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Also doch noch eena von die vafluchten Zeitungsfritzen«, sagt Bruno leise und erleichtert. »Ihr seid janz stille, vastanden? Keen Mucks will ick hörn. Denn ziehta wieda ab.«

Dieses Läuten kam vom Himmel.

Es kommt schon wieder.

»Wenn der Kerl …«, beginnt Bruno, da dringt eine Männerstimme in die Wohnung: »Hier ist Jack Campbell vom CIC. Herr Knolle, bitte, öffnen Sie.«

Stille. Totenstille. Als wäre ein Film gerissen.

»Nun kommen Sie schon, Herr Knolle«, ertönt die Stimme. »Es ist wichtig.«

»Bruno!« ruft Nelly. »Bist du verrückt geworden? Willst du entführt werden?«

Die anderen blicken ihm nach. Er schiebt den Riegel des Sicherheitsschlosses zurück, nimmt die Stahlkette ab und öffnet die Tür. »Keene Bange. Ick kenne den Herrn. Hat ma vahört in Marienfelde. Tretense näha, Herr Kempell. Du ooch, Kleena.«

Ein magerer kleiner Junge mit schwarzem Haar und sehr großen schwarzen Augen kommt zuerst herein. Er trägt eine Tasche, wie sie von Fluggesellschaften verschenkt wird. Da sitzt die Schildkröte Happy drin, aber das weiß niemand von denen, die Jürgen Machon anstarren. Dem Jungen folgt ein gepflegter, gut aussehender Mann. »Hallo«, murmelt Jack Campbell und betrachtet ein wenig verblüfft die beiden Damen in ihren durchsichtigen Frisiermänteln und die beiden Herren in Unterhosen und Netzleibchen. Bruno bemerkt das. »Heiß«, erläutert er.

»Sehr heißt« Campbell grinst. Dieser Bruno Knolle ist ihm von Anfang an sympathisch gewesen.

»Mein Name ist Jürgen Machon«, sagt der Junge und verbeugt sich gut erzogen vor allen.

»Du bist der, der mit mir rübajekomm is?« fragt Bruno.

»Ja.«

Nelly, Wanda und Knarje treten in die Diele.

»Nu kiekt bloß nich so«, bittet Bruno nervös.

»Herr Knolle hat mir zur Flucht verholfen«, erklärt Jürgen den Angetrunkenen ernst. »Ohne ihn wäre ich nie herübergekommen. Ohne ihn und Fräulein Szapek.«

Der Bruno hat plötzlich das Gefühl, ein großes Stück Eis verschluckt zu haben.

»Fräulein Szapek?« fragt Nelly, ehe er etwas sagen kann. »Wer ist denn das?«

»Eine Dame, die Herr Knolle kennt …«

»Von die ick det Kettchen habe«, unterbricht Bruno hastig. (Das imaginäre Eisstück in der Magengrube brennt wie Feuer.) »Du weeßt doch, Nelly, ick habet dir doch erzählt!«

»Ja, das hast du«, sagt sie, und ihre Augen werden schmal, während sie von dem Jungen fort zu Campbell blickt. »Ist sie hier im Westen?«

»Quatsch!« ruft Bruno. »Wie kannse denn in Westen sein, Nelliken? Det is doch …«

»Ja, Fräulein Szapek ist im Westen«, antwortet Jack Campbell, der aufmerksam die Gesichter aller Anwesenden beobachtet, das eigene Gesicht völlig ausdruckslos.

»Die Mitzi is hier?« Bruno rülpst vor Schreck.

»Sie ist geflüchtet, Herr Knolle … schwer verletzt auf der Flucht. Liegt im Bethanien-Krankenhaus. Fräulein Szapek hat keine Ahnung, wo Sie sich aufhalten. Es ist ihr nur bekannt, daß Jürgen mit Ihnen geflohen ist.«

»Deshalb haben sie mich aus dem Lager geholt«, erklärt der Junge. »Ich habe Fräulein Szapek versprochen, Sie zu ihr zu bringen. Bitte, Herr Knolle, kommen Sie mit mir. Fräulein Szapek wartet so sehr auf Sie!« (Noch schmäler werden Nellys Augen.) »Die Ärzte und Herr Campbell und alle meinen, es wäre gut, wenn Sie kommen … damit Fräulein Szapek wieder gesund wird. Herr Campbell hat einen Wagen da, einen ganz phantastischen!«

»Ich bringe Sie auch zurück«, sagt der Amerikaner.

»Na, also denn …«, beginnt Bruno.

»Dann mußt du natürlich ins Krankenhaus«, sagt Nelly. Er sieht sie an. Sie lächelt. Ihre blauen Augen sind wieder groß und schön und harmlos. »Wer weiß, wie wichtig das ist, daß Fräulein Szapek dich sieht.«

»Wenn de denkst … denn will ick aba mal janz schnell …« Bruno eilt zur Wohnungstür.

»Hrm!« macht Campbell.

»He?« fragt Bruno.

Der Amerikaner sieht ihn von oben bis unten an.

»Ach so!« Bruno lacht gezwungen. »So kann ich natürlich nich lossausen.«

»Man würde es vielleicht seltsam finden«, meint Campbell.

»Bloß ’ne Minute«, sagt Bruno. Er verschwindet in Nellys Schlafzimmer, wo seine Kleidungsstücke liegen. Es dauert wirklich nicht länger als eine Minute, da kommt er zurück – angezogen, den Knoten der Krawatte knüpfend.

In diesen sechzig Sekunden war es still auf der Diele. Niemand sprach ein einziges Wort.

»Also, Nelliken …«

Er gibt ihr einen Kuß auf die Wange.

»Komm bald wieder«, sagt sie.

»Klar«, sagt er. Dann hat er schon die Wohnungstür von außen geschlossen und trottet mit Campbell und Jürgen die Treppe hinab.

»Jeflüchtet«, sagt er verstört. »Warum isse jeflüchtet, Herr Kempell?«

»Das möchten auch wir gerne wissen«, antwortet der Amerikaner. Im ›Salon‹ hat sich Nelly wieder auf ihren Sessel gesetzt. Sie gießt ein Glas voll Schnaps und dreht es hin und her. Wanda und Knarje betrachten sie besorgt.

»Nu sag doch wat«, fordert Wanda ihren Bräutigam zuletzt auf.

»Ick? Wat soll ick schon sagn? Du machst ma Spaß!«

Nelly blickt auf.

»Glaubt ihr, er hat Geheimnisse?«

Keine Antwort.

»Glaubt ihr, er hat etwas mit dieser Szapek?« fragt Nelly weiter.

»Etwas Ernsthaftes, meine ich. Glaubt ihr, die Person ist seinetwegen geflüchtet?«

Wieder bekommt sie keine Antwort.