Zur gleichen Zeit, da Jack Campbell mit Bruno Knolle und Jürgen Machon zum Bethanien-Krankenhaus fährt, sitzen zwei Männer einander in der kühlen Halle einer Villa gegenüber, die sich, von Kiefern umstanden, des Nachts von Scheinwerfern angestrahlt, in einer kurzen Seitenstraße der Clay-Allee befindet. Die Zentrale des CIC in Berlin ist selbstverständlich mit einer Air-Conditioning-Anlage ausgestattet.
Mr. A. C. Snowden sieht aus, als käme er direkt aus dem Urlaub. Rosig. Erholt. Frisch und munter. Kriminalrat Berthold Prangel sieht aus, als hätte er drei Tage und drei Nächte ohne Pause durchgearbeitet. Seine Stimme ist heiser, seine Bewegungen sind unsicher, seine Fingernägel schmutzig. Die Pfeife, die er in einer Hand hält, führt er so selten zum Mund, daß der Tabak immer wieder zu glimmen aufhört und Prangel ihn neu anzünden muß. Viele Streichhölzer liegen in der Kristallschale vor ihm auf dem Tisch.
Mr. A. C. Snowden konstatiert das genau. Während sich der Ausdruck des Ekels und der Abscheu in Prangels Gesicht noch breiter gemacht hat, wirkt der CIC-Mann weniger angewidert als sonst.
»Ich verstehe Ihre Gefühle gut, Herr Prangel. Ich kann mir sehr wohl denken, wie Ihnen zumute ist.«
»Ja, können Sie das?« fragt der Kriminalrat bitter, wieder einmal um seine Pfeife bemüht.
»Gewiß. Ich brauche mir nur vorzustellen, einer meiner besten alten Freunde wäre seit Jahren ein Sowjetagent und ich hätte ihn eben geschnappt. Es ist nicht schwer, sich in Sie hineinzufühlen, Herr Prangel. Und es tut mir leid für Sie – ehrlich leid. Scheußlich muß das sein.«
»Scheußlich, ja«, antwortet der bleiche, übernächtige Kriminalrat tonlos. »Durch Jahrzehnte waren wir Freunde. Unsere Frauen auch. Meine ist tot. Aber Bräsigs Frau lebt noch. Fast ganz blind. Er hat es mir erzählt, bevor ich ihn im Untersuchungsgefängnis abgeliefert habe.«
»Schlimm, schlimm«, konstatiert Snowden. »Aber was hätte Bräsig getan, wenn er Sie erwischt hätte?«
»Dasselbe. Das hat er mir auch noch gesagt. Und daß er mir nicht böse sei. Das war das Allerärgste, Mr. Snowden! Daß er mir sozusagen verzieh.«
»Wissen Sie«, sagt Snowden, »Sentimentalität ist eine schöne Sache. In unserem Beruf nicht! Wie ich höre, jammert Kornmann dauernd wegen seiner Frau. Sentimentalität! Hat darum so völlig versagt.«
»Der hat auch eine Frau?«
»Eine junge, sehr schöne angeblich. It’s just too bad.« Mr. A. C. Snowden beginnt in der Halle auf und ab zu gehen. Er redet wie ein besorgter Bruder, während er dahinschlendert …
»Unter derartigen Umständen, lieber Herr Prangel, kann natürlich kein Mensch von Ihnen verlangen, diesen Fall weiterzuverfolgen. Das wäre ja Sadismus! Sie müssen jetzt zur Ruhe kommen. Ach, wenn Sie sich sehen könnten! Hat Sie eben mächtig mitgenommen, diese Begegnung. Ich ahnte es. Deshalb verschwieg ich Ihnen ja Bräsigs wahren Namen stets. Ich lasse Sie jetzt heimbringen. Sie nehmen ordentlich Veronal und schlafen sich aus.«
Hart schlägt der Kriminalrat seine Pfeife gegen die Kristallschale.
»Soll das heißen, daß ich aus dem Fall raus bin?«
»Ja, wollen Sie ihn denn weiterführen? Mit Ihrem Freund Bräsig in Untersuchungshaft? Wollen Sie den nun jeden Tag besuchen und zusammen mit dem Untersuchungsrichter alles für den Staatsanwalt vorbereiten?«
»Nein, natürlich nicht …«
»Sehen Sie.«
»Aber …«
»Aber was?«
Erlösung! Meine Erlösung. Ich dachte, mit Bruno Knolle sei sie gekommen. Wenn man mich jetzt abschiebt …
»Aber ich will auch nicht ganz aus dem Fall raus! Ich muß doch schließlich wissen, wie das alles weitergeht … mit Knolle und Knargenstein und Fanzelau … Das Belastungsmaterial aus dem Osten, zum Beispiel, das landet doch bei mir im Präsidium! Völlig ausschalten können Sie mich also nicht, Mr. Snowden!«
»Ausschalten! Was ist das für ein Ausdruck? Wer redet von ausschalten? Selbstverständlich halten wir Sie auf dem laufenden, selbstverständlich arbeiten Sie weiter.« Snowden lacht. »Sie sind aber wirklich fertig! Denken Sie im Ernst, ich trenne mich von dem Menschen, mit dem ich seit so vielen Jahren glänzend zusammenarbeite? Von dem Menschen, der mir das Nachrichtennetz in der Zone aufgebaut hat? Von Wielands Kontaktmann?«
»Na ja …« Prangel beruhigt sich. Er beruhigt sich gerne. Er läßt sich gerne beruhigen. »Ich bin einfach übermüdet.«
»Ins Bett mit Ihnen! Und wenn es Ihnen Spaß macht, schalten Sie sich auch in diese Geschichte wieder ein – anytime! Wird sich noch auswachsen, die Geschichte, das fühle ich deutlich. Wir müssen da am Ball bleiben, alle. Nur im Moment, besser gesagt, gerade im Moment …«
»Gerade im Moment?«
»Gerade im Moment, Herr Prangel, sind Sie emotionell zu sehr aus der Balance, um als mein Partner in Frage zu kommen.«
Prangel fühlt ohnmächtigen Zorn.
Verflucht, von allen Menschen auf der Welt mußte dieser Bräsig sich als sein alter Freund Wilhelm Herterich erweisen …
»Sie antworten nicht«, sagt Snowden. »Das bedeutet: Sie geben mir recht. Ich habe ja auch recht. Mein lieber Herr Prangel, wie oft haben wir schon cooperiert! Wie erfolgreich, auch diesmal! Ich habe Bayreuth bereits über Ihre großartige Leistung informiert.«
»Danke …«, murmelt Prangel verloren.
»Nichts zu danken. Man bewundert Sie. Sie sind der beste Mann, den wir in Berlin haben.«
»Na …«
»So ist es! Eben darum muß ich darauf bestehen, daß Sie sich jetzt zurückhalten. Ein wenig nur. Kleine Pause. Ein Mann wie Sie ist unersetzlich. Denken Sie bloß, wie viele Dinge nun getan werden müssen. Durchleuchtung Fanzelaus. Untersuchung der Hintergründe der Szapek-Flucht. Durchleuchtung dieses Knolle.«
»Knolle durchleuchten?« Prangel fährt hoch. »Aber der ist doch koscher! Der hat doch überhaupt alles ins Rollen gebracht und sein Leben dabei riskiert!« (Wenn ich mich jetzt nicht um Bruno kümmere, wer wird es dann tun? Ich habe ihm doch versprochen …)
»Reine Routine.« Snowden registriert mit klinischem Interesse ein Gefühl des Mitleids für Prangel bei sich. Mitleid für einen anderen Menschen – schau an, denkt er und fährt fort: »Vergessen Sie nicht, daß auch ich weisungsgebunden bin.«
»Weisungsgebunden?«
»Sie wissen, was ich meine. Die Affäre muß nun gleich dem Verfassungsschutz gemeldet werden.«
»Dem …«
»Na, das ist doch Vorschrift, nicht wahr? Sie und ich, wir dürfen keine Extratouren machen, lieber Prangel! Immerhin, Sie sind hauptberuflich im Polizeipräsidium. Ich als Amerikaner habe da noch etwas mehr Bewegungsfreiheit – bei meinen Leuten. So habe ich Jack Campbell, wie Sie wissen, aus Marienfelde abgezogen, damit er sich um den Komplex Knolle/Szapek kümmern kann. Ich habe auch noch andere Agenten angesetzt, die verschiedene Spuren verfolgen – gerne erkläre ich Ihnen, welche. Aber was die deutsche Seite betrifft, so muß da jetzt der Verfassungsschutz her. Ich habe mich schon an Schuckert gewandt.«
»Heinz Schuckert?«
»Sie kennen ihn natürlich.«
»Natürlich«, sagt Prangel. »Ein tüchtiger Mann, der Schuckert.«
»Wahrhaftig! Sie werden ihm wertvollste Hinweise geben können«, meint Snowden. »Er wird für jeden einzelnen dankbar sein. Na, und Sie und Schuckert gemeinsam …«
»Ja, ja, ja«, sagt Prangel, »aber Schuckert als Chef, nicht wahr?«
»Guter Gott, nun spielen Sie nicht den Eifersüchtigen, Herr Prangel! Sie wissen, daß wir den Verfassungsschutz einschalten müssen!«
»Ja, natürlich«, murmelt Prangel, und stochert in seiner Pfeife.
»Und dann, überlegen Sie doch: Schuckert ist bei dieser Sache in keiner Weise persönlich berührt oder betroffen. Er wird unparteiisch und unsentimental arbeiten können – genau das verlangt unser Job. Keine persönlichen Gefühle!«
»Nein, keine persönlichen Gefühle«, sagt Prangel und denkt an seine tote Frau Anna und ihren toten Bruder und an die persönlichen Gefühle, die er sich so lange erlaubt hat, und wohin seine Gefühle ihn zuletzt gebracht haben.
»Keine Sentimentalitäten!«
»Nein, keine Sentimentalitäten«, wiederholt Prangel schwach. »Wirklich, der beste Mann, den Sie wählen konnten, dieser Schuckert!«
»Freut mich, daß Sie das sagen. Er hat auch sofort zu arbeiten begonnen.«
»Wo? Bei wem?«
Mr. A. C. Snowden erklärt dem Kriminalrat Berthold Prangel, wo und bei wem Heinz Schuckert bereits zu arbeiten begonnen hat.