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Also«, meint Bruno, neben Nelly auf dem Baldachinbett sitzend, »da jibt’s weita nischt als eens: Abhaun. Raus aus Berlin müssen wa.«

»Und ob wir müssen!«

»Det könn wa ooch! Ick kann hier ’ne Kneipe ham oder überall in de Bundesrepublik, det hamse ma vasprochen. Und in de Bundesrepublik wirste doch keene Angst mehr ham, nich?«

Nelly wird etwas friedlicher.

»Doch, auch. Aber natürlich nicht so wie in Berlin.«

»Na, denn jehn wa nach München, denk ick.« Bruno kratzt sich den Seehundsschädel, wodurch das glattgeklatschte Haar in Unordnung gerät. »München is ’ne jute Stadt. So ville Berliner wohn da jetz. Wenn ick da ’ne Kneipe uffmache, det is ’n dreimal so jrosset Jeschäft wie hier! Schwabing soll janz doll sein. Übahaupt die Lösung, Nelliken! Siehste, so hat allet sein Jutes!«

Er will zärtlich werden und zieht sie an sich, um sie zu küssen. Sie wehrt sich.

»Nun warte bitte ein paar Minuten. Mir sitzt der Schrecken noch in allen Gliedern. Ich bin doch keine Maschine! Ich muß mich erst abreagieren …«

Dazu kommt sie allerdings nicht, denn gleich darauf läutet das Telefon. Der Berliner Korrespondent einer großen westdeutschen Illustrierten will Bruno sprechen. Er hat Auftrag, mit Herrn Knolle einen Vertrag zu schließen, sofort, auf der Stelle.

»Wat for’n Vatrach?«

»Exklusiv. Über Ihre Erlebnisse. Geld spielt keine Rolle. Sie nennen die Summe. Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen.«

»Denn fliegense in fümfnehalbe Minute hier die Treppe runta!« schreit Bruno. »Ick vakoofe meine Erlebnisse nich!«

»Hören Sie …«

»Hamse nich vastandn? Wennse unbedingt komm wolln, machense vorher Ihr Testament. Det is mein heilija Ernst!« Bruno knallt den Hörer in die Gabel.

»Da siehst du’s«, sagt Nelly zornig. »Und das war erst der Anfang. Jetzt werden alle anrufen.«

Schnell wählt Bruno Knarjes Telefonnummer und informiert den Freund, der Gott sei Dank schon bei seiner Wanda ist und sich nicht noch irgendwo vollsäuft.

»Wer dir ooch anruft – du sachst, er kann dir mal, vastanden? Wir haltn die Schnauze von jetz an. Schlimm jenuch, det unse Namen übahaupt bekannt jeworn sind. Nelly is schon janz außa sich. Und mit Recht! Also: Kapiert?«

»Na klar, Mensch! Schrei doch nich so …«

»Ick muß schreien. Ick weeß doch, wie du bist, wenn eena dir ’ne Stange Jeld bietet. Du hast schon wat. Und bald haste noch mehr. Jeh morjen zu deine Wirtin in ’n ›Schwarzen Schimmel‹ und hol die Penunse. Wann is der Wirt in de Kürche? Um zehne, nich? Na, bis du deine Numma jeschom hast und Wandan abjeholt, isset ölwe. Kommt also um ölwe zu uns. Schluß jetz.«

Bruno legt den Hörer hin.

Sofort läutet das Telefon wieder. Der Vertreter einer anderen Illustrierten macht sein Angebot. Bruno wird sehr unfein.

Danach bricht ein kleines Tollhaus los. Das Telefon läutet ununterbrochen. Immer sind Zeitungsleute am Apparat. Sogar ein Anruf aus Paris und einer aus London kommt.

Bruno ist zuletzt völlig heiser vom Fluchen, auch sein Wortschatz hat sich erschöpft. Und das will etwas heißen!

Da kommt Nelly eine Idee.

Sie läßt ihren Anschluß auf Kundendienst stellen.

Aber nun klingelt es plötzlich an der Wohnungstür.

Ein Reporter, der sich durch Brunos Morddrohungen nicht hat abschrecken lassen, ist eingetroffen. Bruno geht auf den Flur, sieht den Mann an, nimmt Maß und knallt ihm dann einen klassischen K.o.-Haken – wie seinerzeit der dicken Dame, die im Einsteigloch des Tunnels steckengeblieben war. Genau wie jene wird auch der Reporter sofort ohnmächtig und sackt auf den Dielen des Flurs zusammen.

»Laß ihn liegen«, sagt Nelly, die interessiert zugesehen hat. »Wenn weitere Herren kommen, wird es eine Warnung für sie sein.«

Sie kennt Zeitungsleute nicht!

Es läutet noch achtmal an ihrer Wohnungstür in der nächsten halben Stunde. Nun öffnet Bruno nicht mehr. Er schiebt den Riegel des Sicherheitsschlosses vor und hängt die Stahlkette ein.

Diese Reporter-Überfälle haben Nelly wieder so nervös werden lassen, daß sie das Radio andreht. Und da hört sie dann wieder Brunos Namen. Und beginnt wieder zu schimpfen. Eine feine Nacht ist das. Allmächtiger!

Erst gegen sechs Uhr früh geben die Reporter auf. Bruno bringt Nelly dazu, ins Bett zu gehen. Als er zärtlich werden will, wehrt sie ab. »Bitte nicht. Ich könnte jetzt nie! Das mußt du doch verstehen Bruno …«

»Ja, natürlich«, brummt er traurig. Er ist todmüde und schläft gleich ein.

Nelly findet keinen Schlaf. Sie liegt da und denkt über die Lage nach, und Bruno schnarcht, daß die Wände wackeln. Nelly bekommt Kopfschmerzen. Sie weint ein bißchen. Dann geht sie in die Küche, setzt sich auf einen Hocker und starrt vor sich hin. So schläft sie endlich ein – und gleitet natürlich nach kürzester Zeit vom Hocker herunter und tut sich weh.

All das macht mächtig Laune, wie man sich denken kann.

Aber Nelly ist gerecht. Sie überlegt, daß Bruno schließlich nichts für demokratische Freiheiten kann, und bereitet ihm ein opulentes Frühstück. Der arme Kerl. Er meinte es doch so gut. Und München soll wirklich eine nette Stadt sein, hat Nelly gehört.

Sie weckt Bruno gegen neun Uhr und bringt ihm das Frühstück ans Bett. Und nachdem er gebadet hat, darf er auch.

Als das erledigt ist, erzählt er Nelly, was sie wissen muß, bevor Knarje mit seiner Wanda kommt: »Wir beede kriejen die Kneipe, Knarje zehndausend Eia. Fümfe hatta schon. Vakutet.«

»Bei der Wirtin vom ›Schimmel‹.«

»Na ja …« Bruno wird verlegen. »Irgendwo mußte er det Jeld ja lassen. Wa hatten doch keene Zeit jestan.«

»Und nun holt er es also wieder ab«, sagt Nelly, mit Betonung.

»Ick war so mit de Nerven runta heute nacht, sonst hätt ick nischt von die Numma jesacht.«

»Das weiß doch der ganze Strich, daß die Alte verknallt in ihn ist! Wanda auch. Sie hat sicher nichts dagegen. Sie ist noch nie zu kurz gekommen bei Knarje. Aber natürlich darf sie von dem Geld nichts wissen, ich verstehe.«

»Ebent! Knarje kann die fümf Mille nich bei sich ze Hause lassen, wo Wanda doch …«

»Hm …«

»Er bringt det Jeld mit und jibt et dir. Heimlich. Du hebst et uff bis morjen. Denn bringt er ’t uff de Bank. Die andern fümf Mille, die er jetz noch kricht, bringta jleich uff de Bank.«

»Und was erzählt er Wanda?«

»Det hamwa uns ooch schon ausjedacht. Paß uff: Wanda müssenwa sagen, Knarje is an unse Kneipe beteilicht, mit monatlich dreißich Prozent von’ Reinjewinn. Steuafrei. Bis zu ’ne Höhe von zehndausend.«

»Hm.«

»Zusamm mit seine Filmprodukzion – mussa nu in München machn natürlich – kommta da wirklich endlich uff’n jrün Zweich, und Wanda kommt runta von’ Strich. Det is doch de Hauptsache, nich?«

»Hm.«

»Warum machst ’n dauand hm, Süße?«

»So viele Pläne, Bruno! Noch hast du die Kneipe nicht. Noch hat Knarje die anderen Fünftausend nicht. Vorläufig sehe ich keinen Grund zu lautem Jubel.«

»Das Leben«, sagt Bruno feierlich und hochdeutsch, »hat dich hart angefaßt, Nelly. Du hast viel Leid erfahren müssen. Ich kann dich verstehen. Aber jetzt sei ganz zuversichtlich: Bruno schafft es.«

Nach diesen Worten steht er auf, zieht sich an und geht hinunter auf die Straße, in die nächste Stampe, um einen Kasten Bier und klaren Schnaps zu holen. Das Lokal ist sonntäglich-früh leer, doch der Wirt beäugt Bruno neugierig und sagt prompt: »Herr Knolle, also, wat ick da über Sie im Radio gehört habe, det is ja doll! Einfach doll is det! Meine Hochachtung!«

Bruno macht, daß er fortkommt.

Er erzählt Nelly nichts von dieser Kneipier-Hymne. Ihm ist plötzlich recht flau. Wenn Knarje und er tatsächlich über Nacht zu solch unerwünschter Berühmtheit gelangt sind und noch viel, viel berühmter werden sollen, sobald die Montagzeitungen verkauft werden, dann heißt es: Raus aus Berlin, so schnell wie möglich!

Aber jetzt bloß nicht Knarje und Wanda kopfscheu machen! Hoffentlich reißt Nelly sich zusammen – versprochen hat sie es.

Doch als Knarje dann mit seiner langjährigen Braut erscheint, bricht Nelly, die Süße, ihr Versprechen. Es ist einfach stärker als sie. Zuerst hält sie sich noch. Sie nimmt Knarje geschickt den Umschlag mit dem Geld ab, den er ihr zusteckt, und verbirgt ihn in ihrer Wäschekommode; leiht der blonden Wanda ein schwarzes Baby-Doll-Set und einen schwarzen Frisiermantel; spielt Hausfrau, kredenzt im ›Salon‹ die Getränke – aber nachdem sie getrunken hat, fängt sie wieder an, genau wie in der vergangenen Nacht …

Da sieht sie dann wieder Katastrophen für ihrer aller Zukunft.

Die arme, nicht sehr gescheite Wanda wird allsogleich von Furcht ergriffen. Knarje hält es ein wenig länger aus – nicht sehr viel länger. Dann wird auch ihm mulmig. Wenigstens erklärt er sich mit Brunos Idee einverstanden, nach München zu übersiedeln. Doch da stößt er auf Wandas Widerstand.

»Ick will nich weg hier! Ick will nich nach München! Hier bin ick jeborn! Hier will ick sterben! ’ne richtje Berlinerin, die kannste nich einfach vapflanzen. Die jeht ein – überall.«

»Unsinn. In München leben Tausende von Berlinerinnen«, sagt Nelly. »Und gehen nicht ein. Und fühlen sich wohl. Und sind froh, daß sie Berlin verlassen haben.«

»Froh?« Wanda wird aggressiv. (Das fehlt noch, daß die Weiber sich in die Haare kriegen, denkt Bruno, der schon ganz erschöpft ist.) »Wennse froh sind, denn sindse keene richtjen Berlinerinnen! ’ne richtje Berlinerin ist bloß in Berlin froh! Du, du bist ooch keene richtje, Nelly!«

»Moment mal, Wanda, ja?«

(Herrje, die hauen sich wirklich noch!)

»Haste doch schon mal bewiesen, als de nach Düsseldorf jemacht bist!«

»Ich bin zurückgekommen«, entgegnet Nelly würdevoll, aber mit einem Ton in der Stimme, der Bruno erzittern läßt. Hilfesuchend blickt er Knarje an.

Der mümmelt wie ein Kaninchen und zuckt die Achseln.

»Warum biste denn zurückjekomm?« keift Wanda, die heute offenbar keinen Alkohol verträgt – genau wie Nelly. »Doch nich freiwillich! Doch bloß, weil dein Kerl dir ausjenomm hat wie ’ne Weihnachtsjans!«

»Wanda, du bist hier mein Gast!«

»Ick kann ja jehn.«

»Kinda, Kinda, nu hört doch uff«, versucht Bruno zu vermitteln.

»Du halte dich bitte da raus, ja?« ruft Nelly. »Das ist eine Sache zwischen Wanda und mir. Wir haben schon einmal Krach gehabt. Ich weiß, Wanda kann mich nicht leiden. Ich weiß nicht, weshalb. Aber das wird sich jetzt gleich herausstellen!« Damit springt Nelly auf und ist mit zwei Sätzen bei Wanda, die entsetzt quiekt.

»Nelly!« schreit Bruno.

In diesem Moment läutet es an der Wohnungstür.

Alle erstarren.