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Nun erweist es sich als äußerst günstig, daß Mitzi kaum etwas im Magen hat. Die Chirurgen vom Bethanien-Krankenhaus, in das man die Besinnungslose bringt, sind erleichtert. Trotzdem dauert die Operation zweieinhalb Stunden. Die Schüsse im Oberschenkel sind nicht so arg. Arg ist der Schuß, der den Rücken traf. Eine Rippe lenkte die Kugel ab – knapp über dem Herzen. Schußbruch der Rippe. Innere Blutungen. Es wird eine komplizierte Operation.

Alles, was im Krankenhaus zunächst geschieht, weiß die Mitzi natürlich nicht. Sie ist bewußtlos bis zum frühen Morgen.

Die Ärzte wissen nicht, wen sie operiert haben. Mitzi hat alle Ausweise fortgeworfen. Doch die Nacht hindurch deliriert sie, und dabei spricht sie.

»Bruno … Bruno … i hab flüchtn müssn … aber Sie können doch nix dafür, Herr Doktor … wann man Ihnen sonst die Viecherln nehmen möchte … Sie haben meinen Namen sagen müssen … Bruno … Jessasmaria … Bruno … sei da … sonst bin i ganz allein …«

Am Sonntagvormittag sagt sie dann, wie sie heißt. Ärzten sagt sie das und auch einem Westberliner Polizisten, der neben ihrem Bett aufgetaucht ist.

Mit großen Schmerzen im Rücken berichtet Mitzi, warum sie flüchten mußte. Als sie von Bruno Knolle erzählt, horchen die Männer auf. Sie haben in den Frühnachrichten etwas über einen Bruno Knolle gehört, der geholfen hat, eine sensationelle Entführung zu verhindern.

Mitzi bemerkt, daß der Name ihres Geliebten den Ärzten bekannt ist. Das versetzt sie in Panik. Wieso bekannt? Ist ihm etwas zugestoßen? Ist er tot?

»Bitte, sagens mir die Wahrheit! Der Herr Knolle is in Westberlin … I weiß es, Sie wissens auch … Is ihm was geschehn?«

»Nein, Fräulein Szapek.«

»Warum machens dann solche G’sichter? Was is los?«

»Sie dürfen sich nicht aufregen, Fräulein Szapek.«

»I reg mi noch viel mehr auf, wenn Sie nix sagen!« Kaum hat Mitzi das gerufen, da muß sie sich auch schon erbrechen.

Die Ärzte erschrecken. Brechen darf die Mitzi jetzt auf keinen Fall. Gut, man wird also Bruno Knolle suchen.

»Ja?«

»Ja. Und Sie dürfen mit ihm sprechen. Aber nur ganz kurz. Versprechen Sie uns das?«

»Ehrenwort! Nur sehn möcht ich ihn … Bitte, holen Sie ihn …«

»Tja, holen … Wissen Sie vielleicht, wo wir ihn finden können?«

Nein, das weiß die Mitzi natürlich nicht.

Gewiß könnte man es herausbekommen – aber wie lange würde das dauern? Mitzi regt sich schon wieder auf. Da hat der Polizist einen Einfall: »Sie sagen, es wäre auch ein Junge geflüchtet mit Herrn Knolle, Fräulein Szapek?«

»Ja, der Jürgen Machon …«

»Wo immer Herr Knolle jetzt steckt«, meint der Polizist, »den Jungen finden wir sicherlich in Marienfelde. Der muß noch im Lager sein.«

Mitzi bekommt zu wenig Luft: »Darf … darf der Herr Inspektor ins Lager fahren, Herr Professor? I … i … wenn …«

»Ruhig! Sie müssen völlig ruhig liegen, Fräulein Szapek.«

»’tschuldigens, bitte. Darf der Herr Inspektor ins Lager fahren und den Jürgen holen? Der Jürgen weiß vielleicht, wo der Bruno is … Oder er kann ihn suchen … Der tut alles für mich, der Bub … Bittschön, Herr Professor!«

»Nun gut«, sagt der alte gütige Herr mit dem von Spondylosis gekrümmten Rücken, der die Chirurgische Abteilung des Krankenhauses leitet. »Würden Sie nach Marienfelde fahren, Herr Wachtmeister? Es ist wohl am besten …«

So kommt Wachtmeister Scherr also in das Vernehmungszimmer der Amerikaner im Lager Marienfelde und berichtet dem jungen CIC-Agenten Jack Campbell, was geschehen ist. Gleich darauf rasen Scherr, Campbell und Jürgen durch die sonntäglich leere Stadt zum Bethanien-Krankenhaus, das unmittelbar an der Mauer liegt. Campbell holt aus einem offenen Chevrolet heraus, was der zu bieten hat, und das ist eine Menge. Jürgen, neben Campbell, hält Happy, die Schildkröte, in einer Tragtasche auf den Knien. Er ist aufgeregt und bemüht sich, das zu verbergen. Mit fünfzehn Jahren muß man sich beherrschen können.

Jack Campbell hat Mr. A. C. Snowden vor der Abfahrt von dem Vorgefallenen unterrichtet.

»Okay, Jack«, sagte Snowden, »brausen Sie los mit dem Jungen. Ab sofort kümmern Sie sich um diese Sache – als mein persönlicher Investigator. Ich schicke jemanden anderen nach Marienfelde. Glauben Sie mir jetzt endlich, daß hinter dieser Entführung mehr, viel mehr steckt, als es den Anschein hat?«

»Yes, Sir«, antwortet Campbell.

Nun steht er, mit Wachtmeister Scherr, zwei Ärzten und dem alten Professor, an Mitzi Szapeks Bett, und auf einem Stuhl vor dem Bett sitzt Jürgen Machon, die Tasche mit Happy immer noch auf den Knien …

Ganz klein und weiß ist Mitzis hübsches Gesicht, aber erfüllt von lauter Erleichterung.

»Jessas, was bin i froh, Jürgen! Hast es also gschafft herüber!«

»Ja. Happy auch.«

»Ah ja, die Happy … Du, Jürgen, ich hab eine Bitte … möchtest du … könntest du den Herrn Bruno Knolle suchen?«

»Wen?«

»Den Herrn, der dir herübergeholfen hat.«

»Ach, den!«

»Ja … und ihm sagen, er soll gleich zu mir kommen … Die Herren Doktoren hams erlaubt … der Herr Professor auch …«

»Ja, Fräulein, gerne, natürlich. Ich weiß nur nicht …« Hilflos sieht der Junge zu den Erwachsenen auf.

Sofort wird Mitzi wieder unruhig: »Is ihm doch was passiert? Jürgen! Meine Herren!«

»Aber, aber, aber.« Jack Campbell tritt vor und lächelt breit.

»Nicht das geringste ist Herrn Knolle passiert. Und ich verspreche, daß Jürgen ihn zu Ihnen bringt.«

»Wissen Sie denn, wo er is?«

»Ich glaube, ich weiß es.«

»Sie san a Ami, gelt?«

»Ja, Fräulein Szapek.«

»A Ami«, murmelt die Mitzi, während sie eine große Schwäche gleich einer riesigen Woge über sich hinfluten fühlt, »a Ami … a freundlicher Mensch … In Wean, da warens auch alle freundlich, immer, die Amis …«

Sie lächelt glücklich. Ihr Kopf sinkt zur Seite.

Sie hat wieder einmal die Besinnung verloren.

Das Lächeln bleibt auf ihrem Gesicht.

»All right«, sagt Jack Campbell und legt eine Hand auf Jürgens Schulter, »let’s go, young man!«