Vor dem Frühstück

Henry Grenfell, von der Firma Grenfell & Saunders, stieg missmutig aus dem Bett. Er hatte eine schlechte Nacht gehabt, die erste schlaflose Nacht überhaupt in seinem eigenen Sommerhaus, auf seiner eigenen Insel, wo kein Mensch wusste, dass er der Gründungspartner von Grenfell & Saunders war, und wohin ihm die Geschäftskorrespondenz niemals nachgeschickt wurde. Er zog einen gefütterten Morgenmantel über seinen Schlafanzug (die Morgen auf den nordatlantischen Inseln sind vor Sonnenaufgang immer kalt), trat an die Fenster seines Schlafzimmers und ließ die schweren blauen Rollläden hochrattern, die vor der schamlosen Glut des Sonnenaufgangs schützten, wenn man ausschlafen wollte – und das wollte er üblicherweise am Tag nach seiner Ankunft. (Die Anreise von Boston war lang und beschwerlich, mit Zügen, die aus den übrig gebliebenen Waggons bankrotter Eisenbahngesellschaften bestanden, gefolgt von zwei der grässlichsten Dampfer der Welt.) Das Sommerhaus duckte sich bescheiden auf einer kleinen Lichtung zwischen einem hohen Fichtengehölz und der See, ungefähr fünfzig Meter entfernt von der Kante der roten Sandsteinklippen, die über zweihundert Fuß auf einen schmalen Strand hinabfielen – so schmal, dass der Strand bei Hochwasser verschwand. Auf dieser, der östlichen Seite der Insel ragten die Klippen senkrecht empor und waren an einigen Stellen ausgehöhlt.

Im Osten wurde es schon hell, ein dunkelroter Streif zog sich über den Horizont, dort, wo das Wasser auf den Himmel traf, und das Wasser selbst war dunkel, von einem undurchdringlich tiefen Blau – manchmal auch ein Silberstreif dort, wo ganz still die Flut ablief. Während Grenfell an seinem Fenster stand, kam ein großer Schneeschuhhase aus dem Fichtengehölz heruntergeflitzt, purzelte in das Grasfleckchen bei der Vordertür und begann aufgeregt am Klee zu knabbern. Er war unruhig und scheu, sein Kiefer zitterte, und mit seinen vorstehenden Augen sah er beständig um sich. Grenfell war überzeugt, dass es derselbe Hase war, der zwei Sommer zuvor jeden Morgen gekommen und ganz zutraulich geworden war. Aber jetzt schien er sich unbehaglich zu fühlen, stutzte, hielt einen Moment inne und sauste dann den begrasten Abhang hinauf und verschwand ins dunkle Gehölz. Dummes Ding! Aber immerhin, eine Art von Begrüßung.

Grenfell trat vom Fenster zurück an seinen Waschtisch aus Walnussholz (es gab kein fließendes Wasser). Geistesabwesend bereitete er seine Morgenwäsche vor, die im Schuppen hinter seinem Schlafzimmer stattfand. Während er seine morgendliche Routine begann, dachte er noch immer an den Hasen.

Zuerst die Augentropfen. Er legte den Kopf zurück, wobei er den östlichen Horizont in den Blick bekam, und hob die Glaspipette, drückte aber nicht auf den Pipettierball. Er sah etwas dort oben. Während er den Hasen beobachtet hatte, hatte sich der Himmel verändert. Über dem roten Streifen am Rand des Meeres hatte er sich zu einem blassen Blau verfärbt, und über den Horizont schwebte eine Reihe von flauschigen, rosafarbenen Wolken. Und durch diese Wolken schien ein blendender weißgoldener Planet, natürlich der Morgenstern. Zu dieser Stunde und der Sonne so nah, konnte es nur die Venus sein.

Sie schien, hinter ihren rosafarbenen Schleiern und fast allein in dem schon blauen Himmel, auf etwas zu warten. Sie war zum genau richtigen Zeitpunkt erschienen, hatte sich in die Gestirne eingefügt. Ruhige, unpersönliche Pracht. Gnadenlose Vollkommenheit, alterslose Gebieterin. Der arme Hase und sein Klee, der arme Grenfell und seine Augentropfen!

Er stützte sich auf seinen Waschtisch und starrte noch immer zu ihr hinauf. In ihm stieg ein solcher Anfall von Zorn auf, dass er laut zu brummeln begann:

»Und was bedeuten Ihnen denn schon einhundertsechsunddreißig Millionen Jahre, Madame? Dieser Professor hätte sich gar nicht so aufzublasen brauchen. Sie hatten wahrscheinlich schon einhundertsechsunddreißig Millionen Male geblinkt und geglitzert vor dem Datum, auf das diese Leute so stolz sind. Die Steine hier haben doch keine Ahnung von Ihnen. Sie haben da oben schon lange Ihre Kunststücke vollbracht, bevor hier unten irgendetwas war, doch – ach, was auch immer! Das überlassen wir den Professoren, Madame, Sie und ich!«

Die etwas kindische Bitterkeit gegenüber »Millionen« und Professoren hatte mehrere Gründe. Zwei von Grenfells Söhnen waren »Professoren«, Harrison mit dreißig Jahren ein bekannter Physiker. An diesem Morgen allerdings war es nicht Harrison, der seinem Vater in den Sinn kam. Grenfell dachte noch immer an einen freundlichen, eleganten Wissenschaftler, den er gestern auf dem Schiff kennengelernt hatte – einen reizenden Mann, der, zumindest vorübergehend, Grenfells Dasein mit seinen Höflichkeiten und seinem Wissen ruiniert hatte.

Es war nur natürlich, ja unausweichlich, dass zwei gepflegte, gut rasierte Herren in maßgeschneiderter Freizeitgarderobe an Bord der elendesten Schaluppe unter der Flagge der Kanadischen Dampfschiff-Gesellschaft und beide auf dem Weg zu einer kleinen Insel vor der Küste Nova Scotias ins Gespräch kommen würden. Es war nur noch natürlicher, weil der Wissenschaftler von einem reizenden Mädchen begleitet wurde – seiner Tochter.

Es war ein Vergnügen, sie anzusehen, wie es immer ein Vergnügen ist, ein wohlgestaltetes Geschöpf von guter Herkunft zu betrachten, das guten Geschmack zeigt. Sie hatte hübsche Augen, schöne Haut, gute Manieren. Sie hörte aufmerksam zu, während Grenfell und ihr Vater sich unterhielten, aber sie quakte nicht mit ihren Ansichten dazwischen. Als Grenfell sie fragte, wie sie den letzten Sommer auf der Insel verbracht hätten, gefiel ihm alles, was sie über den Ort und die Menschen zu sagen hatte. Sie antwortete ihm bescheiden, als könnten ihre Eindrücke höchstens für sie selbst von Bedeutung sein, aber da sie nun einmal Eindrücke gewonnen hatte, war es nur höflich von ihr, sie auch zu äußern. »Lieb, aber entschlossen«, war insgesamt sein Eindruck.

Weil sie gemeinsam zu einer Insel unterwegs waren, die nicht einmal auf den Karten verzeichnet war, einer Insel, die eigentlich nur den Motorbooten vertraut war, die sie nach einem Heringsfang anliefen, war es nur natürlich, dass sich die beiden Herren über diesen waldbestandenen Fels in der See unterhielten. Grenfell unterhielt sich immer überaus gern darüber, zumindest mit dem richtigen Gegenüber. Zuerst hatte er gedacht, Professor Fairweather sei so ein richtiges Gegenüber. Er war beunruhigt gewesen, als Fairweather erwähnte, dass er im vergangenen Sommer ein vorgefertigtes Ferienhaus an der Küste errichtet habe, etwa zwei Meilen von Grenfells Sommerhaus entfernt. Das aber würde, wie der Professor sagte, bald genauso einfach wieder verschwinden, wie es gekommen war. Seine geologischen Messungen seien im Herbst abgeschlossen, und sein Schnellbauhaus würde in Stücke zerlegt und auf eine Insel im südlichen Pazifik verschifft werden. Nachdem er ihm das zugesichert hatte, fuhr Fairweather in dem leichten Ton, in dem man sich über das Wetter unterhält, fort, eine von Grenfells geliebtesten Illusionen zu zerstören; den Fluchtweg, den er stets im Hinterkopf behielt, wenn er an seinem Schreibtisch bei Grenfell & Saunders, Wertpapiere saß. Der Professor meinte es sicherlich nicht böse. Er war ein kultivierter Mann, gewandt, nicht überheblich. Er bemerkte lediglich, dass die Insel von geologischem Interesse sei, weil ihre beiden Enden verschiedenen Perioden der Erdgeschichte angehörten und das Eis beide zusammengefügt habe.

»Und wie alt wäre unser Ende der Insel so ungefähr, Professor?« Grenfell hatte eigentlich nur höfliches Interesse zum Ausdruck bringen wollen, aber er verriet sich, indem er seine einzige Verteidigung aufgab – Gleichgültigkeit.

»Wir bestimmen es auf einhundertsechsunddreißig Millionen Jahre«, bekam er zur Antwort.

»Tatsächlich? Das ist eine recht genaue Zahl, nicht wahr? Ich bin eine Niete, was die Wissenschaft angeht. Habe zu arbeiten angefangen, als ich dreizehn war – Bildung besitze ich keine. Natürlich bilden sich auch einige Geschäftsleute in den Wissenschaften weiter. Aber ich muss mich mit einer Menge Berichten und Zahlen herumschlagen. Wenn ich etwas lese, habe ich es gern menschlich – die alte Garde: Scott, Dickens, Fielding. Die bedeuten mir richtig was.«

Der Professor hatte sehr gute Manieren, aber dem Reiz vorgeblicher Unkenntnis konnte er nicht widerstehen. Innerhalb einer halben Stunde hatte er gespürt, dass dieser Mann die Insel liebte. (Seine Tochter hatte es schon ein Jahr zuvor gespürt, sobald sie mit ihrem Vater angekommen war. Etwas an dem Sommerhäuschen, dem kleinen Rasenfleckchen davor und der Wildrosenhecke, die es umgab, hatte es ihr verraten.) In ihrem Gespräch hatte Professor Fairweather erkannt, dass dieser Mann ein außergewöhnliches Gespür für die Insel hatte, und deshalb würde er sicher gern mehr darüber wissen wollen – alles, was er ihm erzählen konnte!

Die Sonne schob sich aus dem Meer heraus – der Planet verschwand. Grenfell entschied sich gegen die Augentropfen. Warum sich zusammenflicken? Was war der Sinn … von irgendetwas? Warum einen Menschen von seinem kleinen Fels fortreißen und ihn in die Unendlichkeiten hinausschleudern? Das war alles ganz unmenschlich. Jeder Mensch hatte seine kleine Stunde, mit Hitze und Kälte und einem Gespür für die Zeit, die seiner Lebensdauer angemessen war. Wenn man ihm das nahm, verlor er die Haltung, war nur noch ein Produkt des Zufalls, ohne jegliche Bindung. Er selbst saß da, wie ihm auffiel, in seinem Morgenmantel neben seinem Waschtisch, erschlafft! Kein Wunder, was für eine Nacht! Was für eine fürchterliche Nacht! Die Geschwindigkeiten, die die Maschinisten in den letzten fünfzig Jahren entwickelt hatten, waren nichts gegen die Distanzen, die ein Menschen zwischen Dämmerung und Morgengrauen im Kopf zurücklegen konnte. In den vergangenen zehn Stunden war der arme Grenfell über Meere und durch Kontinente gereist, durch Kindheit und Jugend, hatte ein Geschäft aufgebaut, sehr viel Geld verdient und eine anspruchsvolle Familie aufgezogen. (Es gab drei Söhne, denen er alles ermöglicht hatte und die gut geraten waren, zwei von ihnen sogar außergewöhnlich gut.) Und all das bedeutete ihm gar nichts, hatte nur von ihm genommen – »Ärgres zu verhüten«, zitierte er Milton für sich.

Die vergangene Nacht war eine der Art gewesen, die alles offenbarte, allem einen neuen Sinn verlieh, in der alles plötzlich ganz klar schien … nur um am Morgen wieder zu verblassen. In einem niedrigen Häuschen auf einem hohen roten Fels über dem Meer brach plötzlich machtvoll hervor, was bisher in ihm verschlossen war, unter Schloss und Riegel, und verteilte sich in die Weite der Nacht, unverhüllt und ohne Scham.

***

Als sein Vater starb, hatte Henry Arbeit als Botenjunge bei der Western Union gefunden. Er erinnerte sich jener Jahre stets mit einem gewissen Stolz. Seine Mutter verdiente mit Näharbeiten dazu. Zwei kleine Mädchen waren da, jünger als er. Wenn er an diese Zeit zurückdachte, gab es daran nichts, wofür er sich hätte schämen müssen. Das sind, wie er den Reformisten oft vorhielt, die Jahre, die den Charakter prägen, Fähigkeiten herausbilden. Ein Geschäftsmann sollte früh praktische Erfahrungen sammeln, wie ein Pianist, am Instrument. Das Gefühl, Verantwortung zu tragen, macht aus einem kleinen Jungen einen Bürger: Für ihn gibt es keine »gefährlichen Jahre«. Schon in seinem ersten Winter in der Telegrafen-Kompanie war ihm klar geworden, dass er es zu etwas bringen konnte, wenn er sich anstrengte, was eben die meisten Jungen nicht taten. Er studierte abends Rechtswissenschaften, und mit zwanzig war er in einer Vertrauensposition bei einer der angesehensten Anwaltskanzleien in Colorado angestellt.

Alles ging gut, bis er seinen ersten längeren Urlaub nahm – eine Fahrradtour in den Bergen oberhalb von Colorado Springs. Eines Morgens, als er einen Abhang hinaufstrampelte, rollte ihm in einer Kurve ein anderes Fahrrad entgegen, auf dem ein Mädchen saß. Beide flogen von den Rädern. Ihr Fuß verfing sich in den Speichen – eine Verstauchung und ein paar Schnittwunden. Henry rannte zwei Meilen den Berg hinunter zu dem Hotel und ihrer Familie. Es waren New Yorker; der Name ihres Vaters war Legende in Henrys naiver kleiner Welt des Westens. Und sie mochten ihn, Henry, diese kultivierten, gescheiten, welterfahrenen Leute! Die Mutter hatte das Sagen – eine beeindruckende Frau. Was sie sich vornahm, setzte sie mit unnachgiebiger Bestimmtheit durch. Er musste es wissen, denn ein Jahr nachdem sie in ihn hineingefahren war, heiratete er die einzige Tochter. Jenes erste Zusammentreffen hätte ihm eine Warnung sein sollen. Seine eigene trunkene Eitelkeit besiegelte sein Schicksal. Es hatte vorher nie jemand viel Aufhebens um ihn gemacht.

Die Ehe war so gut wie die meisten anderen, dachte er. Besser als viele. Das gescheite junge Mädchen hatte ihm keine Schande gemacht, ganz bestimmt nicht. Sie hatte ihm zwei bemerkenswerte Söhne geboren, jeder Mann könnte stolz auf die beiden sein …

An dieser Stelle hatte sich Grenfell im Bett herumgeworfen und sich dann plötzlich aufgesetzt, laut vor sich hin brummelnd. »Lieber Gott, sie sind kalt wie Eis! Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Sie haben nie gelebt, diese beiden. Sie sind nie einem Ball nachgejagt – sie sind so blitzgescheit, dass sie es niemals mussten. Sie greifen einfach zu und nehmen sich den Ball. Ja, sie haben vornehme Hände wie ihre Großmutter, schmal … weiß … mit gepflegten Nägeln. Wie Harrison das Buch angefasst hat! Was bin ich froh, dass meine Pfoten rot und wurstig sind.«

Einen Moment lang durchfuhr ihn der Gedanke an einen kleinen Vorfall. Drei Tage zuvor hatte er für seine Flucht auf die Insel gepackt. Harrison, der älteste Sohn, der Physiker, hatte angeklopft und war nach dem »Herein!« seines Vaters eingetreten. Er war gekommen, um zu fragen, wer sich um die persönliche Post kümmern solle (die an die Privatadresse geschickt wurde), falls Miss O’Doyle ihren Urlaub antrat, bevor der Vater zurückkam. Er stellte die Frage in einem ziemlich barschen Ton. Obwohl Grenfell wie ein Dampfbagger arbeitete, wenn er in der Stadt war, schien es ihm die Familie zu verübeln, dass er ihnen nicht erzählte, wohin er fuhr und wie lange er fortbleiben würde, wenn er Ferien machte.

»Oh, das wollte ich dir noch sagen, Harrison, bevor ich fahre. Aber es ist nett von dir, dass du daran gedacht hast. Miss O’Doyle hat sich entschieden, ihren Urlaub bis Mitte Oktober zu verschieben, und dann wird sie einen längeren nehmen.« Er war überzeugt, in einem freundlichen Tonfall gesprochen zu haben, während er seinen Sohn ansah. Er war immer stolz auf Harrisons gutes Aussehen, sein sicheres Auftreten, seine leichte Distanz. Die kleine Reisetasche (nach seinen Vorgaben maßgefertigt), die er auf Reisen stets selbst trug und nie in die Hände eines Kofferträgers gab, stand offen auf seinem Schreibtisch. Auf seinem Schlafanzug und dem Rasierzeug lagen zwei kleine, in rotes Leder gebundene Bücher. Harrison griff nach einem und besah sich den Schriftzug auf dem Buchrücken. König Heinrich IV., Teil 1.

»Etwas leichte Lektüre?«, sagte er. Seine Frechheit versetzte Grenfell einen Stich. Er hasste jede Einmischung ins Private, Persönliche abseits des Familienlebens.

»Leicht oder schwer«, sagte er trocken, »die Bücher leisten mir gute Gesellschaft. Und sie sind sehr menschlich.«

»Ja, diesen Ruf haben sie«, gab sein Sohn zu.

Grenfells Auge blitzte. War der Kerl sarkastisch oder einfach nur überheblich?

»Zum Teufel mit ihrem Ruf!«, brach es aus ihm heraus. »Ich schleppe keine Bücher zusammen mit meiner Zahnbürste und meinem Rasiermesser herum, nur weil sie einen Ruf haben.«

»Nein, das würde ich dir auch nicht nachsagen.« Der junge Mann sprach ruhig, ohne Wärme, aber so, als meinte er genau das, was er sagte. Er zögerte und verließ das Zimmer.

Jetzt, als er in den frühen Morgenstunden aufrecht im Bett saß, fragte sich Grenfell, ob er nicht zu rasch die Beherrschung verloren hatte. Vielleicht hatte der Bursche gar nicht sarkastisch sein wollen. Trotzdem, er hatte nicht das Recht, irgendetwas in der Tasche seines Vaters anzufassen. Die Tasche war wie seine Jackentasche. Grenfell behelligte seine Familie nie mit seinen persönlichen Zerstreuungen, und er mischte sich auch nie in ihre ein. Harrison und seine Mutter waren ein perfektes Gespann – ihr eigenes Familienunternehmen! Grenfell respektierte das vollkommen. Er fragte nicht, er verlangte keine Erklärungen. Die Rechnungen trafen ein; Miss O’Doyle stellte die Schecks aus, und er unterschrieb. Er war weder neugierig noch kleinlich genug, sie durchzusehen.

Natürlich gab es manchmal Momente, in denen er sich ein ganz kleines bisschen gegen das Familienunternehmen wehrte, das musste er zugeben. Es passierte meistens dann, wenn er wegen seiner Verdauungsstörungen den ganzen Tag über sehr leicht hatte essen müssen und es ausgerechnet an diesem Abend zu Hause eine schwere Mahlzeit gab, so dass er sich mit Vollkornkeksen und Milch begnügen musste. Er erinnerte sich an einen solchen kleinen Vorfall im vergangenen Monat. Harrison und seine Mutter waren in Abendkleidung zum Essen heruntergekommen. Nachdem die Suppe aufgetragen worden war, überlegte Harrison laut, ob Kussewizki wohl den langsamen Satz in Brahms’ Zweiter genauso dirigieren würde wie im vergangenen Winter. Seine Mutter meinte, sie erinnere sich noch gut an Mucks Interpretation, die sie bevorzuge.

Das sogenannte Oberhaupt der Familie meldete sich zu Wort. »Mir scheint, dass die Sinfoniker heute Abend ein Konzert geben und meine Familie anwesend sein wird. Habt ihr den Wagen bestellt? Ich jedenfalls werde mir John McCormack anhören, wie er Kathleen Mavourneen singt.«

Seine Frau rettete ihn, wie sie es oft tat (auf eine unschuldige, wohlerzogene Art), indem sie seine Grobheit einfach ignorierte. »Wirklich! Ich habe McCormack nicht mehr gehört, seit er damals in Italien zuerst auf der Bühne stand, vor vielen, vielen Jahren. Er hatte großartigen Erfolg. Damals sang er Mozart.«

Es stimmte. Wenn er schlecht gelaunt war und die häusliche Konstellation ihn zur Weißglut trieb, war es oft Margaret, die mit ihrer makellosen Höflichkeit die Situation rettete.

Jetzt, wo er in dieser tiefen, dunklen Stille alles überdachte, musste er zugeben, dass sein Leben nicht am Fels der Familie zerschellt war. Es war die bittere Wahrheit, dass sein ärgster Feind ihm noch näher war als seine innig geliebte Frau – es war sein eigenes Inneres!

Grenfell hatte, was man einen Reizmagen nennt. Wenn er in seinem New Yorker Büro war, arbeitete er wie ein Verrückter; und um das tun zu können, musste er eine Diät einhalten, die noch den hagersten Asketen zur Verzweiflung gebracht hätte. Die Ärzte sagten, er übernehme sich in allem. Das war ihm klar – er hatte sich immer übernommen, seit dem ersten Tag bei der Western Union. Mutter und zwei kleine Schwestern, keine Schulbildung – sein ganzes Kapital bestand in seinem Mumm, alles zu geben und hart zu arbeiten. Offenbar war es nicht nur das Hirn, das Ziele hatte und Erfolge. Die Rechnung jedenfalls zahlte ein ganz anderer Teil seines Körpers. Vielleicht wurde er gerade jetzt zurückgeworfen in dieses erste Jahr, als er in der Magengrube ein nie endendes, niemals zu befriedigendes Ziehen verspürt hatte.

Die Erniedrigung, »empfindlich« zu sein, war schlimmer als die Beschwerden selbst. Er hatte einen Weg gefunden, das vor sich wettzumachen, sich als ganzer Mann zu fühlen, nicht als elender Magenkranker: Er lebte ein raues Leben, kein weiches. Es gab kein Revier in Nordamerika, das er nicht bejagt hatte; Bergschafe in der Wildnis der Rocky Mountains, Elche im dunkelsten Kanada, Karibus in Neufundland. Schon lange bevor er es sich wirklich leisten konnte, hatte er jedes Jahr vier Monate reserviert, um schießen zu gehen. Sein größter Erfolg war ein Eisbär in Labrador gewesen. Sein Führer dort, die Träger und die Männer, die die Kanus ruderten, hätten nie geahnt, dass er ein gebrechlicher Mann war. Da draußen, im Norden, war er es nicht! Da draußen war er nur ein »Stadtmensch«, der gut bezahlte; ein bisschen merkwürdig, aber kein übler Schütze. Das war es, was ihm seine harte Arbeit und eine Portion Glück beschert hatten. Er war großartig vorangekommen … aber irgendwie auf dem falschen Weg.

***

An diesem Punkt seiner Selbstanalyse waren Grenfells Knie kalt geworden. Er war aufgestanden, hatte seinen Kleiderschrank geöffnet und dort den daunengefütterten Morgenmantel vorgefunden, den er zwei Jahre zuvor zurückgelassen hatte. Das stimmte ihn zufrieden. (Er war gern ordentlich, und das Sommerhaus schien umso mehr sein eigener Besitz, wenn er Jahr um Jahr Dinge genauso vorfand, wie er sie hinterlassen hatte.) Jetzt, wo ihm warm war, ließ er die dunklen Fensterläden hochrattern, die er am vergangenen Abend heruntergezogen hatte, um den verstörenden Anblick der Sterne zu verbergen. Er dachte an seine Augentropfen, legte den Kopf zurück, und da war der Planet, der auf ihn heruntersah, ruhig, ungeheuerlich und prächtig … von unsterblicher Schönheit … ja, aber nur, wenn auch jemand den Planeten sah, gab er grimmig zurück!

Er dachte darüber nach, bis ihm schwindlig wurde. Er musste aus diesem Zimmer heraus, und zwar schnell. Er begann sich anzuziehen – Wollsocken, Mokassins, Flanellhemd, Lederjacke. Er musste nach draußen und seine Insel wiederfinden. Schließlich gab es sie immer noch. Soweit er sehen konnte, hatte der Professor sie nicht in seiner Tasche verschwinden lassen. Er kritzelte eine Notiz für William, seinen Freitag: Frühstück, wenn ich zurück bin, und spießte den Zettel auf einen Haken in der Durchgangsküche. William war im Haus einer örtlichen Fischerfamilie untergebracht. (Grenfell duldete niemanden bei sich im Sommerhaus. Er wollte die ganze herrliche Einsamkeit für sich allein haben. Er hatte teuer genug dafür bezahlt.)

Er lief aus der Küchentür und den begrasten Hang zum Wäldchen hinauf. Die Fichten standen genauso hoch und still in der Morgenluft wie eh und je; dieselben blendenden Speere von Sonnenlicht durchschossen noch immer ihr Dunkel. Der Pfad darunter war feucht und von jener magischen Sanftheit, an die sich seine Füße erinnerten. Zu beiden Seiten des Weges schoben sich gelbe und weiße Pilze durch den dichten Belag aus braunen Tannennadeln und bildeten feuchte kleine Zelte. Alles im Wald war still. Kein Windhauch regte sich; tiefer Schatten und neugeborenes Licht, gelbgolden, ein bisschen schwankend, wie neugeborene Dinge es sind. Es flackerte auch, als wäre seine eigene Spiegelung in den Tautropfen zu hell. Oder vielleicht hatte das Licht nur geschlafen unter dem Meer und erwachte gerade erst.

»Hallo, Großvater!«, rief Grenfell, als er an eine Biegung des Pfades kam. Der Großvater war eine riesige Fichte, die vom Blitz getroffen worden war (es musste vor ungefähr hundert Jahren passiert sein, sagten die Insulaner). Der Baum lag noch immer schräg an einem steilen Abhang, die flachen Wurzeln in die Luft gereckt, die riesigen Äste grauweiß gebleicht wie das Skelett eines Tiers, das lange der Witterung ausgesetzt war. Grenfell streckte im Vorbeigehen eine Hand aus, um einen Zweig abzubrechen, doch der Zweig schnappte wie eine Metallfeder zurück. Er hielt inne, erstaunt darüber, dass seine Hand tatsächlich schmerzte.

»Also, Großvater! Du hältst dich sehr wacker, das muss ich sagen. Kompliment! Das Wasser an deinem Abhang hier läuft gut ab, nicht wahr?«

Nach weiteren zehn Minuten auf dem ansteigenden Schlängelpfad erreichte er den Rand des Gehölzes und trat auf eine kahle Landspitze hinaus, unter der sich aus dem Meer eine zweihundert Fuß hohe Klippe erhob. Er setzte sich auf einen Stein und grinste. Wie der Pilger Christ seinerzeit, dachte er, hatte er seine Last am Fuß des Berges zurückgelassen. Warum eigentlich hatte er sich von den völlig unwichtigen Informationen des Doktor Fairweather die Nachtruhe verderben lassen? Er hatte immer gewusst, dass die Insel schon lange existiert hatte, bevor er sie entdeckte, und dass sie irgendwann einmal ein nackter Fels gewesen war. Das Erdreich war sehr dünn. Fast überall auf den Abhängen konnte man mit einem Spaten durch den Torfboden stechen und ihn zurückrollen, so wie man einen Teppich vom Boden aufrollt. Man wusste zugleich, dass der Fels selbst sehr alt sein musste, weil er auf dem Grund des Ozeans ruhte.

Aber das hatte nichts mit der grünen Oberfläche zu tun, auf der Menschen lebten und Bäume und blaue Iris und Butterblumen und Margeriten und Mädesüß und Spiersträucher und Goldruten in jeder Lichtung üppig durcheinanderwuchsen. Grenfell raffte sich auf und schritt auf dem Küstenpfad aus. Auf Trittsteinen überquerte er den ersten Bach. Es musste kürzlich geregnet haben, denn das Wasser schoss geräuschvoll durch die tief ausgewaschene Rinne, bis es sich über den Rand der Klippe ins Meer stürzte: ein nicht endender weißer Wasserfall.

Der Pfad führte durch ein langes Erlendickicht … dann durch ein träges, von Wurzeln durchzogenes braunes Moor … und dann auf eine weitere luftige, grasbewachsene Landspitze, die, wie ein Hufeisen gebogen, weit hinausragte. Man konnte neben einem struppigen Vogelbeerbaum stehen und vier Wasserfälle sehen, die sich silbrig weiß über die senkrechten Felswände ergossen.

Nichts hatte sich verändert. Alles war wie immer, und er, Henry Grenfell, war auch derselbe: sein Bezug zu dieser Landschaft war derselbe. Nicht ein Baum war umgeweht, die verkrüppelten Buchen (ihm teuer, weil es so wenige gab) trotzten noch immer dem ihnen so übel gesinnten Wetter. Die alten weißen Birken am Rand des Kliffs waren so lange von den östlichen und nördlichen Winden gepeitscht und gequält worden, dass sie mehr nach unten als nach oben wuchsen und sich an die Erde lehnten, die ihnen freundlicher entgegenkam als die stürmische Luft. Sie wuchsen alle zu einer Seite, von der See fort, und ihre dem Land zugeneigten Äste zogen sich über den Boden hin und krochen durch das Unterholz den Hang hinauf, beharrlich, fast kahl, wie große Rankengewächse, bis sie schließlich, wenn sie das Sonnenlicht erreichten, in zartem Grün ausschlugen.

Diese grasbewachsene Felskuppe mit dem buschigen Vogelbeerbaum war in etwa sein Ziel gewesen, als er das Sommerhaus verlassen hatte. Von diesem Ellenbogen aus konnte er auf die Felswände zurückblicken, sowohl nach Norden wie nach Süden, und die vier silbrigen Wasserfälle im Morgenlicht sehen. Ein großartiger Anblick, dachte Grenfell, und nur für ihn bestimmt. Nicht einmal eine Möwe – sie waren kreischend die Küste hinabgeflogen, den Heringswehren entgegen, als er aus dem Sommerhaus getreten war. Keine lebende Seele, aber – Moment mal; etwas bewegte sich dort unten auf dem Kies, am Rand des Wassers. Eine menschliche Gestalt in einem langen hellen Bademantel – und mit einer Badekappe aus Gummi! Also musste es eine Frau sein? Seltsam. Keine Inselbewohnerin würde zu dieser Tageszeit baden gehen, nicht einmal in den warmen Tümpeln des Inlands. Ja, es war eine Frau! Ein Mädchen, und er wusste auch, welches Mädchen! In den Qualen der Nacht hatte er sie vergessen. Die Tochter des Geologen.

Wie war sie nur dort hinuntergekommen, ohne sich das Genick zu brechen? Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg über den unebenen Kieselstrand; plötzlich blieb sie stehen und schien zu überlegen, schien hinauszusehen auf einen alten, schmalen Felsgrat, der im Hochwasser fast verschwand. Sie öffnete den Bademantel, ein graues, weiß gefüttertes Ding. Ihr Badeanzug war rosa. Wenn eine Muschel aufrecht stünde und anmutig ihre Schale öffnete, würde sie so aussehen. Einen Moment später schloss sich die Schale wieder – wahrscheinlich spürte sie die Kühle der Morgenluft. Menschen sind wirklich nur sie selbst, wenn sie sich vollkommen allein und unbeobachtet glauben, dachte er. Mit einer raschen Bewegung warf sie den Bademantel von sich, schüttelte die Sandalen ab und warf sich ins Wasser.

Im selben Moment streifte Grenfell seine Mokassins ab. »So ein verrücktes Gör! Was macht sie denn da? Das hier ist der Nordatlantik, Mädchen, den kannst du doch nicht so behandeln!« Während er vor sich hin schimpfte, zog er seine mit Fuchspelz gefütterte Jacke aus und lockerte die Hosenträger. Wie genau er auf den Kieselstrand hinunterkommen sollte, wusste er nicht, aber er musste es irgendwie schaffen. Er machte sich bereit, während sie sich, jedenfalls bislang, gut hielt. Nichts ist peinlicher, als jemanden zu retten, der nicht gerettet werden will. Das Wasser war abgelaufen, es herrschte Flaute – sie kannte sich mit den Gezeiten offenbar aus.

Sie erreichte den Fels, legte die Arme darauf und ruhte sich einen Moment aus. Dann machte sie sich mit kräftigen Bewegungen auf den Rückweg. Die Strecke war nicht lang, aber – du liebe Güte!, die Kälte – so früh am Morgen! Als er sah, wie sie pudelnass aus dem Wasser stieg und ihre Schale überzog, arbeitete er sich zurück in seine Pelzjacke und seine Mokassins. Er schimpfte weiter. »Dummes Geschöpf! Warum konnte sie nicht bis zum Nachmittag warten, wenn die Eiseskälte aus dem Wasser heraus ist?«

In Gedanken schimpfte er mit ihr den ganzen Heimweg über, aber er meinte auch zu wissen, was sie fühlte. Vielleicht war sie im vergangenen Sommer um diese Zeit immer schwimmen gegangen und hatte vergessen, wie kalt das Wasser war. Als sie ihren Bademantel geöffnet hatte, hatte die kalte Luft sie vielleicht ein bisschen durcheinandergebracht. Niemand sah sie, sie musste keine Haltung bewahren – außer vor sich selbst. Das allerdings musste sie tun, ohne Wenn und Aber. Sie hatte nicht klein beigegeben. Sie war hinausgeschwommen, und sie war zurückgekommen. Vor ihr lag ein erfüllter Tag. Er wusste genau, was sie fühlte. Sie hatte tatsächlich wie eine kleine rosa Muschel ausgesehen in ihrer hellen Schale!

Er lief rasch die gewundenen Pfade hinab. Seit er das Sommerhaus verlassen hatte, war alles so beruhigend gewesen, so entzückend – alles war noch dasselbe, und auch er war noch derselbe! Die Luft, der Duft der Fichten – irgendetwas hatte seinen Appetit geweckt. Er war hungrig. Er winkte dem Großvater-Baum zu, als er an ihm vorbeikam, aber er blieb nicht stehen. Kühne Jugend ist erfrischender als geduldiges Alter. Er überschritt die scharfe Grenze zwischen den tiefen Schatten und dem sonnigen Abhang hinter seinem Häuschen und sah Rauch aus dem Schornstein steigen. Die Tür zur Durchgangsküche stand offen, und der Duft von Kaffee löschte den Duft von Fichten und See aus. William hatte nicht gewartet; er frühstückte klugerweise schon.

Grenfell schmunzelte in sich hinein, während er den Abhang herunterkam: »Und, jedenfalls, als dieser allererste amphibische Krötenfrosch bemerkte, dass sein Tümpel hinter ihm ausgetrocknet war und er heraussprang und loshopste, um einen anderen zu finden – nun, daraus wurde eine lange Hopserei.«  ~