Der Tunnelbau geht prächtig voran.
Der Exhaustor erweist sich auch als für kleine Scherze verwendbar. So kann man durch seine Polyäthylenschläuche, je nachdem, wer gerade unten buddelt, alten Hartsäufern den Geruch von Kümmel, Korn oder Kognak um die Nase wehen lassen, Kettenrauchern Zigarettenqualm, einem besonders tüchtigen und wohlgelittenen stud.rer.pol., der leider anders herum ist, den Duft von Chanel Nr. 5 und – Ferkel, elende! – natürlich auch Gerüche völlig anderer Art.
Mit Theodoliten und Schlauchwaage hat das Ehepaar Mittenzwey, unterstützt von zukünftigen Hoch- und Tiefbauingenieuren, den Verlauf des Tunnels und seine Länge genau berechnet und vorgezeichnet. Alles ist okay, bis man nach 130 Meter Stollenlänge Ende Juli mit einem schweren Werkzeug plötzlich auf eine dicke Röhre stößt – das Abflußrohr des Hauses Mottlstraße 35!
Ein paar Minuten lang bringt keiner auch nur ein einziges Wort hervor. Alle haben den Krach gehört, die im Keller, die im Stollen. Man muß ihn auch auf der Straße gehört haben! Es ist halb zwei Uhr morgens. Und wenn in dem leeren Haus gerade Vopos patrouillieren … und wenn das Abflußrohr jetzt platzt … Dann sind die, die ganz vorn arbeiten, nicht zu retten. Dann ist der Tunnel in Sekunden überschwemmt.
Das Rohr platzt nicht. Und niemand scheint etwas gehört zu haben. Unfaßbares Glück! Nur eine riesige Muffe hat ihren Teil abgekriegt, das Rohr ist heil geblieben.
In ihrer Seligkeit werden die Fluchthelfer richtig albern. Sie schmieren mit schwarzer Farbe auf einem großen Stück Pappe herum und befestigen diese an einer Tunnelwand, just dort, wo sie die Grenze passiert. Auf der Pappe steht:
Achtung! Sie verlassen jetzt den
demokratischen Sektor!
Die nächste Aufregung bringt dann der Durchbruch drüben im Hinterhof. Mittenzwey und sechs Mann stehen bereit, alle bewaffnet. Als erster, wie immer, klettert der Boß ins Freie. Das passiert am Donnerstag, dem 13. August 1964, um 21 Uhr 24. Eine warme, schöne Sommernacht ist das. Zentimeter um Zentimeter schiebt der Boß sich aus dem Loch, die Kumpel halten ihn an den Beinen fest. Mittenzwey muß an den einarmigen Lamprecht denken, und er schwitzt, sein Herz klopft wie verrückt, er hat Angst. Natürlich hat er Angst. Wenn da Vopos oder SSD-Agenten in einem Versteck warten und ihn überfallen, sobald er draußen ist …
Wenigstens umnieten wird er noch ein paar, bevor sie ihn umnieten! Ja, wird er?
Lamprecht hatte auch eine Pistole.
Er nietete niemanden um. Sie müssen es sehr geschickt machen, die Brüder, wenn sie es machen.
In hellem Mondschein liegt der Hof, verlassen und leer. Das bedeutet noch nichts. Da gibt es Abfalleimer, Gerümpel, Kellerluken – überall können die warten. Pistole in der einen, Taschenlampe in der anderen Hand, so bewegt Mittenzwey sich auf Strümpfen, geräuschlos und geduckt, über den Hof. Sucht ihn ab. Leuchtet in alle Winkel, alle Luken. Nichts.
»Kommt raus!« flüstert er, nachdem er zum Loch zurückgeeilt ist. Nun sind sie sieben. Das sieht schon besser aus. Sieben können sich ganz anders wehren als einer, falls ein Überfall im Inneren des Hauses erfolgt, das sie nun natürlich auch durchsuchen müssen. Alle auf Strümpfen, alle mit Taschenlampen und Pistolen, so schleichen sie durch die Stockwerke, drei Mann zusammen, zwei Mann zusammen, noch einmal zwei Mann.
Die Wohnungstüren stehen offen. Sämtliche Zimmer müssen betreten werden, die Klos, die Badezimmer, der Dachboden, die Kellerräume.
Nichts.
Kein Mensch.
Das Haus ist leer, absolut leer. Und das Haustor ist verschlossen. Einer der Dietriche, die sie mitgebracht haben, paßt. Von fern hört man Geschrei, Gesang und Sirenen. Der große Wirbel entlang der Mauer ist in vollem Gang. Wunderbar! Mindestens einundsiebzig Flüchtlinge sollen in der nächsten Stunde hier eintreffen. So viele stehen auf der Liste, die der kleine Herr Fanzelau Mittenzwey gegeben hat und die drüben, im Westen, liegt. Siebzehn davon sind Menschen, welche auf Wunsch der Tunnelbauer verständigt wurden, die anderen vierundfünfzig sind ›Fanzelau-Leute‹, die keiner kennt. Es können natürlich viel mehr kommen. Hoffentlich!
Jetzt muß Mittenzwey zurück, hinauf auf den Dachboden der Hasenauerstraße 67. Vier Mann bleiben im Hof. Zwei als Wachen beim Tor, zwei beim Tunneleinstieg. Sie sollen den Flüchtlingen helfen.
Es ist 21 Uhr 59, als der Boß im Einstieg verschwindet, um in den Westen zu eilen.