12

In gleißendem Sonnenlicht liegt das schöne Haus Bolivar-Allee 170, vor dem der CIC-Agent den Bruno dann absetzt.

»Alles Gute. Sie erreichen mich immer über das Hauptquartier, Herr Knolle.«

»Danke, Herr Kempell. Sie warn prima! Adschö, Jürjen.«

»Auf Wiederschauen, Herr Knolle«, sagt der Junge ernst.

Der große Wagen fährt wieder los. Bruno läutet am Gartentor. Er muß eine Weile warten. Aus der Villa ertönt Jazzmusik. Dann öffnet sich die Haustür, und Lutters Tochter Diana erscheint. Wieder in Blue-Jeans, wieder in einer bunten, dünnen Bluse. Ist das eine dufte Biene! denkt Bruno. Dieses kastanienbraune Haar, diese braunen, schräggeschnittenen Augen und diese Kurven, mein lieber Mann, diese Kurven! Wenn Diana in Wien auf dem Babystrich liefe, von dem Mitzi mir erzählt hat, könnten die anderen Gören stempeln gehen …

Reiß dich gefälligst zusammen, Bruno, ja?

Der Mann mit der mächtigen Gestalt und dem kleinen Kugelkopf verneigt sich und beweist feine Erziehung: »Einen recht schönen guten Tag, Fräulein Diana.«

»Hallo, Herr Knolle.« Sie öffnet das Gartentor. »Kommen Sie rein.«

»Ich will nicht stören … ich … ich …« Weil er zu lange auf die Bluse gesehen hat, kann er plötzlich wieder nur stottern, der Bruno.

»Ja?« fragt Diana, mit vollendeter Unschuld.

»Ich habe jetzt eine Wohnung«, spricht Bruno auf die feine Tour, »und möchte deshalb meine Sachen holen und mich bei Ihnen und Ihren Eltern verabschieden und für alles bedanken und …«

»Meine Eltern sind nicht da. Vati hatte Spätdienst im Sender. Dann kam das tolle Ding mit Ihnen, und er mußte Überstunden machen. Vati rief an und bat Mutti, ihm einen Rasierapparat, Wäsche und einen anderen Anzug zu bringen. Er hatte nämlich in seinem Zeug geschlafen, wissen Sie. Und er ist so penibel.«

»Aha.«

»Die beiden müssen aber jeden Moment zurückkommen. Mutti ist schon vor einer Stunde weggefahren.«

»Na, denn gehe ich ein bißchen spazieren und komme später …«

»Was heißt denn das? Wollen Sie wieder weg?«

»Na, Sie haben doch Gäste!«

»Paar Freunde.« Diana zieht Bruno in den Garten hinein. »Endlich kann ich Sie präsentieren! Die wollen Sie doch alle kennenlernen – gerade nach dieser Nacht!«

»Ich weiß wirklich nicht …«

»Unsinn.« Diana zerrt Bruno zur Villa. »Inge kümmert sich inzwischen um Ihre Sachen …«

Das stille Dienstmädchen ist im Innern des Hauses sichtbar geworden. Sie begrüßt Bruno ernst.

»Er verläßt uns, Inge.«

»Ach, das tut mir aber leid …«

Bruno fühlt sich ungemütlich.

»Ja, ich habe eine Bleibe in der Stadt gefunden …«

»Packen Sie also Herrn Knolles Sachen zusammen, Inge, bitte? Er wartet noch auf meine Eltern.«

»Ist recht, Fräulein Diana.« Inge verschwindet.

Weiter zieht Diana ihren Fang. Jetzt betrachtet Bruno – er fühlt sich benommen, immerhin hat er allerhand erlebt an diesem Vormittag, einiges getrunken und eine recht bewegte Nacht hinter sich – Dianas Hintern. Junge, ein Prachtpopo ist das! Zum Hineinbeißen. Da könnte man wirklich …

Bruno!

Er schüttelt sich richtig, um seine sündhaften Gedanken zu verscheuchen. Diana führt ihn in ihr Zimmer. Da sitzen zwei Jungen und ein Mädchen. Alle sind leger, um nicht zu sagen schlampig angezogen, die Jungen tragen das Haar kurz geschnitten, einer mit Fransen in die Stirn. Das Mädchen ist so schön wie Diana.

Phantastisch, denkt Bruno. Ein halbes Jahrhundert lang sahen die meisten deutschen Weiber aus wie Mulleken Doof, und auf einmal ist eine aufregender als die andere. Wie kommt das bloß? Wem haben wir das zu verdanken? Unserm Führer Adolf Hitler, Sieg Heil! Dem haben wir ja auch die Autobahnen zu danken. Und das Wirtschaftswunder. Das Wunder der Verwandlung der deutschen Frau hat Adolf auf dem Umweg über die Besatzer fertiggebracht. Damit kam der internationale Pfiff in die Mütter. Und in die Töchter. Nicht auszudenken, wie es um uns stünde, wenn wir den Krieg gewonnen hätten …

Die Jungen und das Mädchen haben sich bei Brunos Eintritt erhoben. »Das ist er«, sagt Diana bloß.

Danach schüttelt Bruno Hände, und Lutters Tochter stellt vor: »Das ist Vicky, das ist Jet, das ist Ronny.«

»Anjenehm«, murmelt Bruno. Das Zimmer ist supermodern eingerichtet. An den Wänden kleben die Fotografien von Filmstars und Schriftstellern, Landkarten, Etiketten von Whiskymarken (davon gibt’s ja wohl reichlich in diesem Hause, denkt Bruno) und zwei große Rötelzeichnungen, die sind so meschugge, daß Bruno überhaupt keinen Schimmer hat, was sie darstellen sollen. Auf dem Fußboden steht ein Plattenspieler, der Musik produziert.

»Floyd Cramer«, sagt der Junge, der Jet (was ist das bloß für ein Name?) heißt. »Prima Pianist, finden Sie nicht?«

»Ich … hm … ja … prima …«

»Nun dreh das Ding aber mal ab, sonst kann man sich nicht unterhalten«, sagt die blonde Vicky.

Der Plattenspieler wird abgestellt.

»Nehmen Sie Platz, Herr Knolle«, sagt Diana, während sich schon alle anderen auf den Boden setzen. Also setzt sich Bruno auch auf den Boden.

Pause.

Unter den prüfenden Blicken von vier Augenpaaren fühlt Bruno, wie seine Ohren zu brennen beginnen.

Wenn da nicht bald einer zu reden anfängt …

Der Junge, welcher Ronny heißt (der mit den Haarfransen in der Stirn), fängt an: »Na ja. Sache liegt klar. Herr Knolle will nicht über seine Erlebnisse sprechen. Kann ich völlig verstehen.«

»Ich auch«, sagt Jet.

»Schade«, sagt Vicky.

»Ach was, schade!« Ronny lacht kurz. »Ging doch nur um Politik bei der ganzen Sache! Und über Politik sind wir uns doch wohl einig. Was ich wollte, das war, Herrn Knolle, den Menschen, einmal sehen. Der interessierte mich.«

»Nun siehst du ihn ja«, mault Vicky.

»Und das genügt mir«, erklärt Ronny. »Ich denke, es sollte uns allen genügen. Unterhalten wir uns normal mit Herrn Knolle. Wie mit einem von uns. Denn daß er drüben abgehauen ist, zeigt doch, daß auch er die Nase voll hat von Politik, nicht?«

»Det kann man wohl sagen!« Bruno lächelt Ronny dankbar zu. »Bis hierher geht mir diese … pardong.« Er hat die flache Hand zur Kehle gehoben.

»Diese Scheißpolitik, sprechen Sie sich ruhig aus«, meint Jet. »Wir sind nicht empfindlich. Politik ist nun mal Scheiße.«

Etwas Geheimnisvolles liegt in diesem letzten Wort des vorigen Satzes. Dieses Wort wirkt Wunder: Es löst jede Spannung, bringt jedes Gespräch in Gang, erleichtert und befreit.

Bruno, der gefürchtet hatte, am meisten reden zu müssen, muß am wenigsten reden. Es ist, als sei ein Damm gebrochen. Die jungen Leute machen sich Luft – ordentlich!

»Politik«, sagt Jet, »wenn ich das schon höre! Wir trauen keiner Politik, keinem Politiker mehr! Haben bei Gott genug Unheil angerichtet in der Vergangenheit, die Kerle!«

»Überhaupt die Erwachsenen«, sagt Vicky.

»Wat is mit denen?« fragt Bruno. (Warten muß er nun doch auf Franz und Renate. Wann hat man schon einmal Gelegenheit, Ansichten junger Leute aus erster Hand kennenzulernen?)

»Was ist mit unseren Eltern, ha?« Vicky sieht Ronny und Jet an. »Große Töne spucken, das können sie. Weise Ratschläge erteilen. Uns Halbstarke nennen, jugendliche Verbrecher.«

»Und dabei sind sie so strahlende Vorbilder«, sagt Jet. »Aber das wollen wir in unserer Verbohrtheit nicht einsehen. Ich war zum Beispiel vorigen Sommer in England. Werkstudent. Die Leute, bei denen ich wohnte, haben einen Sohn, Johnny heißt er, neunzehn ist er. Was, Herr Knolle, glauben Sie, macht Johnny gerade?«

»Keine Ahnung.«

»Sitzt auf Malaysia. Wenn er noch lebt. Vorige Woche lebte er noch, denn da schrieb er mir einen Brief …«

»Malaysia …«, beginnt Bruno, aber Jet ist so in Fahrt, daß Bruno sogleich, ohne fragen zu müssen, erfährt, was das ist, Malaysia.

»… über die Kämpfe mit den Partisanen aus Indonesien, die immer wieder auf die Malaiische Halbinsel rüberkommen. Die schießen nun die Einwohner tot, oder seine Freunde, oder seine Freunde schießen sie tot, wenn sie Glück haben, und er selber schießt wie ein Wilder, damit er möglichst lange nicht erschossen wird. Die Army hat ihm eine feine Maschinenpistole gegeben und ihn da runtergeflogen. Andere Freunde von ihm hocken auf Zypern. Oder sonstwo. Schießen müssen sie alle. Befehl unserer strahlenden Vorbilder, der Erwachsenen. Wer sind denn nun die Verbrecher, bitte? Mein Alter, der schwingt auch noch große Reden über Freiheit und Menschenwürde und so. Hätte er die man lieber im Dritten Reich geschwungen. Da hat er schön die Schnauze gehalten. Richter ist er gewesen. Richter ist er geblieben. Möchte nicht hören, wie er damals gerichtet hat.«

»Na …«, beginnt Bruno schwach.

»Ich weiß, wovon ich rede, Herr Knolle! Wir wissen es alle! Wir haben unsere Erfahrungen! Oder nicht?« Jet sieht sich um.

Die anderen nicken.

»Ich sage Ihnen, Herr Knolle: Ein einziges verlogenes Pack, unsere Alten! Ich reagiere auf meine Weise. Jeder auf seine natürlich.«

»Wie reajirn denn Sie?«

»Vater ignoriere ich überhaupt. Mutter strafe ich mit Verachtung.«

»Warum strafen Sie Ihre Mutter mit Verachtung?« fragt Bruno, diesmal vor Schreck hochdeutsch. Da tun sich ja Abgründe auf!

»Na, hören Sie mal! Die Frau ist mit meinem Alten seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet! War auch in der Partei! Hat alles miterlebt, was ihr Mann anstellte! Und sich nicht scheiden lassen! I wo! Ganz begeistert war sie, als Vater immer weiter befördert wurde. Vickys Alter war Wehrwirtschaftsführer. Hat ein Vermögen zusammengegaunert und zusammengeklaut. Als der Krieg aus war, wurde er fromm. Was glauben Sie, wie fromm!«

Vicky lacht. »Fromm ist schon gar kein Ausdruck mehr! Krankhaft, was der aufführt. Bei uns zu Hause gibt es regelmäßig Bibelabende. Da liest mein Alter aus der Heiligen Schrift vor. Anderen Erwachsenen. Ich haue dann ja immer ab.«

»Die Heilije Schrift ist doch …« fängt Bruno hilflos an.

»Was? Was ist die Heilige Schrift?« Das schöne Mädchen sieht ihn aggressiv an.

»Ick … ick weeß nich … na, wat Jroßet … Wat Scheenet … Trost kann man sich da holn und Rat …« Der Bruno denkt an den guten Pastor Oslanski in Ostberlin.

»Wer kann das, Herr Knolle?« fragt Vicky hitzig. »Wir Jungen nicht! Für uns ist die Bibel ohne jede Bedeutung!«

»Det sagense drüm ooch …«, murmelt Bruno. »Aber nich die Jungen, sondan die Erwachsnen.«

»Na, dann können die Erwachsenen drüben offenbar vernünftiger denken als hier! Schau mal einer an, hätte ich nicht gedacht.«

»Vanünftija denkn … wieso vanünftija?« erkundigt sich Bruno, verschreckt schnüffelnd.

»Herr Knolle, haben Sie schon mal etwas von der unbefleckten Empfängnis gehört?« ruft Vicky.

»Nee. Ja, doch – warum?«

»Und das schlucken Sie so einfach? Sind Sie verheiratet?«

»Nee …«

»Stellen Sie sich vor, Sie wären es. Und Ihre Frau käme plötzlich mit einem dicken Bauch an, und Sie wüßten, Sie können es nicht gewesen sein, und Ihre Frau sagt: Du warst es auch gar nicht, es war der Heilige Geist! Was würden Sie denn da erwidern?«

»Lieba Himmel, det is doch man bloß symbolisch!«

»Aha, bloß symbolisch. Das mit Adam, Eva, Kain und Abel, das ist also auch bloß symbolisch, ja?«

»Wieso … wat meinse damit, Frollein?«

»Gab doch nur eine Frau auf der Welt damals, nicht? Eva. Hatte zwei Söhne. Kain und Abel. Kain schlug Abel tot. Zeugte weiter Kinder – muß er doch wohl, sonst wären es ja bloß drei geblieben. Wer war denn Frau Kain? Kann doch nur seine Mutter gewesen sein. Mit der hat er es also getrieben. Feiner Sohn. Und von so was stammen wir alle ab.«

»Nee, wissense, nee …«

»Tja, anders geht’s aber nicht! Der Heilige Geist konnte nicht gut einen Mann schwängern – oder?«

»Det is … det is …«

»Was ist das, Herr Knolle?«

»Lästerung … Lästerung is det«, erwidert Bruno leise.

»Oje«, sagt Diana seufzend. »Ich hab’s kommen sehen. Bibel, Religion und Kirche sind wunde Punkte bei Vicky, Herr Knolle. Verzeihen Sie diese Temperamentsausbrüche. Sie will wirklich keine Blasphemien von sich geben! Tatsache ist aber leider: Die Kirche kann mit Wissenschaft und Technik nicht Schritt halten. Die Menschen sind heute derart überfordert, daß sie mehr denn je Halt und Rat brauchten. Deshalb müßte die Kirche sich dringendst den neuen Gegebenheiten anpassen. Was Vicky da zitiert, könnte man mit ein paar klugen Worten bedeutungslos machen angesichts der Größe dieses größten aller Bücher. Das weiß sie selber. Aber warum wird die Bibel nicht wirklich endlich up to date gebracht … damit sie nicht mehr diesen Volksschülerattacken ausgesetzt ist? Genügte doch ein wenig Streichen, Straffen, Ordnen, Richtigstellen von Daten, Auslassen von geistig gewiß noch so interessanten und hintergründigen Unmöglichkeiten, mit denen doch wohl ein ganz besonderer Zweck verfolgt wurde … und schon wäre alles okay. Und Vicky würde nicht unnötig mit aller Gewalt abgestoßen von Glaubensdingen. Ich kenne niemanden, der lieber glauben würde als gerade Vicky. Werde nicht rot, so ist es doch!«

Vicky lächelt schief. »Diana kennt mich genau, Herr Knolle. Geradezu glaubenssüchtig bin ich. Deshalb mein Amoklaufen gegen die Schrift. Lassen Sie mich noch ein wenig weiterlaufen? Auf harmloserem Gebiet, ja?«

»Ick kann Ihn’ doch nischt vabietn, Frollein …«

»Na, dann nehmen wir mal die Schöpfungsgeschichte. Adam lebte neunhundertdreißig Jahre …«

»Nein!« ruft Bruno entsetzt.

»Können Sie nachlesen. So steht es da. Die Menschen wurden damals alle so alt. Mit fünfhundert Jahren hatten sie ihre beste Zeit. Warfen Baby um Baby. Bis zur Sintflut. Sie wissen ja: Strafe für die große Sittenverderbnis. Da war Gott böse und sagte – ich kann es auswendig: ›Mein Geist soll nicht für die Dauer im Menschen bleiben, dieweilen auch er Fleisch ist. Seine Tage sollen nur noch einhundertzwanzig Jahre sein.‹ Immer noch ganz schön, nicht? Weil Noah braver war als die anderen, ließ Gott ihn die Sintflut überleben. Mit seiner braven Frau und vielen braven Tieren, in der Arche, Sie erinnern sich. Nach der Sintflut lebte Noah noch dreihundertfünfzig Jahre. Er starb mit neunhundertfünfzig. So steht es in der Schrift. War das auch eine Belohnung? Muß Gott sich doch was gedacht haben dabei.«

»Frollein, Sie versündijen sich«, spricht Bruno. »Det is ’ne jroße Relijon. So viel Jutet hatse geleistet …«

»Ja, wenn man denkt, mit was für feinen Mitteln sie sich durchgesetzt hat! Und wieviel Kriege sie verhindert hat! Steht doch in den Zehn Geboten: ›Du sollst nicht töten!‹ In den Geboten Gottes an Noah steht allerdings was anderes: ›Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll durch Menschen wiederum vergossen werden!‹ Erinnert mich lebhaft an die gerechten Verteidigungs- und die ungerechten Aggressionskriege … ja, ja, Diana, ich bin schon still.«

Bruno seufzt tief.

Das also ist die Generation, die in ein paar Jahren ans Ruder kommen wird, um Ordnung in diese verrottete Welt zu bringen.

Erregt sagt Bruno: »Wenn man euch so zuhört, dann hat man den Eindruck, ihr denkt: Die vor uns haben den Karren in den Dreck gefahren. Die nach uns müssen in die Hände spucken, und ihn wieder rausziehen.«

»Das ungefähr denken wir auch«, sagt Ronny. »Ungefähr. Nicht ganz. Unseretwegen können die nach uns die Karre auch weiter steckenlassen.«

»Was haben denn Sie gegen Ihren Vater?« erkundigt Bruno sich ironisch.

»Gegen welchen, Herr Knolle? Es gibt nämlich vier. Bis jetzt. Meinen Urheber. Der ist abgehauen und hat Mammy sitzenlassen, als ich noch in den Kindergarten ging. Wo er ist, wissen wir nicht. Mammy sieht verdammt gut aus. Heute noch. Früher muß sie eine Schönheit gewesen sein. Jedenfalls hat sie noch dreimal geheiratet. Einer von den Kerlen war widerlicher als der andere. Na, zum Glück ist sie jetzt auch vom vierten geschieden. Und zum Glück hatte der am meisten Geld. Muß ordentlich blechen. Wollte eine Miss Germany heiraten. Mammy machte einen feinen Rebbach bei der Scheidung. Leider ist sie doof wie ’n Ei.«

Gelächter.

Bruno sagt beklommen: »Ja, aber so kann doch kein Mensch leben. Braucht ihr denn gar keinen Trost? Gar keinen Menschen, mit dem ihr reden könnt, der euch versteht, den ihr versteht, vor dem ihr Achtung habt?«

»Natürlich braucht jeder von uns so einen Menschen«, sagt Ronny. »Ich, zum Beispiel, habe Vicky. Jet hat Diana. Obwohl es da nicht so nötig wäre.«

»Nicht so nötig?«

»Daß sie einen Menschen hat, einen richtigen Menschen – nicht nur was fürs Bett.« Bruno blinzelt. »Ihre Eltern sind nämlich okay. Aber sonst … Die meisten Alten können den Jungen keinen Trost mehr geben. Da nehmen die Jungen sich eben Junge.«

»Und die Alten reden dann von frühreif und lasterhaft und verkommen«, sagt Vicky. »Eine Ahnung haben die! Klar denken wir auch ans Bett. Oft, kann ich Ihnen flüstern! Sex wird nicht kleingeschrieben bei uns.«

»Wie sollte das auch anders sein?« fragt Ronny. »Wissen wir, wann uns die erste H-Bombe aufs Haupt fällt? Morgen? Übermorgen? Heute noch? Wissen wir, wie lange wir noch zu leben haben? Sie, Sie leben schon eine ganze Weile. Wir noch nicht sehr lange. Wir haben auf dem Gebiet Sex sozusagen Zeitrafferbedarf.« Er legt einen Arm um Vicky.

Diana sagt: »Und nicht nur auf diesem Gebiet. In der kleinen Weile, die ihr uns noch laßt, wollen wir jemanden, der uns zuhört und uns versteht …«

»Das tun Ihre Eltern doch, Fräulein Diana!«

»Ich spreche jetzt allgemein. Ich bin eine Ausnahme. Die anderen sind weniger gut daran. Und die brauchen eben einen Gleichaltrigen, denn nur ein Gleichaltriger oder eine Gleichaltrige kann sie noch verstehen, ist noch vertrauenswürdig, lügt nicht, drischt keine Phrasen.« Pause. »In der kleinen Weile, die bleibt«, fügt Diana hinzu.