So«, meint Heinz Schuckert lachend, »mit einem ordentlichen Frühstück im Bauch fühlt man sich gleich wie ein anderer Mensch, was?«
»Ja«, antwortet Franz Lutter und lächelt schwach. »Einen furchtbaren Brand habe ich natürlich. Nett von Ihnen, daß Sie das Eiswasser nicht vergessen haben.« Er schenkt ein Glas aus einer großen Karaffe voll.
Die beiden Männer sitzen in dem kleinen Studio, in dem Lutter seinen Rausch ausgeschlafen hat. Vor dem Feldbett steht ein Tisch, darauf hat man ein kräftiges Frühstück serviert.
Heinz Schuckert von der Berliner Dienststelle des Bundesverfassungsschutzes ist ein kleiner, zu Fettleibigkeit neigender Mann von zweiundvierzig Jahren. Rosige Patschhände besitzt er, einen rosigen Eierkopf und sehr schütteres braunes Haar. Obwohl noch relativ jung, wird Schuckert wohl in ein, zwei Jahren völlig kahl sein. Er versucht alles mögliche, diese Entwicklung aufzuhalten – vergebens. Die Haare, die ihm noch verblieben sind, kämmt er in breiten, dünnen Strähnen nicht von vorn nach hinten, sondern von einem Ohr zum anderen, quer über den Schädel. ›Sardellen‹ nennt man das in Berlin. Immerhin – es sieht besser aus so. Noch. In ein, zwei Jahren …
Heinz Schuckert hat ein bewegtes Leben hinter sich. Er stammt aus Berlin. Vater und Mutter übten wichtige Funktionen in der Kommunistischen Partei aus. 1933 floh die Familie nach Moskau. Da war Heinz elf Jahre alt. Die Eltern arbeiteten weiter für die Partei, Heinz kam in eine Schule für deutsche Funktionärskinder.
Am 28. September 1939, nach dem Überfall auf Polen, unterzeichneten die Nazis in Moskau mit den Sowjets einen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Das war für Heinz Schuckerts Vater, der sein Leben im Kampf gegen den Faschismus verbracht hatte, Anlaß, sich dieses Leben zu nehmen. Besagter Freundschaftsvertrag bewegte damals viele Kommunisten in vielen Ländern, dasselbe zu tun oder der Partei den Rücken zu kehren.
Heinz Schuckerts Mutter wurde bald nach dem Selbstmord ihres Mannes verhaftet: Sie habe antisowjetische Reden gehalten und Flugschriften verbreitet, behauptete die Anklage. Den Prozeß erlebte die Beschuldigte nicht mehr. Sie starb unter Umständen, die niemals bekannt wurden, in der Haft.
Für den kleinen Heinz, einen überintelligenten Jungen, sorgte der Staat. Von Schule zu Schule wurde er geleitet, um nach Kriegsende in Deutschland ›bereit für den Einsatz‹ zu sein. Bei einem Lehrgang lernte Heinz Schuckert auch den Berliner Rechtsanwalt Peter Wieland kennen.
1945 wurden beide nach Berlin gebracht und mit gänzlich verschiedenen Aufgaben betreut. Schuckert verlor Wieland aus den Augen. Er arbeitete wie ein Besessener, erst im ›Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹, dann, als jüngster und zugleich eifrigster Funktionär, in der ›Zentralverwaltung für Volksbildung‹. Das Schicksal seiner Eltern erschien ihm als zwar tragische, jedoch völlig logische Folge ihrer falschen Ideologie, ihres Abweichlertums, ihrer Zweifel daran, daß die Partei, die Partei, die Partei immer recht hatte.
Bald jedoch kamen Heinz Schuckert selber Zweifel an dieser Maxime.
1949 hatten diese Zweifel sich in Verzweiflung verwandelt. Er floh in den Westen. Seine intime Kenntnis der sowjetischen Mentalität, durch die allein alle verblüffenden politischen Entscheidungen, Kehrtwendungen, Säuberungen und Kurswechsel erklärbar waren, machten Heinz Schuckert zu einem wichtigen Mann für den Bundesverfassungsschutz, in dessen Dienste er 1951 trat. Seine Tätigkeit erstreckte sich auf die Überwachung der westdeutschen KP, vor und nach dem Verbot dieser Partei. 1959 kam Schuckert nach Berlin …
»Na«, sagt er nun zu Franz Lutter, der das Glas Eiswasser ausgetrunken hat, »was macht Ihr Kopfweh? Wirkt das Aspirin schon?«
»Ja«, antwortet der magere Sprecher mit den eingefallenen Wangen, der hohen Stirn und dem von Falten zerfurchten Gesicht. Unrasiert, in einem zerdrückten Anzug und einem nicht mehr sauberen Hemd, wirkt er an diesem Vormittag besonders kläglich. Der Leberfleck auf der grauen Wange sieht aus wie ein Schmutzfleck. »Muß ich betrunken gewesen sein! Ist mir noch nie im Funkhaus passiert. Aber ich hatte so lange Dienst …«
»Und Sie bekamen so lange keinen Whisky.«
»Bitte?«
»Keine Schande. Glauben Sie, ich bin von dem Zeug nicht abhängig? Wie sonst sollte man diese Zeit noch ertragen? Wir leben im Jahrhundert des Alkohols.«
»Es scheint so, ja«, antwortet Lutter verlegen. »Ich muß schleunigst eine Entwöhnungskur machen.«
Schuckert winkt ab.
»Ich habe schon drei gemacht. Bei Leuten wie uns hat das keinen Sinn. Wir fangen immer wieder an, wir Mitglieder der Leber-Party. Und damit wären wir beim Thema.«
»Das verstehe ich nicht«, sagt Lutter und füllt sein Glas schon wieder mit Eiswasser. Es ist, denkt er dabei, gar nicht so sehr das Trinken als dieses Gefühl, daß man ein volles Glas in der Hand hat, zum Munde führt. Orale Triebbefriedigung. Ob ich auch so söffe, wenn man mir den Whisky intravenös spritzte? Sorgen habe ich! Dieser Mann erklärt, er sei vom Verfassungsschutz. Offenbar ist es also soweit.
»Ach ja«, sagt indessen Schuckert ruhig, »Sie verstehen mich schon, lieber Herr Lutter. Ich will es Ihnen so leicht wie möglich machen: Ich habe meine Jugend in Moskau verbracht. Meine Eltern waren Kommunisten. Ich selbst kommunistischer Spitzenfunktionär.«
Lutter schweigt und betrachtet den rosigen Mann mit dem beklagenswert schütteren Haarwuchs.
»Nun haben Sie aber gut verstanden, nicht wahr?« Dieses Verhör im Studio macht alles so einfach! Zwei Assistenten Schuckerts haben die Mikrophone eingeschaltet und nehmen das Gespräch in einem Nebenraum auf Band.
»Nun habe ich Sie verstanden«, antwortet Lutter. »Wie aber sind Sie zum Verfassungsschutz gekommen? Wenn die Frage nicht zu indiskret ist.«
»Keineswegs. Sage ich Ihnen gern. Meine Eltern sind im Kampf für den Kommunismus krepiert, durch den Kommunismus. Warten Sie!« Schnell hebt der kleine Schuckert eine rosige Hand. »Das war nicht der Grund für mein Abspringen! Als sich diese Dinge ereigneten, war ich noch ein Kind. Kinder kann man erziehen. Ich wurde erzogen. Zu einem großartigen Kommunisten, der sogar davon überzeugt war, daß seine Eltern ihr Schicksal zu Recht erlitten hatten – als Feinde der Partei nämlich, deren Handlungen sie nicht begreifen konnten in ihren armseligen Gehirnen.«
»Wollen wir zur Sache kommen?« fragt Lutter. Er langweilt sich auf einmal. Wozu das Geschwätz? Ihn muß man nicht weichklopfen. Er weiß, was er nun zu tun hat. Aber da bemerkt er plötzlich, daß Schuckerts rosiges Gesicht rot geworden ist, daß dieser Mann nicht nur schwätzt, um ihn zu ködern, sondern daß das eine arme Kreatur ist, die nie darüber hat hinwegkommen können, was ihr widerfahren ist – und wohl nie darüber hinwegkommen wird. Lutter sagt: »Pardon. Erzählen Sie zu Ende.«
»Es gibt nicht mehr viel zu erzählen«, sagt Schuckert, plötzlich ernüchtert, denn er hat Lutters mitleidigen Blick bemerkt. »Nach dem Krieg war ich vier Jahre lang noch ein großer Mann drüben im Osten. Es wurde schwerer und schwerer. Bei allem, was man gegen den Westen sagen kann – er hat einen ungeheuren Vorteil, wissen Sie.«
»Und zwar?«
»Und zwar dürfen Sie im Westen schweigen. Ich meine: Schweigen, wenn Ihnen vor Empörung über etwas, das geschieht, das Blut zu kochen anfängt. Da dürfen Sie schweigen. Begreifen Sie, was das für ein Himmelsgeschenk ist?«
»Schweigen – ein Himmelsgeschenk? Na, ich weiß nicht!«
»Ja, das wissen Sie nicht, weil Sie nicht im Osten gelebt haben! Wenn da etwas geschieht, worüber Sie so empört sind, daß Ihr Blut zu kochen beginnt, dann dürfen Sie nicht schweigen! Dann müssen Sie reden: Reden! Reden! Reden!« Zuletzt hat Schuckert geschrien. Jetzt spricht er wieder normal. »Jeder Intellektuelle muß das. Es ist seine Pflicht, zu reden, gerade dann zu reden. Vor einer Riesenzuhörerschaft. Und gutzuheißen, zu preisen und zu loben, was geschieht! Ich sage Ihnen: Der Mensch hält viel aus, das nicht. Darum bin ich geflüchtet. Und nun wissen Sie, weshalb ich zum Verfassungsschutz ging – als Kommunistenjäger.«
Es ist ein Glück, daß ich meine gute Renate habe, denkt Lutter. Und daß sie schon vor so langer Zeit alles vorbereitet hat. Es mußte ja einmal passieren. Er meint: »›Kommunistenjäger!‹ Sehr komisch. Sie werden mir gewiß nicht böse sein, wenn ich sage, daß Sie nicht etwa geflüchtet sind, weil Sie plötzlich kein Kommunist mehr waren, sondern weil Ihnen der Kommunismus drüben einfach nicht kommunistisch genug war.«
»Ihre Erklärung! Fest steht: Das, was heute drüben als Kommunismus deklariert wird, hat mit dem Kommunismus von Marx, Engels und Lenin so viel zu tun wie die Hölle mit dem Himmel.« Schuckert neigt sich vor. »Und deshalb haben wir beide die Nase voll, nicht wahr? Deshalb haben wir beide die Brücken zu diesen Leuten abgebrochen – jeder auf seine Weise.«
Da ihm klar ist, daß Schuckert genau Bescheid weiß, begnügt sich Lutter mit einem stummen Nicken.
»Sie waren einer der eifrigsten Agitatoren der Berliner KP, bis die Nazis kamen, Herr Lutter. Sie haben nicht nur in Berlin gearbeitet, sondern in ganz Deutschland. Sie waren einer der bekanntesten und besten Versammlungsredner. Die Nazis haben Sie sofort eingesperrt. KZ. Und dann, ›zur Bewährung‹, in eine Strafkompanie. So sind Sie in sowjetische Gefangenschaft geraten. Sind heimgeschickt worden nach Kriegsende. Und haben in Hamburg weiter für die Partei gearbeitet. Das stimmt doch?«
»Das stimmt.«
»Ihre Frau war auch Kommunistin. Trotz ihrer kapitalistischen Verwandtschaft, trotz ihres vielen Geldes, trotz ihrer zweifellos streng antikommunistischen Erziehung.«
»Diese Erziehung war bei Renate erfolglos«, sagt Lutter. »Als wir uns kennenlernten … aber das wissen Sie ja alles.«
»Das weiß ich alles, ja. Auch daß Sie, nachdem die KP in der Bundesrepublik 1956 als verfassungswidrig verboten wurde, im Untergrund weitergearbeitet haben.«
»Nicht lange.«
»Das weiß ich ebenfalls. 1956 passierte ein bißchen zu viel, nicht wahr? Der Arbeiteraufstand in Posen. Die Revolution in Ungarn. Da schossen Arbeiter auf Arbeiter. Sie müssen ohnehin einen sehr guten Magen haben, sonst hätten Sie schon im Juni 53 den Aufstand in Ostberlin und in der großartigen DDR nicht verdauen können. Wissen Sie noch? Ausnahmezustand! Sowjetpanzer! Dreihundert Demonstranten zusammengeschossen! Wissen Sie noch? Standrechtliche Erschießungen! Sechstausend Jahre Zuchthaus oder Arbeitslager! Aber schön. Ein so großer Mann wie Brecht schickte Herrn Ulbricht damals sogar noch ein Ergebenheitstelegramm«, meint Schuckert.
Die Reaktion, die er provozieren will, kommt sofort.
»Das Telegramm war gefälscht!« Lutter springt auf, er schreit: »Und Sie wissen, daß es gefälscht war! Sie wissen, wie sehr Brecht darunter gelitten hat! Sie wissen, daß er die Kopie des Originaltelegramms, in dem etwas ganz anderes stand, wie ein hilfloser Bettler jedem gezeigt hat, den er erwischen konnte, um sich zu rechtfertigen! Bert Brecht ist nicht ohne Grund drei Jahre später gestorben, achtundfünfzig Jahre alt nur … an einem Herzinfarkt.«
»Mir müssen Sie das nicht erzählen, lieber Herr Lutter. Ich kannte Brecht. Er ist der größte deutsche Schriftsteller dieses Jahrhunderts, und er wird es wahrscheinlich bleiben. Aber sein Schicksal ist auch nichts weiter als eine Bestätigung all dessen, was ich bisher gesagt habe. Sie sehen übrigens gleichfalls nicht eben aus wie das blühende Leben.«
»Nein, so wohl wie die christlich-abendländischen Gläubigen sehe ich nicht aus, da haben Sie recht.«
»Herr Lutter, Sie und ich, wir wissen viel über den Kommunismus, über die Geliebte, die uns verraten hat. Meine Aufgabe ist es, zu verhindern, daß jener After-Kommunismus, jene Spottgeburt aus Dreck und Asche, die von einer neuen Religion – ja, Religion, sage ich! – heute noch übriggeblieben ist, sich nun auch hier etabliert. Das ist meine Aufgabe.«
Ein Schweigen folgt.
»Ich muß nicht betonen, daß mir alles, was ich in Ihrem Fall zu tun habe, sehr peinlich ist«, sagt Schuckert endlich.
Lutter hebt die Achseln und läßt sie fallen.
Schuckert richtet sich auf. »Wir haben Sie natürlich weiter beobachtet durch all die Jahre, die Ihrem Bruch mit der Partei folgten. Es war übrigens kein offener Bruch.«
»Doch! Ich habe meinen Freunden eindeutig erklärt, daß ich mich von ihnen für alle Zeiten distanziere und nie mehr für sie arbeiten würde.«
»Ja, das haben Sie getan. Aber Sie sind niemals aus der KP ausgetreten. Offiziell, meine ich.«
Lutter senkt den Kopf.
»Sie sind nie ausgetreten! Stimmt das?«
»Das stimmt.«
»Sie müssen mir keine Erklärung dafür geben, Herr Lutter. Man hört nicht auf, eine Geliebte zu lieben, bloß weil sie einen verraten hat. Man hofft immer noch …« Schuckert seufzt. »Leider leben wir in einer sehr wirren Zeit. Wenn der Westen nicht wachsam ist, wachsam bis zum äußersten, wird er zuletzt doch jenen Mächten zum Opfer fallen, die Sie als ›guter‹ Kommunist ebenso fürchten wie ich. Deshalb müssen wir uns wehren. Deshalb muß ich Sie fragen: Warum haben Sie im Bewerbungsfragebogen des Senders Freies Berlin eine falsche Angabe gemacht? Die Frage, die ich meine, lautete: ›Sind oder waren Sie jemals Mitglied der Kommunistischen Partei?‹« Schuckert zieht ein Formular aus der Tasche. »Hier ist Ihre Bewerbung. Als Antwort auf jene Frage steht da in Ihrer Schrift – das ist doch Ihre Schrift? – zu lesen: Ich war Mitglied von 1928 bis 1956. Dann trat ich offiziell aus.« Schuckert senkt das Formular. »Warum haben Sie gelogen? Der Bogen wurde zur Überprüfung nach Köln geschickt. Dort hat man die Lüge übersehen. Woran Sie erkennen, wie schlecht ein nicht-totalitäres Regime manchmal arbeitet. Drüben wäre eine derartige Lüge sofort entdeckt worden. Nun, warum haben Sie nicht die Wahrheit erklärt?«
»Weil ich dann niemals diesen Posten bekommen hätte«, erwidert Lutter ruhig.
»Aha. Sie sagten sich – wie die Koestler, die Leonhard und so weiter: Um gegen diese Verteufelung des Kommunismus kämpfen zu können, muß ich eine Kampfposition haben. An der Schreibmaschine. Vor dem Mikrophon! Irgendwo. Dann kann ich vielleicht doch noch etwas tun. Denn ich muß etwas tun, als ›guter‹ Kommunist!«
»So ist es.«
»Also weiter«, sagt Schuckert. »Nach dem Krach mit der West-KP wollten Sie aus Hamburg fort. Das war möglich, weil Ihre Frau hier in Berlin eine große Erbschaft machte. Sie wußten, daß wir alle diese Fragebögen kontrollieren. Sie haben es riskiert. Sie hatten Glück.«
»Ja«, sagt Franz Lutter, »ich hatte Glück.« Sein Mund verzieht sich bitter. »Viel mehr Glück als beispielsweise Professor Kantner. Der ist auch in den Westen geflüchtet, ist offiziell aus der Partei ausgetreten … und hat bis heute seine Anerkennung als politischer Flüchtling nicht durchsetzen können. So sehr ist der freie Westen auf der Hut!«
Schuckerts Gesicht wird hart. »Es geht nicht um Professor Kantner, es geht um Sie. Natürlich sind Sie hier fristlos entlassen und haben mit einem Verfahren gegen sich zu rechnen. Warum lachen Sie?«
Lutter lacht noch eine ganze Weile, dann erholt er sich.
»Ich finde die dramatischen Begleitumstände dieser Entlassung komisch!«
»Die Begleitumstände sind tatsächlich dramatisch … wenn Sie das auch offensichtlich noch nicht bemerkt haben.«
Lutter wird unruhig.
»Was heißt das?«
»Wir sind verständlicherweise skeptischer und mißtrauischer als andere Behörden. Sie haben Ihrem Kriegskameraden Bruno Knolle zur Flucht in den Westen verholfen …«
»Und das ist natürlich ein Beweis dafür, daß ich mich erneut DDR-kommunistisch betätige!« höhnt Lutter.
Schuckert sieht auf seine Schuhe.
»Hören Sie, ich habe heute nacht stundenlang vor dem Mikrophon zugebracht, um in den Äther zu posaunen, welche Niederlage der SSD durch die Hilfe meines Freundes Knolle erlitten hat!«
»Das wird sich noch herausstellen …«
»Was?« Lutter starrt Schuckert an. Es muß jetzt schnell gehen, denkt er. Sonst ist es zu spät. Wie schnell kann es schnellstens gehen? Ob man mich gleich festnimmt? Der da, der kann es nicht. Dieser Verfassungsschützer hat ja keine polizeilichen Befugnisse. Aber er kann im Nu die Polizei holen lassen.
»Es wird sich noch herausstellen, für wen es eine Niederlage gewesen ist, Herr Lutter«, sagt Schuckert. »Eine neue Untersuchung – aber diesmal, seien Sie versichert, werden wir nichts übersehen, werde ich nichts übersehen! Auch nicht im Fall Ihres Neffen.«
»Was wollen Sie von Horst?«
»Er hat an dem Tunnel mitgebaut, durch den dieser Knolle herübergekommen ist.«
»Ja. Im Auftrage Ulbrichts!«
»Ach, Herr Lutter!« Schuckert seufzt. »Derartige Bemerkungen können Sie sich wirklich ersparen. Die Geschichte von heute nacht ist doch noch nicht zu Ende. Nicht für uns. Wir wissen noch viel zu wenig … über alle Beteiligten. Über Herrn Knolle, seinen Freund Knargenstein, Herrn Fanzelau … ja, ja, auch über den müssen wir viel mehr wissen! …, über Ihren Neffen und über Sie. Sie haben Kollegen im Sender erzählt, daß Horst Tunnel gräbt.«
»Ja, das habe ich erzählt«, sagt Lutter, ernüchtert. »Es war ein Fehler, wie ich sehe.«
»Wir wissen auch noch nicht genug über die Leute, denen Sie das erzählt haben. Sie werden uns sagen, wer diese Leute sind. Doch wem haben die weiter davon erzählt? Warum ist Ihr Neffe nach Berlin gekommen, Herr Lutter?«
»Um zu studieren.«
»Das hätte er auch im Westen gekonnt. Horst Lutter ist nach Berlin gekommen, weil er in Berlin nicht Soldat werden muß. Im Westen hätte die Bundeswehr ihn eingezogen, wie alle gesunden jungen Männer.«
»Das ist ja verrückt!«
»Ja, ist es so verrückt?«
Lutter schweigt.
»Ich habe«, sagt Schuckert, »hier – wenn Sie den abgedroschenen Vergleich verzeihen – ein Spinnennetz vor mir. Ein sehr großes. Mein Beruf ist es, die Spinne zu fangen. Die sitzt im Zentrum des Netzes, alle Fäden führen zu ihr hin. Ich werde jeden Faden verfolgen. Ich werde das Zentrum erreichen. Ich werde die Wahrheit, die ganze Wahrheit finden.«
»Glück auf«, sagt Lutter. »Und ich werde nun also gleich verhaftet.«
»Herr Lutter, bitte, lassen Sie diese Späße.«
»Wieso?« verwundert sich der Sprecher in stillem Triumph. »Späße? Das war mein Ernst. Ich werde nicht verhaftet?«
Schuckert seufzt wieder.
»Sehen Sie, das haben Sie vom jahrzehntelangen intimen Umgang mit Ihrer treulosen Geliebten. Drüben wären Sie bereits im Kittchen. Auf alle Fälle. Ihre Frau auch.«
»Und hier?«
»Hier? Ich könnte nie einen Haftbefehl durchsetzen! Ich kann Ihnen doch nicht genug nachweisen.«
»Noch nicht«, sagt Lutter ironisch.
»Noch nicht. Verdunklungsgefahr? Keine Beweise. Sie geben ja alles zu. Fluchtgefahr? Ja, das ließe sich denken – gerade bei einem Mann in Ihrer Verfassung … entschuldigen Sie.«
»Bitte sehr.«
»Ich kann Sie nur ersuchen, Berlin bis auf weiteres nicht zu verlassen …«
»Ersuchen? Ach so … ja, ich verstehe!«
»Um so besser, Herr Lutter. Dann werden Sie auch verstehen, wenn ich Sie ersuche, mir Ihren Paß und Ihre Kennkarte in Verwahrung zu geben.«
»Ich habe nur die Kennkarte bei mir. Hier, bitte. Der Paß liegt daheim.«
»Ich weiß.«
»Wieso?«
»Einer meiner Leute war schon in der Bolivar-Allee und hat ihn geholt … Ihr Einverständnis vorausgesetzt. Auch Paß und Kennkarte Ihrer Frau.«
»Ach so.«
»Sie verstehen hoffentlich, daß das kein Terror und keine Schikane ist. Wir tun nur …«
»… Ihre Pflicht, ganz klar! Übrigens: Eine Tochter habe ich auch noch. Übersehen Sie die nicht!«
»Ihre Tochter Diana«, sagt Schuckert, nervös gemacht durch den Tonfall Lutters, »hat mit der Sache nicht das geringste zu tun. Sie ist von uns in all den Jahren ebenso beobachtet worden wie Ihre Frau und Sie. Zum Unterschied von dem herrlichen Paradies, an das Sie – auch ich tat es einmal – glauben, gibt es im Sündenpfuhl des dekadenten Westens keine Sippenhaft, wissen Sie.«
»Es lebe der Sündenpfuhl des dekadenten Westens«, sagt Lutter. Er meint es auch so.
Auf eine ganz bestimmte Weise allerdings.