Campbell fährt vom Krankenhaus zurück zur Meinekestraße. Neben ihm hockt in dem offenen Chevrolet der kleine Jürgen Machon. Er hat darum gebeten, vorne sitzen zu dürfen.
(»Wegen meiner Happy. Sie verträgt keinen Zug.«)
Vorgeneigt hockt Jürgen da, mit dem Oberkörper verdeckt er die Tragtasche, in der sich die gelähmte Schildkröte befindet.
Bruno, im Fond, blinzelt unter der prallen Sonne, schwitzt und fühlt sich, als hätte er drei Tage und drei Nächte durchgesoffen und durchgehurt und wäre zum Abschluß noch ordentlich vertrimmt worden.
Verflucht, denkt er. Ich kriege es aber auch dicke! Erst die Schweinerei mit den Namen. Ganz Berlin, ganz Deutschland, die ganze Welt wird spätestens morgen wissen, was Herr Bruno Knolle und Herr Oskar Knargenstein getan haben. Schön, ist zu überleben. Hat aber schon zur Folge, daß man nach München übersiedeln muß. Nelly will, Wanda will nicht. Und nun taucht Mitzi auf!
Bruno hat immer noch deutlich den Gesichtsausdruck seiner Nelly vor Augen, diesen Gesichtsausdruck, als er sie verließ, um in die Klinik zu fahren. Wenn es da nun neuen Stunk gibt …
Natürlich könnte man die Mitzi einfach ihrem Schicksal überlassen und sich einen Dreck um sie kümmern und nicht mehr wissen, wer sie ist.
Könnte man. Bruno kann es nicht. Leider. Ihm wäre wohler, wenn er es könnte. Aber so einer ist er eben auch nicht, der Bruno! Arme Mitzi. Durch ihn kam sie in diese Misere rein. Jetzt liegt sie da, angeschossen, hilflos, ohne Freund. Er hat sie nie geliebt, er wird sie nie lieben. Lieben wird er immer nur Nelly! Aber helfen, helfen muß er Mitzi jetzt doch, nicht? Sich um sie kümmern. Das versteht doch jeder. Ja? Wirklich? Nelly zum Beispiel – wird die es verstehen?
Bruno flucht. Kurz, laut und kräftig.
Er sieht, daß Campbell ihn im Rückspiegel beobachtet. Als der Wagen vor dem Haus in der Meinekestraße hält, sagt der Amerikaner zu Jürgen: »Bleib sitzen, wir kommen gleich wieder. Ich fahre dann mit dir zurück ins Lager.« Vor Bruno betritt er den Hausflur. Hier bleibt er stehen.
»Hören Sie, Herr Knolle, ich will Ihnen von jetzt an helfen, wo ich kann. Sie müssen verdammt aufpassen. Zwei Damen auf einmal sind immer so eine Sache.«
»Sie wolln mir …« Bruno ist gerührt. »’n juta Mensch sind Sie!«
»Bull-shit! Unterspielen Sie dieses Fräulein Szapek nicht zu sehr. Sprechen Sie von ihr wie von einem armen Menschen, der in Not geraten ist. Ihre Freundin wußte ja von Anfang an, daß Sie das Mädchen kannten, das haben Sie ihr doch gleich erzählt, nicht wahr?«
»Ja …«
»Gut. Dann kommen Sie jetzt.«
Nelly Pietsch ist allein. Sie hat sich angezogen – einen leichten, luftigen Hausanzug –, geschminkt und sorgfältig gekämmt. Sie macht einen ruhigen und sanften Eindruck, als sie Bruno und Campbell in die Wohnung führt.
»Nanu, wo sind denn Wanda und Knarje?«
»Ach, du weißt doch: Die haben schon miteinander gestritten, bevor du weggefahren bist, nicht wahr?« Nelly lächelt Bruno honigsüß, Campbell damenhaft an. »Danach ist es immer schlimmer geworden. Ich kann so etwas auf den Tod nicht ausstehen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten ihre Auseinandersetzung … Ich meine: So etwas kommt ja vor, bei den glücklichsten Paaren kommt so etwas vor, Mr. Campbell …«
»Oh, ganz gewiß, Fräulein Pietsch.«
»Nun ja, sie sollten diese Szene vielleicht zu Ende spielen, wenn sie allein wären, sagte ich. Daraufhin sind sie verschwunden.«
»Püh, beleidicht, wa?«
»Püh, beleidigt und weiterstreitend«, erwidert Nelly, à la Grande Dame.
»Worum ging denn der Streit?« erkundigt sich Campbell harmlos, doch ehe Nelly antworten kann, sagt Bruno schon: »Och, so ’ne dämliche Klafterei wejen woanders hinziehn.«
»Woanders hinziehen?«
»Na ja, wech von Berlin. War die Rede davon, ehe Sie jekomm sind. Er wollte, sie nich.«
»In spätestens zwei Stunden wird sie auch wollen«, sagt Nelly sonnig. »Nun aber zu dir: Wie geht es dem armen Ding, Bruno?«
»Dem …« Er glotzt.
»Deiner Bekannten!«
»Ach so, die. Tja, Nelliken, nich besondas. Leida. Janich besondas. Darum wollte sie mir ja ooch sehn. Bloß sehn. Hat doch keen Menschen hier. Und solche Schmerzen.«
»Und war sie glücklich über deinen Besuch?«
»Mächtich! Det hat ihr richtich jutjetan. Die Ärzte meinen ooch, ick hab ihr jeholfn. Seelisch, vastehste.«
»Natürlich verstehe ich. Und ich bin sicher, du hast ihr sehr geholfen.« Nellys Stimme wird noch sanfter. »Ich nehme an, sie mußte flüchten, weil sie dir zur Flucht verholfen hat.«
»So isset.«
»Dann muß ich ihr ja von ganzem Herzen dankbar sein. Ohne sie hätte ich dich vielleicht nie wiederbekommen. Ich werde sie auch besuchen …«
»Im Moment isse noch sehr, sehr schwach.«
»Später natürlich. Wenn es ihr gut geht. Und mich bedanken bei ihr.«
»Ja, det mach man. Det wirdse besondas afreun.« Manchmal hat der Bruno Vergnügen an grimmigen kleinen Privatspäßen. »Ick azähle dir die janze Schose ausführlich, wenn ick wiedakomme.«
»Du fährst noch einmal weg?«
»Zu Luttas. Meine Sachen holn.«
Den Rat, dies zu sagen, hat Campbell dem Bruno im Stiegenhaus gegeben. Es war ein ausgezeichneter Rat. Nellys Augen leuchten.
»Du ziehst zu mir?«
»Uff de Stelle!«
»Ich denke, es ist das beste, Fräulein Pietsch. Nun, wo alles vorüber ist.« Campbell sagt das ohne besondere Betonung. Auch seine Worte haben die erwünschte Wirkung. Nellys Augen leuchten noch mehr.
»Ach, freue ich mich, Bruno! Möchten Sie einen Drink, Mr. Campbell?«
»Nein, danke …«
»Nur ein Glas? Eine Zigarette?«
»Wirklich, vielen Dank. Ich bringe Herrn Knolle in die Bolivar-Allee. Dann muß ich zurück nach Marienfelde. Unten im Wagen wartet der Junge.«
»Ach so. Natürlich. Schrecklich, und der Kleinen geht es so schlecht! Du mußt sie morgen wieder besuchen, Bruno. Blumen mitnehmen. Damit sie sich nicht so verlassen und verloren vorkommt.«
»Meinste?«
»Na hör mal! Das ist doch wohl selbstverständlich! Ich hätte eine sehr schlechte Meinung von dir, wenn du dich jetzt nicht um Fräulein Szapek kümmern würdest.«
»Hm. Na ja. Na jut«, murmelt der Bruno.
»Wann kommst du zurück?«
»Is ziemlich weit draußn, wo Luttas wohn. Packen muß ick ooch noch. Adschö sagen. Wird ’n Weilchen dauan. Ick denke, so in een, zwee Stunden bin ick wieda da. In zwee Stunden bestimmt.«
»Fein. Dann koche ich inzwischen etwas Gutes … und wir machen uns einen schicken Nachmittag!« Nelly verabschiedet die beiden Männer.
Auf der Straße sagt Campbell: »Na?«
»Meinse, det war allet echt?«
»Es sieht so aus, nicht? Sicher kann man natürlich nie sein. Ich schon gar nicht. Ich kenne Fräulein Pietsch nicht. Wenn jemand sie kennt, dann Sie.«
»Det is richtich«, meint Bruno, in den Wagen steigend, »ick müßte ihr wirklich kenn. Aber kenne ick ihr wirklich? Kennt een Mensch eenen andan Menschen wirklich uff de janze jroße Welt?«
»Diese Frage«, sagt Campbell und startet den Motor, »haben schon viele erleuchtete Geister vor Ihnen gestellt, Herr Knolle.«