über ihre Verhältnisse.
Im April 1903 schickte Cather mehrere Erzählungen an den charismatischen und exzentrischen New Yorker Verleger Samuel S. McClure, dessen Magazin seinen Namen trug. Eine Woche später erhielt sie ein Telegramm, das sie zu einem Gespräch mit ihm am 1. Mai 1903 nach New York einlud – oder vielmehr hinzitierte.
Sie schrieb eine Woche später an den Journalisten und frühen Mentor Will Owen Jones in Lincoln: »Unser erster Geschäftstermin, an einem schönen Frühlingsmorgen, dauerte mehr als zwei Stunden. Mein Leben ist seither voller neuer Möglichkeiten. Ich bewege mich viel vorsichtiger, weil ich mir selbst so viel wertvoller vorkomme. Am vergangenen Freitag um zehn hätte ich mich vor einem Unfall mit der Straßenbahn und derartigen Dingen noch nicht besonders gefürchtet. Aber als ich um eins aus dem Büro kam, war mein Leben der Rettung wert. Er wird die Sammlung als Buch herausbringen, die Erzählungen aber zunächst im Magazin vorabdrucken, um mir ein Extra-Einkommen zu verschaffen. […] Er will alles haben, was ich schreibe, und wenn er es nicht selbst gebrauchen kann, wird er es woanders für mich unterbringen. Er hat mir so viel Mut und Kraft gegeben, dass ich mein Bestes nicht nur für mich selbst, sondern auch für ihn geben möchte.«
Cather gab Samuel McClure in der Tat ihr Bestes, lange Jahre auf Kosten ihrer eigenen Karriere. Als Ghostwriterin – und pro bono – schrieb sie später sogar seine Autobiographie. Und als er im Alter vollkommen mittellos war, unterstützte sie ihn finanziell. Niemals vergaß sie die Emotionen, die sie in diesem Brief ausgedrückt hatte: McClures Vertrauen in sie und ihre schreibende Zukunft, die für sie an diesem schönen Maimorgen in New York begann.
Im Sommer 1902 war Cather, gemeinsam mit Isabelle McClung, zum ersten Mal in Europa gewesen, in England und Frankreich. In den Sommerferien des Jahres 1903, Wochen nach der ersten Begegnung mit S. S. McClure, besuchte sie ihre Familie in Red Cloud. Auf dem Rückweg nach Pittsburgh machte sie Station im Haus der Herausgeberin des Lincoln Courier, Sarah Harris, wo sie die zehn Jahre jüngere Edith Lewis kennenlernte.
Lewis stammte wie Cather aus einer Familie, die es aus dem Osten der Vereinigten Staaten nach Nebraska verschlagen hatte, wenn auch in ein urbaneres Umfeld – in ihrem Fall von Neuengland in die Universitätsstadt Lincoln. Trotz der sich häufenden wirtschaftlichen Rückschläge, die Ediths Vater Henry hinnehmen musste, wurde ihr der Besuch des renommierten Smith College in Massachusetts ermöglicht, das später zwei von Cathers Nichten besuchten und Cather die Ehrendoktorwürde verlieh.
Lewis hatte gerade erst ihren College-Abschluss gemacht; in ihren Memoiren, die 1953 erschienen, schrieb sie, nicht ohne ein bisschen Selbstschmeichelei, über Cather: »Sie schien beeindruckt davon, dass ich im Herbst nach New York ziehen und dort Arbeit finden wollte, egal welcher Art. Sie lud mich ein, Halt in Pittsburgh zu machen und eine Nacht im Haus des Richters McClung zu verbringen, wo sie zu jener Zeit lebte.«
Dieser Besuch fand nicht statt, und das war vielleicht auch besser so – die Beziehung zwischen Edith Lewis und Isabelle McClung blieb, um es vorsichtig auszudrücken, lebenslang angespannt. Stattdessen fuhr Cather in den folgenden Jahren ein paarmal zu Lewis nach New York. Und dann, im April 1906, gegen Ende des Schuljahres, wagte sie den Sprung aus der Industriestadt in Pennsylvania und zog in ein Zimmer im Gebäude 60 Washington Square, in dem auch Lewis lebte. S. S. McClure hatte ihr ein weiteres Angebot unterbreitet: Redakteurin beim Magazin McClure’s zu werden. Weil er es sich durch seine fordernde Art und seinen hoffnungslosen Umgang mit Finanzen mit den prominenteren Mitgliedern seines Teams verdorben hatten, brauchte er neue Talente. Ermutigt durch Cather, arbeitete auch Edith Lewis schon seit 1906 dort. Die Position als Redakteurin und Korrektorin sicherte sie nach dem Bankrott ihres Vaters finanziell ab und ermöglichte ihr die Selbständigkeit in New York.
Einen Großteil des Jahres 1907 verbrachte Cather in Boston, beschäftigt mit Recherchen und der kompletten Umarbeitung eines ausführlichen Artikels über Mary Baker Eddy, die Gründerin von Christian Science. Lewis reiste mehrere Male dorthin, weil sie der Freundin als Redakteurin dieses fast buchlangen Artikels zugeteilt worden war.
Dennoch brach Cathers Beziehung zu Isabelle McClung nicht ab. Als sie im Frühjahr 1908 an ihre alte Schullehrerin Alice Goudy schrieb: »Ich fühle, dass endlich ein Anfang gemacht ist. […] Ich durchlebe eine lange, erfüllende Phase, mit erfüllender Arbeit und der erfüllendsten menschlichen Gesellschaft« – wen meinte sie da? McClung? Lewis? Beide? Womöglich auch den Chef und die Kollegen bei McClure’s? Ihr gesellschaftliches Leben war umfangreicher geworden.
Im Sommer 1908 fuhr Cather ein zweites Mal nach Europa, diesmal nach Italien und wieder mit Isabelle McClung. Dafür ohne Edith Lewis, die sich, wie die Cather-Biographin Hermione Lee vermutet, nach dem Bankrott des Vaters diese Reise wahrscheinlich nicht leisten konnte und zudem sicher weniger Freiräume bei McClure’s hatte. Was mag das in Lewis ausgelöst haben? Zumal aus dieser Reise eine weitere Erzählung hervorging, die tragische Liebesgeschichte »Auf der Straße der Möwen«.
Unter den ganz wenigen Schriftstücken, die sich aus der vernichteten Korrespondenz zwischen Cather und McClung erhalten haben, befindet sich eine Postkarte, die Erstere vom Hotel Royal Danieli in Venedig schrieb, nachdem die Freundin vor ihr zurückgereist war: »Ich war heute Morgen noch einmal in Santa Maria della Salute, um einen Tizian anzusehen und einen wunderbaren Tintoretto. Bitte gib Bacchus und Ariadne an niemanden weg. Ich will das Bild für uns behalten. Ich habe einige weitere Bilder gekauft, aber nicht dieses, und ich liebe es von allen am meisten. Du bist jetzt auf dem Atlantik!«
McClung, so scheint es, schwamm Cather buchstäblich davon, so wie Alexandra Ebbling unwiderruflich dem jungen amerikanischen Diplomaten entschwimmt. Doch vielleicht empfand es die Freundin andersherum auch so? Obwohl Cather zum Schreiben nach wie vor in das Nähzimmer im Haus der McClungs reiste, baute sie sich in New York eine Karriere auf. Sie wurde bereits im September 1908 zur Chefredakteurin befördert, und im Oktober bezogen sie und Edith Lewis gemeinsam eine deutlich komfortablere Wohnung in der Nähe des Washington Square, eine Wohnung, die Lewis für sie beide gefunden hatte, während Cather mit McClung in Italien war. Den Stich des Tizian-Gemäldes Bacchus und Ariadne, den die beiden unterwegs in Italien gekauft hatten, würden sie nicht »für uns behalten«. Es ist möglich, dass er sich unter jenen Bildern befand, über die Edith Lewis in ihren Memoiren schreibt: »Sie [Cather] hatte aus Italien eine Reihe von Abzügen mitgebracht – Kopien von Tintorettos, Giorgione, Tizians, etc. –, und diese ließ sie nun rahmen und aufhängen.« Isabelle hatte die Reisen gehabt, aber Lewis teilte das Leben mit Cather.
Nur wenige Monate nach dem Tod von Richter McClung im November 1915 wurde das Haus in Pittsburgh verkauft, und Isabelle heiratete den fünf Jahre jüngeren Violinisten Jan Hambourg; da war sie 38 Jahre alt. Cathers Reaktion, in einem Brief an die Freundin Dorothy Canfield Fisher, klingt wie ein Aufschrei: »Nein, Dorothy, ich habe in diesem Winter kein neues Buch anfangen können. […] Am 3. April wird Isabelle Jan Hambourg heiraten. […] Ich freue mich, denn sie ist sehr glücklich, aber es ist doch sehr schwer, das lange Pittsburgh-Kapitel endgültig abzuschließen. […] Jan und ich sind einander nicht sehr sympathisch. Er hat eine starke Persönlichkeit – entweder mag man ihn, oder man mag ihn nicht. Obwohl Isabelle viel Zeit in New York verbringen wird, können die Dinge natürlich nicht so bleiben, wie sie waren. Es ist, verstehst Du, eine verblüffende Lebenswende, und, so positiv ich es auch ausdrücken möchte, ein katastrophaler Verlust für mich.«
Entgegen ihrer Annahme würden die Hambourgs nicht viel Zeit an der Ostküste verbringen. Sie zogen zunächst nach Toronto und lebten von 1920 an überwiegend in Frankreich. Doch Cathers Äußerung über Isabelles Eheschließung klingt auch ein bisschen melodramatisch: Zu diesem Zeitpunkt hatte sie längst die Weichen ihres eigenen Lebens gestellt.
Während Cather in Boston war, um die große Reportage über Mary Baker Eddie umzuarbeiten, war sie Annie Fields vorgestellt worden, der Witwe des Verlegers James Fields. Seit dessen Tod lebte Fields in ihrem großzügigen Haus in der Charles Street und im Seebad Manchester-by-the-Sea mit der Autorin Sarah Orne Jewett zusammen. Fields war bekannt für ihren literarischen Salon, in dem sie junge Autoren förderte. Doch es war Jewett, die große Regionalistin aus Maine, die wohl den nachhaltigsten literarischen Einfluss auf Cather gehabt hat. Cather kannte und verehrte ihr Werk, das persönliche Erfahrungen aus dem kleinstädtischen und ländlichen Maine verarbeitete und oft weiblichen Protagonisten eine tragende Rolle zuwies oder gar, wie in der Erzählung »Toms Ehegatte«, die typischen Geschlechterrollen vertauschte.
Auch für Cathers persönliches Leben war das Vorbild von Fields und Jewett von größter Bedeutung; die beiden lebten seit vielen Jahren in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung, einer »Boston Marriage«. War dieser Begriff auch von Henry James in seiner Novelle Die Damen aus Boston geprägt worden, wurde er von niemandem so sehr verkörpert wie von dem prominenten Paar. Es mag kein Zufall sein, dass die Bekanntschaft mit den beiden Cather aus ihrem Zimmer am Washington Square herausführte in die häusliche Behaglichkeit einer ersten gemeinsamen Wohnung mit Edith Lewis. Die konservative Gutbürgerlichkeit des Bostoner »Modells« war das Gegenteil der flamboyanten Homosexualität eines Oscar Wilde, die der Junge Paul sich wünscht und die ihm zum Verhängnis wird.
Es ist die Erzählung »Auf der Straße der Möwen«, die Jewett veranlasst, zwei strenge, gleichwohl inspirierende Briefe an die jüngere Freundin zu schreiben, Briefe, die längst Berühmtheit erlangt haben. »Der Liebhaber ist so gut getroffen«, heißt es in dem ersten, »wie es ein männlicher Charakter sein kann, wenn eine Frau ihn schreibt – das muss doch, denke ich, immer eine Art Maskerade bleiben. […] Und doch hätten Sie fast als Sie selbst schreiben können – eine Frau hätte sie [Alexandra Ebbling] auf dieselbe schützende Weise lieben können.«
Zwei Wochen später geht Jewett noch weiter: »Wenn Sie Ihre Arbeit nicht bewahren und schützen und reifen lassen und sich vor allem nicht die Zeit und die Stille nehmen, sie zu perfektionieren, werden Sie nichts schreiben, was besser ist als das, was Sie vor fünf Jahren geschrieben haben.« Obwohl sie wohlwollend hinzufügte, dass das »›Bohemia‹ von Zeitungs- und Magazinredaktionen« ein »Hintergrund« für das Schreiben belletristischer Texte sein könne, so mahnte sie doch: »Sie müssen den eigenen stillen Mittelpunkt Ihres Lebens finden und von dort aus schreiben.« Sonst, so mahnte die erfahrene Autorin, sei die Stärke des Schriftstellers nur Rohheit, Ausdruck von Gefühlen nur Gefühlsduselei – eine Einschätzung, die Cather sehr an ihre eigenen frühen Kritiken, etwa die über Wilde, erinnert haben muss. Eindrücklich empfiehlt Jewett eine Rückbesinnung auf die Jugendjahre in Nebraska, die Kindheit in Virginia anstatt der Themen, die Cather zuletzt gewählt hat und mit denen sie »über das Leben« geschrieben habe, aber eben nicht »das Leben selbst«.
»Auf der Straße der Möwen« ist die einzige Erzählung, die Cather 1908 veröffentlichte, und die Herausforderung bestand für sie nicht zuletzt darin, eine Balance zwischen ihrem eigenen Schreiben und dem nötigen Broterwerb herzustellen. Wie die feministische Kritikerin Tillie Olsen hervorhebt, gab es für die geringe Produktivität noch einen weiteren Grund. Cathers Idol Henry James hatte sich nie die Mühe gemacht, auf ihre Zusendung des Erzählungsbandes The Troll Garden auch nur zu reagieren – mehr noch: Sie musste durch einen Freund, den Autor Witter Bynner, erfahren, mit welcher Abschätzigkeit der gefeierte Schriftsteller auf Arbeiten junger weiblicher Autoren reagierte, indem er sie einfach ignorierte. Olsen zufolge verstummte Cather nicht zuletzt auch aus dieser Erfahrung heraus, trotz ihres enormen journalistischen Pensums jener Jahre.
Die Briefe von Jewett müssen Cather wie ein Zauberstab erschienen sein, der sie von dieser Stummheit erlöste. Es sollte noch mehrere Jahre dauern, bis Cather genug Geld gespart hatte, um sich langsam aus der Magazin-Arbeit zu lösen und auf ihr eigenes Werk zu konzentrieren. Noch bevor sie sich 1912 von McClure’s zurückzog und damit die außergewöhnlich produktive Phase ihres Romanschreibens begann, befolgte sie jedoch Jewetts Rat, in ihren Erzählungen Themen aufzugreifen, die weniger »jamesianisch« waren. Sie schrieb von nun an über das, was sie kannte und was ihrem Herzen am nächsten war.
Nach der bereits beschriebenen Geschichte »Der verwunschene Fels« entstand die oft übersehene Erzählung »Die Lebensfreude der Nelly Deane«, die 1911 in dem Magazin Century erschien. Auch hier ist der Erzähler, nein, endlich die Erzählerin der Enge der westlichen Kleinstadt entkommen, und hier wird sie selbst zur wichtigsten Figur neben der Titelgestalt Nelly Deane. Tatsächlich ist Peggy diejenige, die handelt, während sich Nelly bloßen Träumen hingibt und ihr Leben passiv über sich ergehen lässt. Nelly sitzt in Riverbend fest, genau wie die Jungen in Sandtown.
In keinem anderen Text offenbart sich Cather als Ich-Erzählerin so deutlich wie in diesem, und es ist bezeichnend, dass sie die Erzählung unmittelbar nach dem Tod ihrer Mentorin Sarah Orne Jewett (1909) zu schreiben beginnt. Peggy ist eine erfolgreiche junge Frau, die es nicht nur schafft, die Kleinstadt hinter sich zu lassen und das College zu absolvieren, sondern nach Italien geht (wir erfahren nicht warum). Sie sitzt auf dem Kapitolinischen Hügel in Rom, wo Cather im Mai 1908 mit Isabelle McClung saß, und wird, nachdem sie vom Tod der von ihr angebeteten Schulfreundin Nelly erfahren hat, so sehr von Heimweh gebeutelt, dass sie unbedingt nach Riverbend zurückkehren muss. Sie, die dort keine Familie mehr hat, ist bestens untergebracht bei der verwitweten Mrs. Dow. Bei genauerem Hinsehen hat selbige Mrs. Dow viele Ähnlichkeiten mit Cathers geliebter Großmutter Rachel Boak, die später zu Mrs. Harris wird: Das Wohnzimmer von Mrs. Dow sieht genauso aus wie das der Templetons in der Erzählung »Die alte Mrs. Harris«. Und wie das der Cathers in Red Cloud.
In der Zeit nach McClure’s, in der sie sie ihre ersten großen Romane veröffentlichte, schrieb Cather einige Erzählungen mit dem Handlungsort New York. Der längste dieser Texte und vielleicht ihr humorvollster ist »Schon bald: Aphrodite!«. Es ist auch derjenige, der die expliziteste Sexszene enthält. Was bei Nelly Deane und Peggy noch Pyjamaparty ist, wird hier erotisch ausgebaut: von Don Hedgers begierigen Blicken durch das Astloch im Schrank auf die Nackt-Gymnastik seiner schönen Nachbarin Eden Bower bis zu dem Moment, in dem sie durch die sexualisiert geschilderte Bodenluke in seine Arme fällt. Was beide indes trennt, ist der alte Konflikt zwischen hoher Kunst, die um ihrer selbst willen existiert (Don Hedger), und Kunst zur Unterhaltung, die ein komfortables, im besten Fall luxuriöses Leben ermöglicht, indem der Künstler hohe Preise für seine Arbeit erzielt, aber um dieses Lebens willen sein Talent kompromittiert (Eden Bower). Cather, die zu diesem Zeitpunkt selbst als Autorin finanziell so erfolgreich war, dass sie an eine Rückkehr in die Alltagsmühle des Magazinschreibens nicht mehr zu denken brauchte, begegnet Eden Bower dennoch mit einer gewissen Sympathie, denn auch Eden hat ihre finanzielle Selbständigkeit schließlich durch Talent erreicht. Cather gesteht ihr Eigenwillen und Mut zu, wenn diese sich beim Ballonfahren ans Trapez hängt. Sie idealisiert sie auch zur begehrenswerten weiblichen Sex-Ikone – nicht umsonst tritt sie unter dem Pseudonym Aphrodite auf. Und das, obwohl »Eden Bower« selbst schon eine Verfremdung des Namens der als Edna Bowers in Illinois geborenen Protagonistin ist – die aber die darin liegende nicht unbedingt schmeichelhafte Anspielung auf das Gedicht des von Cather verehrten Dichters Dante Gabriel Rossetti gar nicht versteht, sondern Don Hedger treuherzig erklärt, dass ihr »Freund«, der an ihr nicht uninteressierte Musikkritiker »Mr. Jones«, den Namen für eine Künstlerin passender finde.
Eden Bower ist nicht die erste von Cathers Aphroditen. Während ihrer Italienfahrt im Sommer 1908 bereisten Cather und McClung Florenz, wo sie Botticellis Geburt der Venus sahen. Alexandra Ebbling (»Auf der Straße der Möwen«) ist rothaarig wie diese Venus, und ob sie nun im Seewind am Heck sitzt, mit Regentropfen in den Wimpern, oder in ihrem blassgrünen Abendkleid an der Reling lehnt – es besteht kein Zweifel, wen sie verkörpert. Das Gleiche gilt für Nelly Deane, wenn sie in Vorbereitung auf ihre Hochzeit mit dem unsympathischen Scott Spinny in einem dünnen Wollhemd tropfnass aus dem Taufbecken der baptistischen Kirche steigt, ihre körperlichen Reize sichtbar für die ganze Gemeinde.
»Schon bald: Aphrodite!« war Teil von Cathers erster Buchveröffentlichung bei Alfred A. Knopf, dem aufsteigenden Jungverleger in New York. Ein Nachdruck erschien in Smart Set, wo man sich vor Eden Bowers Nacktheit so sehr fürchtete, dass Cather sie für diese Fassung während ihrer Gymnastik mit »einer Art rosa Tüllwolke« bekleiden musste. Deutlich ist zu spüren, wie vertraut der Autorin die Räumlichkeiten waren, in denen Eden und Don Hedger leben: die aneinandergrenzenden Zimmer, das Bad auf dem schmalen Flur, die steilen Treppen sind die des Gebäudes 60 Washington Square, auf der Südseite des Platzes, in dem Cather selbst ihre ersten Jahre in New York verbrachte.
Der heitere Ton, der weite Teile der Erzählung durchzieht, ist nicht nur dem komischen Unverständnis geschuldet, mit dem Hedger und Eden Bower einander begegnen, sondern auch der Tatsache, dass Hedgers überaus gepflegter Rassehund Caesar – im Kontrast zu seiner eigenen schlampigen Aufmachung – mitunter das Geschehen kommentiert. Die Erzählung fängt die Atmosphäre von Cathers frühen New Yorker Jahren ein, die Edith Lewis in ihren 1953 erschienenen Memoiren folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Die jugendhafte, leichtherzige und recht poetische Stimmung jener Tage vor dem Automobil, dem Radio, dem Kino – und vor zwei Weltkriegen.«
Doch Cather, wie sie es so oft mit ihren Rahmenhandlungen tat, beschrieb den Sommer, den ihre Figuren erleben, aus einer zeitlichen Distanz. Ihre eigene improvisierte WG am Washington Square hatte sich längst zu einer liebe- und vertrauensvollen langjährigen Beziehung mit Lewis gefestigt; die beiden lebten nun, nach einem erneuten Umzug, gemeinsam in einer großzügigen Wohnung in der 5 Banks Street und hatten eine Zugehfrau, die fast täglich für sie kochte und putzte. Aus dieser bürgerlichen Behaglichkeit konnte Cather ihre Ideen und Themen sondieren und entwickeln. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich in die aufkeimende Liebesbeziehung zwischen Eden Bower und Don Hedger seine verstörende Erzählung einer aztekischen Sage schiebt (die Cather selbst Jahre zuvor in New Mexico gehört hatte) – so verstörend, wie sich der erste der beiden Weltkriege schon zwischen die Entstehung der Erzählung und die Zeit, in der sie spielt, geschoben hatte.
Cathers Fokus in den 1920er Jahren lag vor allem auf ihren Romanen; sie veröffentlichte nur wenige Erzählungen, die jedoch an Länge viele ihrer früheren Werke überschritten. Seit dem Sommer 1922 hatten sie und Lewis ein neues Refugium gefunden: die kanadische Insel Grand Manan in der Bay of Fundy. Eine befreundete New Yorker Bibliothekarin hatte ihnen von der dortigen Sommerkolonie erzählt, Whale Cover, in der Akademikerinnen, Journalistinnen, Lehrerinnen, Autorinnen ihren Karrieren für die Sommerferien entkamen. Es war keine explizit lesbische Kommune, obwohl weibliche Paare einen festen Bestandteil der Sommergemeinschaft bildeten. Ebenso gehörten alleinstehende Frauen, Witwen und Schwesternpaare dazu. Besonders für Lewis, die zur renommierten Werbeagentur J. Walter Thompson & Co. gewechselt hatte und als erfolgreiche Werbetexterin großem Druck ausgesetzt war, bot diese Sommerfrische dringend benötigte Erholung. Cather entdeckte bald, wie sehr diese neblige, einsame Insel ihrer Schreibtätigkeit zugutekam, stets begleitet von Lewis’ klugem und partnerschaftlichem Lektorat. Wie andere Frauen, die zu den »cottage girls« von Whale Cove gehörten, ließen Lewis und Cather einige Jahre später ein eigenes Sommerhaus bauen (das zumindest nominell Lewis allein gehörte). Hier empfingen sie oft Gäste, mit denen sie, wie mit den anderen Frauen der Gemeinschaft, die Abendessen meist im lokalen Inn einnahmen, der das Zentrum der Sommersiedlung bildete: Ediths Schwester Ruth kam etwa mit den Lewis-Nichten, und mehrmals lud auch Cather ihre Nichten ein. Die jungen Frauen wurden stets in den Gästezimmern des Inns untergebracht: »Als wir gebaut haben, haben wir darauf bestanden, kein Gästezimmer zu haben und keinen Raum, der sich zu einem solchen eignen könnte!«, schrieb Cather an ihren Verleger Alfred Knopf. Niemals eingeladen wurden männliche Familienmitglieder oder Freunde; da herrschte unter den »cottage girls« ein unausgesprochenes Gesetz.
Cathers Vater war im März 1928 an einem Herzinfarkt gestorben; ihr unverheirateter Bruder Douglass nahm die gebrechliche Mutter mit nach Kalifornien, wo die älteste Tochter Willa sie über lange Perioden besuchte und auch mit pflegte. Jennie Cather starb im August 1931, während Cather auf Grand Manan war; die verzögerten Kommunikationswege bis auf die abgelegene Insel und die komplizierte An- und Abreise machten es ihr unmöglich, an dem Begräbnis teilzunehmen. Am 2. September 1931, drei Tage nach dem Tod der Mutter, schrieb Cather an die jüngste Schwester Elsie: »Natürlich wird das Leben für keinen von uns jemals wieder so sein, wie es war. Das ist der Preis, den man zahlt, wenn man seine Eltern für eine so lange Zeit bei sich gehabt hat, bis man selbst schon die Widerstandskraft der Jugend verloren hat. Aber dann versteht man so viel besser, dass es diesen Preis wert ist.«
Dieser Satz findet ein Echo im letzten Absatz der Erzählung »Die alte Mrs. Harris«. Weder Victoria noch ihre siebzehnjährige Tochter Vickie »verstehen« die Bedeutung des Verlustes von Mutter beziehungsweise Großmutter so recht, jedenfalls nicht so, wie die fast 60-jährige Autorin es vermag. Aus diesem Verlust heraus schreibt sie eine Liebeserklärung an ihre Familie. Es ist indes bemerkenswert, dass in dieser Erzählung, die, wie Edith Lewis später in ihren Memoiren anmerkte, genauso gut den Titel »Familienporträts« hätte tragen können, Cathers Schwestern Jessica und Elsie fehlen; Vickie Templetons jüngere Geschwister sind allesamt Jungen. Vickie, mit Stipendium und nachbarschaftlicher Hilfe im Rücken, auf dem Weg ins College, die Älteste, das begabteste und ambitionierteste der Templeton-Kinder, ist die unbestrittene Kronprinzessin der Familie, sie steht der ungebildeten und eitlen, wenn auch gutherzigen Mutter Victoria gegenüber, eine Rolle, die nicht durch weitere weibliche Nachkommen verkompliziert wird.
Cather schreibt »Die alte Mrs. Harris« für die ihr besonders nahestehenden Brüder Douglass und Roscoe (die als Zwillinge geschildert werden); jeder Raum im Haus in Red Cloud ist minutiös abgebildet. Sie schreibt sie auch im Gedenken an ihre Großmutter mütterlicherseits, Rachel Boak, deren Leben so eng mit dem der wachsenden Cather-Familie verknüpft war, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihr komfortables Leben in Virginia hinter sich zu lassen und ihrer Tochter und dem Schwiegersohn in die viel härtere Grenzland-Existenz zu folgen, in der es ihr ganzes Glück war, sich um die wachsende Enkelschar zu kümmern. Die Kinderbücher und Heftchenromane, die in »Die alte Mrs. Harris« gelesen werden, waren Cather und ihren Geschwistern bestens vertraut, und John Bunyans Pilgerreise las die Großmutter wieder und wieder vor.
Das Mosaik der Familie wird auf die Komplexität der gesellschaftlichen Abstufungen in der Kleinstadt ausgedehnt, die hier Skyline heißt: die konkurrierenden Kirchengemeinden, die kartenspielenden Damen der aus dem Osten der Vereinigten Staaten zugewanderten Familien; die Deutschen, die Böhmen, die Skandinavier, die die Farmen bewirtschaften, die ein paar Jahrzehnte zuvor ebendiesen »älteren« amerikanischen Familien per Siedlungsgesetz zugeteilt worden waren. Das Städtchen ist gewachsen: Es hat seit Neuestem sogar elektrische Straßenbeleuchtung, zum Entzücken der Zwillinge Albert und Adelbert, die im Schein der Laternen bis spät abends draußen spielen können.
Und schließlich singt Cather eine Hymne auf die Nachbarn der Templetons, die Rosens. Sie stehen Pate für die Wieners, Nachbarn der Cathers in Red Cloud, jüdische Immigranten, die ihre deutsche Sprache und ein perfektes Französisch mit in das Örtchen brachten, sich als Außenseiter durch Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit zu integrieren vermochten und der wissbegierigen jungen Willa großzügig Zugang zu ihrer Bibliothek gewährten.
Cather konnte, als sie »Die alte Mrs. Harris« schrieb, nicht wissen, dass ihr annus horribilis noch bevorstand. Im Sommer 1938 starb der Bruder Douglass an einem Herzinfarkt, ein Schock für die Schwester. Im Oktober desselben Jahres erlag Isabelle Hambourg einem langjährigen Nierenleiden. Cather hatte über all die Jahre ihre Beziehung aufrechterhalten, durch einen intensiven Briefwechsel und durch Besuche. 1935 unternahmen Lewis und sie ihre letzte Europareise und verbrachten viel Zeit mit den Hambourgs in Paris.
Nach dem Tod der langjährigen Freundin verkroch sich Cather, ohne Lewis, im Shattuck Inn in New Hampshire, das sie einst mit den Hambourgs entdeckt hatte. »Keine lebende Seele«, schrieb sie von dort erbittert ihrem Bruder Roscoe, »hat mein Werk empfunden, wie sie es tat, über 38 Jahre hinweg. Was mich betrifft, so habe ich immer zu viel empfunden, für Menschen und für Orte – viel zu viel empfunden. Als Autorin hat mir das zum Erfolg verholfen. Aber ich werde am Ende daran zerbrechen. Ich habe das Gefühl, keinen Fuß mehr vor den anderen setzen zu können. Man sagt, ich schreibe in einem ›klassischen Stil‹. Wenige verstehen, dass es das Feuer unter den einfachen Worten ist, das zählt.«
Cather hob in ihrem Brief hervor, dass sie im Shattuck Inn einige ihrer besten Werke begonnen oder vollendet hatte, erwähnte aber nicht, dass Edith Lewis dabei oft an ihrer Seite war. Lewis, die erfolgreiche Werbetexterin, hatte seit zwei Jahrzehnten Cathers Manuskripte nicht nur korrigiert, sondern oft in klärender oder straffender Weise eingegriffen; an der Herausformung ebenjenes »klassischen« Stils, am Entfachen des »Feuers unter den einfachen Worten« hatte sie, wie aus ihrem handschriftlichen Lektorat der Typoskripte deutlich erkennbar ist, beträchtlichen Anteil. Doch selbst nach Isabelle Hambourgs Tod scheint Cather hin und her gerissen zu sein zwischen der idealisierten Freundin und der Partnerin.
Aus dem Shattuck Inn stammt einer der wenigen überlieferten Briefe von Cather an Lewis, ein außerordentlich bewegender Liebesbrief. Die beiden hatten dort, im Obergeschoss, stets zwei miteinander verbundene Räume, doch im September 1936 war Lewis wegen beruflicher Verpflichtungen vorzeitig nach New York zurückgekehrt. Am Sonntag, dem 5. Oktober 1936, schrieb die Zurückgelassene: »Meine liebste Edith, ich sitze in Deinem Zimmer und sehe über die Wälder, die Dir so vertraut sind. […] In einer Stunde werde ich, aus Deinem Fenster, etwas Unvergleichliches sehen – Jupiter und Venus werden beide am rosig goldenen Himmel erscheinen, beide im Westen; sie nicht weit über dem Horizont und er halbwegs zwischen dem Zenit und dem silbrigen Damenplaneten. […] Das dauert ungefähr eine Stunde (jedenfalls war es gestern so). Dann wird die Dame, in all ihrer Silbernheit, in den klaren, rosigen Schein herabsinken, um sich in der Nähe der verlorenen Sonne zu halten, und der majestätische Jupiter hängt allein dort. […] Ich kann einfach nicht glauben, dass es sich bei all dieser Hoheitlichkeit und Schönheit, diesen schicksalhaften und unfehlbaren Erscheinungen und Abtritten nicht um mehr handelt als Mathematik und scheußliche Wetterdaten. Wenn sie aber nur das sind, dann sind wir die einzigen wunderbaren Dinge – weil wir die Gabe haben, uns zu verwundern.
Ich habe mein weißes Seidenkostüm fast die ganze Zeit getragen, ohne weißen Hut, was sich sehr seltsam anfühlt … Alles, was Du gepackt hast, ist perfekt angekommen – nicht eine Falte.
Und jetzt muss ich mich umziehen, Liebling, um die Planeten zu begrüßen; ich möchte damit keine Zeit verschwenden, nachdem sie erschienen sind, denn sie warten auf niemanden.
In Liebe, W.«
Wer ist Venus? Wer ist Jupiter? In diesem einfachen Brief an die Gefährtin während nunmehr dreißig Jahren ist der erotische Unterton ergreifend. Das Fehlen einer ausgiebigen Korrespondenz zwischen den beiden hat, wie die Cather-Forscherin Homestead hervorhebt, womöglich einen ganz pragmatischen Grund: die beiden lebten zusammen, und wenn sie auch in den früheren Jahren ihrer Beziehung oft noch getrennt reisten, so verbrachten sie mehr und mehr Zeit gemeinsam, besonders seit dem Ende der 1920er Jahre, als Cathers zunehmende gesundheitliche Beschwerden Lewis’ fast ständige Nähe erforderten. Briefe aber schreibt man dem, der fern ist, und fern war die meiste Zeit über Isabelle McClung Hambourg.
Jan Hambourg informierte Cather nach dem Tod seiner Frau, dass er ihr ihre Briefe an Isabelle zurückschicken werde, es seien wohl ungefähr 300. Als die Briefe eintrafen, zählte Cather nahezu 600. Sie bat Lewis, die Korrespondenz, auch jene Briefe, die sie selbst über die Jahrzehnte von Isabelle erhalten hatte, im Müllofen ihres Apartmentgebäudes zu verbrennen. Man kann es Lewis nicht verdenken, wenn sie bei dieser wochenlangen Beschäftigung so etwas wie Erleichterung oder gar Genugtuung verspürt haben mag.
Das letzte Mal, dass sich Cather auf der Insel Grand Manan aufhielt, war im Sommer 1940. Sie konnte nicht ahnen, dass sie den geliebten Felsen in der Bay of Fundy nicht wiedersehen würde. Während der Krieg seinen Lauf nahm, wurde es schwieriger, nach Kanada zu reisen. Doch es waren auch ihre gesundheitlichen Probleme, die es zunehmend als Wagnis erscheinen ließen, einen solchen abgelegenen Ort aufzusuchen, zumal der Inseldoktor John Macaulay, ein vertrauter Freund, 1939 gestorben war.
Als Cather die erst postum veröffentlichte Erzählung »Vor dem Frühstück« schrieb, verbrachte sie die Sommer stattdessen im Asticou Inn an der Küste von Maine. Obwohl sie so viel auf Grand Manan gearbeitet hatte, ist dies der einzige Text über Grand Manan. Die Insel war zum Sehnsuchtsort für sie geworden, ebenso unerreichbar, wie es der verwunschene Fels für die Jungen auf der Sandbank ist. Sie lässt den alternden erfolgreichen Geschäftsmann Henry Grenfell, ein weiteres Alter Ego, in ihr Sommerhaus in Whale Cove einziehen, wo sie jeden Kleiderhaken, jeden Flickenteppich, jede Stufe kannte. Nachdem er schlecht geschlafen hat, unternimmt er noch vor dem Frühstück den Spaziergang, den Cather selbst unzählige Male gemacht hatte, vorbei an der umgestürzten alten Fichte und dem Vogelbeerbaum. Wie Don Hedger gesteht Cather auch Henry Grenfell die Perspektive eines Voyeurs zu, den Blick auf eine wunderschöne Aphrodite, die hier allerdings erst einmal ins Meer hineinsteigt, bevor sie wieder herauskommt – ihre Muschelschale ein grauer Bademantel.
Lässt sich »Auf der Straße der Möwen« als eine Liebeserklärung an Isabelle McClung lesen, so lässt sich »Vor dem Frühstück« als Liebeserklärung an Edith Lewis deuten, die treue, zuverlässige Begleiterin über fast vier Jahrzehnte. Wie oft mag Cather oben auf jenem Felsen gestanden und der athletischen, unerschrockenen Lewis zugesehen haben, wie sie ihr Morgenbad im eiskalten Atlantik nahm!
Willa Cather starb am 24. April 1947 an einer Hirnblutung, mit Edith Lewis an ihrer Seite, in der gemeinsamen Wohnung auf der Park Avenue in New York. Ihrem Wunsch gemäß wurde sie wenige Tage später auf dem Friedhof von Jaffrey, New Hampshire, beerdigt, unterhalb des Mount Monadnock, unweit vom Shattuck Inn. Seit 1972 ruht Edith Lewis ebenfalls hier. ~