Der schwarzhaarigen, blauäugigen Mitzi Szapek laufen dicke, runde Kindertränen über das bleiche Gesicht. In den blutleeren Händen hält sie einen bunten Strauß Blumen. Bruno hat ihn überreicht. Verlegen steht er neben dem Krankenbett. Hinter ihm stehen Jack Campbell, Jürgen Machon, Wachtmeister Scherr, der alte Professor, dessen Wirbelsäule so sehr durch Spondylosis gebeugt ist, zwei weitere Ärzte, die Oberschwester und die Stationsschwester. Sie alle sind mit Bruno zugleich ins Zimmer gekommen, eine kleine Invasion. Bei Geburtstagen in großen Familien lächeln viele Menschen einen einzelnen derart strahlend und liebevoll an.
Das ›Geburtstagskind‹ – soll heißen: die Mitzi Szapek – das weint also.
»Des is des erstemal in meinem Leben, daß mir einer Blumen schenkt«, verkündet sie schluchzend.
Brunos große Ohren werden wieder purpurfarben. Auf der Fahrt zur Klinik hat er Jack Campbell gebeten, bei dem U-Bahnhof Kottbusser Tor zu halten. Da saß nämlich eine Blumenfrau mit ihren Körben. Bruno erstand einen jener bunten Sträuße ordinärer Wald- und Wiesenblumen, die er besonders liebt. (Solche, wie auf Pastor Oslanskis Schreibtisch standen.) Anläßlich des Kaufes stellte Bruno fest, daß von seinen hundert Mark Friedland-Hilfe schon eine ganze Menge fehlte.
Aber das ist gleich, über den Sonntag kommt er, na, und am Montag wird mit Prangel geredet, hoho!
Daß die Mitzi im Westen war, traf Bruno, als er es erfuhr, wie ein Schlag und erfüllte ihn mit bösen Vorahnungen. (Glaube keiner, er hätte nicht gemerkt, wie seine Nelly ihn ansah!) Und jetzt weint diese unglückselige Mitzi auch noch. Wo Bruno Frauen doch nicht weinen sehen kann …
»Nu sei man stille«, bittet er. »Mitzi! Hörste denn nich? Ick wollte dir ’ne Freude machen!«
»Du hast mir ja a Freud gmacht«, schluchzt die Mitzi. »Grad drum muß i ja weinen! Entschuldigen die Herrschaften.« Sie fährt sich mit einer Hand über die Augen, würgt und schluckt.
»Is des schön, daß wir dich so schnell gefunden habn, mein Bruno!« Mein Bruno sagt sie. Ach, du liebes Bißchen. Das wird ja heiter werden. Verflucht, und alles sah aus, als wäre es pikobello in Ordnung.
Die Stationsschwester nimmt Mitzi den Strauß aus der Hand.
»Net!«
»Aber Fräulein Szapek! Schwester Gisela holt nur eine Vase, gleich haben Sie den Strauß wieder.«
Schwester Gisela übernimmt die Blumen und verschwindet, um eine Vase zu holen.
Mitzi fängt sich.
»Sie san so nett zu mir«, sagt sie mühsam. Alles, was sie sagt, sagt sie mühsam. »Komm her, Jürgen.«
Der Junge sieht zögernd Jack Campbell an.
Der nickt.
Jürgen tritt zu Mitzi.
»Näher«, sagt die. »Noch näher. Hab keine Angst, i beiß di net. So!« Sie hat Jürgen einen Kuß auf die Wange gegeben. »Weil du mir meinen Bruno gebracht hast!«
Meinen Bruno …
M! Mmmm! Mmmmmmm!
Der Bruno fühlt sich, um in seiner Ausdrucksweise zu bleiben, mächtig blümerant. Wie soll denn das nur weitergehen, wenn das so weitergeht?
»Und Ihnen, Herr, Herr …«
»Campbell«, sagt der junge Amerikaner und lächelt Mitzi an.
»Ihnen dank i auch von ganzem Herzen, Herr Kämpel. Und dem Herrn Inspektor. Und der Frau Oberschwester. Und dem Herrn Professor. Und überhaupt allen Ärzten und Schwestern. So gut, so gut sind sie zu mir! Setz dich, Bruno.«
Er setzt sich. Auf die äußerste Bettkante.
Mitzi greift nach seiner Hand und hält sie fest. Schweißfeucht ist die ihre, aber eisern der Griff. Er muß jetzt da sitzenbleiben, das weiß Bruno. Es ist so ziemlich alles, was er weiß.
Ajajaja!
Aus einer Scheiße raus, in die andere rein. Denn daß er mit der Mitzi noch viel Zores haben wird, das spürt er, benützen wir noch einmal seinen kraftvollen Sprachschatz, also das spürt er im Urin.
»Nun wollen wir Sie zehn Minuten mit Herrn Knolle allein lassen«, sagt der alte Professor. »Nicht laut reden, Fräulein Szapek, das haben Sie mir versprochen!«
Mitzi nickt.
Ärzte, Oberschwester, Campbell, Wachtmeister Scherr und Jürgen Machon marschieren aus dem Krankenzimmer. Ostentativ laut schließt der CIC-Agent die Tür hinter sich. Er hat sich bereits auf dem Gang umgesehen, als er zum erstenmal hier war. Neben Mitzis Zimmer liegt ein Waschraum. Den kennt Campbell auch schon. Wenn man da ein Ohr an die rechte Wand legt, kann man jedes Wort verstehen, das bei Mitzis Krankenbett gesprochen wird. Es ist eine dünne Wand, und das Bett steht direkt neben ihr.
Während Ärzte und Schwestern sich entfernen, nickt Campbell dem Jungen und dem zurückbleibenden Wachtmeister kurz zu. Der nickt gleichfalls und setzt sich mit Jürgen auf eine Bank, während Campbell in dem Waschraum verschwindet. Mal hören, was das Pärchen sich nun zu sagen hat …
»Gib mir an Bussi!« hat die Mitzi Szapek zunächst zu sagen.
Bruno gibt.
Sogar dieses Geräusch hört Campbell. Ziemlich flüchtiges Bussi, denkt er. Und weiter: Arme Teufel, die beiden, besonders er. Was da los ist, wird mir immer klarer, nachdem ich jetzt auch noch Knolles West-Freundin gesehen habe. Vielleicht ein Segen, daß mir die Zwillingsschwestern durch die Lappen gingen …
»Du, du!« sagt Mitzi.
Poor guy, denkt Campbell im Waschraum.
»Die Herren Ärzte ham ja nix erzählen wolln, damit i mich net aufreg«, spricht Mitzi, auf deren bleichen Wangen sich hektische rote Flecke gebildet haben, »aber die Schwester Gisela hats mir dann doch erzählt.«
»Wat hatse azählt?« (Der verdammte Trampel!)
»Was du gmacht hast! Wie tapfer du warst! Daß sie’s ununterbrochen melden im Radio! Wann i net so schwach wär, möcht i sagen: Komm ins Bett, Bruno. Sofort!«
»Wat?« fragt Bruno entgeistert.
Nanu! denkt Campbell entgeistert.
»I hab dich doch so lieb! Noch viel, viel mehr lieb!«
»Noch vielvielviel …«
Ich würde auch stottern, denkt Campbell und wischt sich Schweiß von der Stirn. Er fühlt mit Bruno. Wenn der sich jetzt nicht Schweiß von der Stirn wischt!
Bruno wischt sich den Schweiß von der Stirn, der da plötzlich in dicken Tropfen steht, und stottert weiter: »Det mußte doch bitte vastehn … ick konnte doch nich …«
»Sei stad«, sagt die Mitzi. »Hast mich denn net kapiert? Noch viel mehr lieb haben tu ich dich! Und warum? Weil ich dich jetzt auch noch bewundern kann und verehren!«
»Vaehrn …«
»Und wie! Was du gemacht hast, des macht dir so leicht keiner nach! An Orden verdienst du! A wos, so a Stückl Blech! A Belohnung, a richtige, große Belohnung verdienst!« Bruno zuckt zusammen. »Die hier im Westen müßten dir jetzt dein Beisel geben, nur gerecht wär des!« Wieder zuckt Bruno zusammen. Diesmal zuckt Campbell, im Waschraum, desgleichen. Er hat vor einem Jahr in Wien zu tun gehabt. Er weiß, was ein Beisel ist.
Bruno hat sich jetzt ein wenig erholt, wenigstens kann er wieder ordentlich sprechen: »Ach wat, Belohnung! Hätte doch jeda jemacht in meine Lage. Kann doch keena ’n Menschen entführn, wenna nich ’n Vabrecha is!«
»Gibt so viele Verbrecher auf der Welt heut«, sagt die Mitzi. »Red nix. I weiß Bescheid. Allein dieser Bräsig. Was is der doch für an Hundling. Dich erpreßt er. Mich sperrt er ins Puff. Leut laßt er entführen.«
»Der läßt nu keen mehr entführn, Mitzilein.«
»Weil du so mutig warst! Aber wenn des alles net passiert wär, i wär noch gstorbn in dem dreckigen Puff! Nie hätt der Bräsig mich rausglassen! Immer wieder hätt er mich vertröstet. Aber jetzt – jetzt bin i in der Freiheit. Au!«
»Mitzi!«
»Gar nix. I hab mi nur ungeschickt bewegt. Mach dir keine Sorgen. Bald hast mich wieder …«
Bald hast du mich wieder …
»Was du schwitzt! Die Hitzen, gelt! Zieh doch die Jacken aus!«
»Et jeht schon …« Bruno hält sich den Seehundsschädel mit beiden edel geformten Händen.
»Was hast?«
»Ick kann dir nicht bejreifen, Mitzi. Mir hamse apreßt, du sachst et selbe. Ick mußte so tun als ob. ’türlich wollte ich den Fanzelau nie entführn! Und nie zurück in ’n Osten! Ick wußte bloß nich jleich, wie ick det anfangen sollte. Denn wußte ick et. Aba mit dir konnte ich nie drüba redn, von Anfang an nich …«
»Des weiß i doch.«
»So hab ick mir aba schweinisch benommen jejen dir, Mitzi!«
»Schweinisch? Bist teppert? Du hast dich so leiwand benommen wie noch ka anderer Mann, seit i denken kann!«
»Leiwand?«
»Ja, so klass!«
»Klass?«
»So prima – verstehst jetzt endlich?«
»Nee.«
»Immer noch net? Prima, des Wort mußt doch kennen!«
»’türlich kenn ick det Wort. Aba wieso prima benomm? Ick wäre doch nie zurückjekomm zu dir! Allet wat ick dir vorjeflunkat habe in diesen Zusammenhang, det war doch jelogen! Und sowat liebste nu noch mehr, wo dir det klar is?«
»Und so was lieb i jetzt noch mehr, jawohl! Denn warum? Wannst net zurückgekommen wärst – einmal hätte ich erfahren, weshalb. Bis dahin wär i traurig gwesen, freilich, aber dann, dann hätt i mir gsagt: Einen großen, einen wirklich großen wunderbaren Menschen hast du kennengelernt in deinem Leben! Ich hätt’ dich genauso noch mehr geliebt, auch wenn wir uns nie wiedergsehn hätten! Nur dich! Bis zum Tod …«
Oooohhhh!
Im Waschraum entzündet Jack Campbell mit fahrigen Bewegungen seine Pfeife. Grauenhaft, denkt er.
»Des kannst net verstehen, gelt?«
»Nee …«
»Weil ihr Männer uns Frauen eben nie wirklich versteht. Ihr denkts immer nur an den Unterleib. Für uns Frauen is des Wichtigste, daß wir die Gescheitheit von einem Mann lieben können oder seine Anständigkeit oder seinen Mut.« Mitzi spricht schneller. »Glaubst, i hab net gmerkt, in was für einer schrecklichen Verfassung du drüben gewesen bist? Wie du dich herumgequält hast, weil du mir nix hast sagen dürfen, weil du mich hast anlügen müssen?«
»Ick mußte wirklich, Mitzi …«
»Des sag i doch. Laß mi reden. Gleich, wie du weg bist, da hab i angfangen zum Grübeln. Mein Bruno tut nix Unrechtes, nix Gemeines. Und es kann nur was Gemeines, was Unrechtes sein, was der Bräsig von ihm verlangt. Wer weiß, was dem Bruno passiert. Net, weil er schlecht is, na, weil er so gut is!« Mitzi strahlt Bruno an. »Aber jetzt is alles gut! Wie a Wunder kommts mir vor … daß dir nix passiert is … daß i hier bin …«
»Wieso …« Bruno muß sich räuspern. »Wieso biste denn hier … ick meine … in ’n Westen?«
»Weil i geflüchtet bin.«
Bruno muß die Augen kurz schließen. »Nich doch! Warum biste jeflüchtet? Wieso haste flüchten könn?«
»Weil die heilige Beatrix mi beschützt hat.«
»Die heilige – Mitzi!«
»Im Ernst! Ohne die heilige Beatrix …«
»Mitzi, bitte! Azähle, wat drüm passiert is … du bist doch nich einfach so jetürmt, aus Jux!«
»Na, des net.«
»Wollteste ma nach?«
»I hätt schon wollen – aber getraut hätt i mi nie! Dann hab i müssen.«
»Müssen?«
»Am Samstag bin i in meiner Angst und Sorg um dich rausgfahren zum Tierschutzheim von Herrn Doktor Sylt …«
»Wat for’n Tierschutzheim?«
»Na, wo der Jürgen herkommt!«
»Ach so.«
»Und denk dir, was i da erlebt hab …«
Die Mitzi berichtet, was sie da erlebt hat. Sie schließt: »Hätt i nach all dem noch zurück in die Gotlindestraße können? Da waret i doch sofort gschnappt wordn.«
»Sofort«, murmelt Bruno abwesend.
»Also hab i mich versteckt, bis es finster wordn ist, und dann bin i durch die Spree gschwommen. Ham hinter mir hergschossen – aber des is alles unwichtig. Wichtig is nur, daß wir zwei wieder zusammen sind, gelt?«
»Ja«, sagt Bruno und räuspert sich krampfhaft, »bloß det is wichtich.«
»Kaum, daß i aus der Narkose aufgewacht bin, hab i denken müssen: Wenn dem Bruno was zugstoßen is? Auf dem Weg herüber? Oder hier? Wenn die ihn wieder zurückgeschleppt ham? Dann bin i jetzt da, und er is drüben …« Mitzi beginnt von neuem zu schluchzen. »Das Herz hats mir abdruckt, die Nachdenkerei, ganz elend bin i wordn … I hab doch net gwußt, wo i dich erreichen kann, wenn du noch im Westen bist … Du hast den Jürgen net kennt … er dich schon … Und da hat der Herr Inspektor dann den Jürgen gholt … und der Jürgen und der nette Ami dich …«
»Ick vastehe.« Bruno produziert ein verzerrtes Grinsen. »Un nu haste mir also wiedajefundn.«
»Nur, weil sie mich beschützt hat und dich, die heilige Beatrix! Hast das Ketterl auch immer tragn?«
»Imma.«
»Zeigs amal her, bitte.«
»Jerade im Moment hab ick et nich um.«
»Wieso net?«
»Siehste, da sind doch noch so ville Vahöre jetz. Wie ick erfahren habe, det du in ’n Westen bist, hat mir jerade der amerikansche Jeheimdienst vahört.«
Also er besitzt das Kettchen nicht mehr, denkt Campbell nebenan. Seine Freundin Nelly wird es ihm abgenommen haben. What a situation! Ein Glück, daß der Knolle so flink lügt.
Brunos Stimme: »Darum hat der nette Ami ja ooch jewußt, wo ick zu finden war, nüch?«
»Ah so!«
»Ick mußte erst mal allet, wat in meine Taschen war und wat ick an ’n Körper hatte, abjebn«, flunkert Bruno weiter.
»Des Ketterl is also jetzt bei die Amis?«
»Ja.«
»Aber sie gebens dir zurück!«
»Klar.« (Scheiße, gequirlte! Nelly und mir das Kettchen zurückgeben! Das möchte ich erleben. Wie kriege ich es wieder? Wie bloß?) Wie bekommt Bruno Knolle das Kettchen wieder? überlegt Jack Campbell angestrengt.
»Wann kriegst es denn?«
»Heute … morjen … ick weiß nich … im Moment jeht noch allet drunta und drüba … Vahöre hier, Vahöre da, keene ruje Minute … dauernd werde ick rumjefahren …«
»Und wo wirst wohnen?«
Campbell fällt die Pfeife aus dem Mund. Er fängt sie gerade noch auf. »Weeß ick nich, Mitzi. Oda doch: In’t Laga Marienfelde erst mal, wie alle andan Flüchtlinge ooch. Werden keene Ausnahme machn mit mir.«
Campbell steckt die Pfeife wieder in den Mund.
»Du, Bruno …«
»Ja, Mitzi?«
»Die Frau, der i so ähnlich seh, du weißt schon …«
»Ja. Wat is mit die?«
»Des wollt i grad dich fragen. Hast nix gehört von ihr?«
Na ja, denkt Bruno, immer munter weiter.
»Jehört? Icke? Keen Wort.«
»Is sie net in Berlin, die Nelly?«
»Nelly? Woher kennste denn den Namen?«
»Na, weißt nimmermehr, wie du sie verwechselt hast in der ersten Nacht mit mir? Und Nelly gsagt hast statt Mitzi?«
»Nee. Hab ick det jesacht?« fragt Bruno, der sich genau erinnert. Kinder, Kinder, den Namen kennt die Mitzi also auch bereits. Ein Gedächtnis haben diese Weiber! »Wenn ick et jesacht habe, denn bloß, weil du ihr eben so ähnelst. Wat denn? Ähnelst? So wie du heute aussiehst, so sah Nelly vor zwanzich Jahre aus!« (Skrupellos schlägt Bruno noch ein paar Jährlein drauf.) »Die ist doch doppelt so alt wie du! Die ha’ick seit Jahren nich mehr jesehn.«
»Seit wieviel Jahren?«
»Herrjott, wat soll denn det nu wieda?«
»I frag ja bloß …«
»Na, mindestens Stücka sechs, siem Jahre«, antwortet Bruno, der seine Nelly zuletzt vor etwa einer Stunde gesehen hat. »Die is doch in de Bundesrepublik abjehaun!«
»Des hast du mir auch nie gsagt!«
»Nee? Nich? Ja, so isset aba. Is vor ’ne Ewichkeit abjehaun. Keene Ahnung, wohin oder zu wem.«
»Wie schön«, sagt die Mitzi und lächelt selig.
Ich bin ein Schwein, denkt Bruno. Ich müßte Mitzi die Wahrheit sagen. Jetzt gleich. Die ganze Wahrheit. Aber das kann ich doch nicht, wo sie noch so schwach und krank ist, das wäre doch auch eine Gemeinheit! Wer weiß, was für Folgen das hätte, wenn die Mitzi sich aufregt? In Lebensgefahr könnte ich sie bringen, vielleicht sogar schuld sein an ihrem Tod. Nein, nein, nein, also vorläufig darf ich ihr die Wahrheit keinesfalls sagen! Später. Später natürlich. Und ich bin also kein Schwein, sondern ein guter Mensch, der Mitzis Bestes im Auge hat – und selbst in einem üblen Schlamassel steckt, in einem ganz üblen.
Ich, überlegt Jack Campbell nebenan, würde ganz genauso reden. Was kann der arme Kerl denn sonst tun?
Jack Campbell stammt aus Boston. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt. Seine Eltern sind tot. Nach Beendigung des High-School-Studiums kam Campbell zur Army. Wehrdienst ableisten.
Campbell ist ein sensibler Mann. Mädchen gegenüber gibt er sich betont forsch, weil er schüchtern ist. Geld haben seine Eltern ihm nicht hinterlassen. Campbell möchte Schriftsteller werden. Über unsere Zeit möchte er schreiben, über die Menschen von heute. Seinen ersten Roman haben acht Verleger abgelehnt, seinen zweiten elf. Ein paar Kurzgeschichten hat er in Magazinen und Zeitungen untergebracht. Er ist nicht entmutigt. Er hat es geschafft, von der Army zum CIC zu kommen, denn er wußte, daß sie ihn da in der Welt herumschicken würden, in der großen, weiten Welt, über die er schreiben wollte und die er, weil er arm war, nie auf andere Weise hätte kennenlernen können. So blieb er beim CIC.
Ein Jahr noch, dann will er heim. Und seinen dritten Roman schreiben. Über alles, was er erlebt hat. Nun kennt er die Welt! Auch mit den Menschen kennt er sich ein wenig aus.
Mr. Snowden kennt sich ganz ausgezeichnet mit den Menschen aus, und wenn er der Ansicht ist, daß man hier gerade einer größeren Geschichte als einer bloßen Entführung auf die Spur gekommen ist, hat er sicherlich recht. Und es ist auch richtig, daß er Bruno Knolle von Campbell beobachten läßt. Aber Campbell, in dem kleinen Waschraum, ist nun felsenfest überzeugt: Dieser Knolle hat alles erzählt, was es zu erzählen gab, und welche Leute immer teilhaben an dieser ›Größeren Geschichte‹ – Bruno Knolle gehört nicht dazu. »Natürlich hab i noch immer Angst«, hört der Agent nebenan die Mitzi sagen.
»Angst? Jetz? Bist doch schon uff’n besten Weech der Jenesung, Meechen!«
»Ja, eben.«
»Wieso eben?«
»Schau, du weißt doch: I hab bloß an Nansenpaß. Überall werd i ausgwiesen.«
»Hier nich.«
»Glaubst net?«
»Janz sicha nich. Du bist ’n politischa Flüchtling, wie er in ’t Buch steht. Du mußtest rüba!«
»Ja, des sagst du!«
»Det werdn die in ’t Laga janz jenauso sagen.«
Die kleine Wienerin lacht glücklich.
»Da, wo du jetzt auch hinkommst?«
Allmächtiger!
»Ja, Mitzi. Laga Marienfelde.«
»Du! Da sind wir dann ja zusammen!« Mitzi seufzt. »Das heißt«, fährt sie traurig fort, »zuerst muß ich noch hier bleiben.«
»Klar. Bisde jesund bist.«
»Der Herr Professor hat was von drei oder vier Wochen gsagt …« Bruno fällt ein Stein vom Herzen. Drei oder vier Wochen – da muß er mit Nelly seine Kneipe in München haben oder jedenfalls hier verschwunden sein. Muß, muß, muß! Wird, wird, wird!
Niemand, schrieben wir, soll den Bruno schlechter sehen, als er ist. Und niemand soll ihn besser sehen!
Er ist ein Mann, der Bruno, ein durchschnittlicher, normaler Mann. Mehr wäre nicht zu sagen.
»Wat machste denn for’n Jesichte?«
»Drei oder vier Wochen noch hier, ohne dich – des halt i net aus!«
»Aba … aba … aba, Mitzi, ick komm dir doch besuchn!«
»Bitte, bitte! Und i kann dich ja auch anrufen im Lager, net?«
»Nee, anrufn is vabotn. So ville Leute, weeßte. Die könn nich jeden imma wieda suchn un rufn.«
Campbell atmet richtig auf. Dieses Problem hätte Bruno also auch gemeistert! Für den Moment. Alles für den Moment …
»Aba besuchn komm ick dir, det vasprech ick!«
»Wann?«
»Ja, uff de Stunde kann ick det nich sagen … bei all die Vahöre …«
»Freilich net. Aber wie oft?«
»So oft et jeht …«
»Vielleicht gehts jeden Tag?«
»Hm … ja … ick denke …«
Du willst doch einen neuen Roman schreiben, wenn du heimkommst, sagt Jack Campbell nebenan zu sich selbst. Wenn du diese Geschichte nicht aufschreibst, ist dir nicht zu helfen!
Er hört, wie sich die Tür des Krankenzimmers öffnet, danach die Stimme von Schwester Gisela: »So, da sind Ihre Blumen, Fräulein Szapek!«
»I dank Ihnen schön, liebe Schwester, i dank Ihnen schön!«
»Nichts zu danken. Tut mir leid: Der Herr Professor läßt sagen, Sie müssen gehen, Herr Knolle … im Interesse von Fräulein Szapek. Sie ist noch sehr schwach.«
»Ick jehe schon, Schwesta …«
Na, ein bißchen weniger hastig hätte er das auch sagen können, denkt Campbell.
»Und wann kommst morgen?«
»Hm, die Besuchszeiten hier …«
»Fräulein Szapek liegt ja in einem Einzelzimmer«, sagt Schwester Gisela. »Sie können kommen, wann es Ihnen möglich ist. Nur nicht zwischen 12 und 3 oder nach 8 Uhr abends.«
»Hab ich a Glück! A Einzelzimmer! Bruno! Des is alles die heilige Beatrix! I hab überhaupt nix zu tun. I wach in der Früh auf und freu mich drauf, daß du kommst … den ganzen Tag wart i auf dich.«
»Is jut, Mitzi. Also denn bis morjen.«
Ein Geräusch. Offenbar hat Bruno sich entschlossen, die Kleine zum Abschied zu küssen, denkt Campbell. An der Grundsituation ändert das leider überhaupt nichts. Der Agent öffnet die Tür des Waschraums und tritt knapp vor Bruno auf den Gang, wo Wachtmeister Scherr sich mit Jürgen unterhält. Indessen sagt Mitzi noch mit erstickter Stimme: »Bruno … mein lieber, lieber Bruno! Weißt, daß des der glücklichste Tag in meinem Leben is? In meinem ganzen Leben!«