23 Uhr 36.
In Czibilskys Lattenverschlag sitzt Kurt Mittenzwey vor der zwischen die Dachziegel eingelassenen kleinen Glasluke, und mit dem Feldstecher sieht er hinüber in den Teil der Mottlstraße, der im Osten liegt. Auf dem Wachtturm da hinten steht noch immer kein Vopo.
In den letzten anderthalb Stunden sind dreiundneunzig Menschen die Mottlstraße heruntergekommen, Frauen, Männer und Kinder. Von diesen dreiundneunzig gingen achtundsechzig auf besondere Art: Zunächst den Bürgersteig entlang, der dem Haus Nummer 35 gegenüberliegt. Knapp vor einer Laterne überquerten sie die Straße dann, marschierten auf dem anderen Bürgersteig weiter und klopften an das Tor von Nummer 35. Diese Leute waren Kunden. Sie wußten, daß man sie vom Westen aus beobachtete, und das Fahrbahnüberqueren bei der Laterne war verabredet, genauso wie das Klopfzeichen und das Kennwort ›Zarah Leander‹.
Jedesmal, wenn einer bei der Laterne den Bürgersteig wechselt, nimmt Mittenzwey ein Funksprechgerät, eine Art überdimensionales viereckiges Telefon mit langer Antenne, das in einem Lederetui steckt, ans Ohr und alarmiert einen Mann unten im Keller, der gleichfalls solch ein Gerät am Ohr hält.
»Mann mit Frau.«
»Okay. Ich gebe es durch.«
Diese Sprechgeräte sind den ›Walkie-Talkies‹ nachgebaut, wie sie die Amerikaner im zweiten Weltkrieg verwendet haben. Leider besitzt die Gruppe nur zwei dieser Apparate. Ein dritter war nicht aufzutreiben gewesen. Darum hatte man durch den Tunnel eine Telefonleitung legen müssen. Der Mann im Keller telefoniert mit einem Kameraden, der am anderen Ende des Stollens sitzt.
»Mann mit Frau.«
Etwas später: »Mann, Frau, Kind.«
Danach: »Mann allein.«
Dann: »Zwei Kinder.«
Der Kumpel am Ostende ruft die Meldungen leise zu den beiden Fluchthelfern hinauf, die neben dem Einsteigloch im Hof stehen. Einer von diesen wieder jagt auf Strümpfen zum Tor und informiert die beiden Wachen, den Studenten der Philosophie Horst Lutter und den jungen Arbeiter. Die sind also jedesmal vorbereitet, wenn es klopft.
Das Verfahren wird mühsam und zeitraubend bei so vielen Leuten, aber es ist wichtiger, daß der Mann im Keller, der die Aufgabe hat, die Flüchtlinge ruhig, fließend und ohne Stocken durch den Stollen zu schleusen, stets schnellstens von Mittenzwey informiert wird, als daß die Wachen drüben im Hof sein Gerät haben. In ihrer Ausgesetztheit können sie, wenn etwas geschieht, ohnedies nur um ihr Leben rennen. Dann gibt es sowieso Mord und Totschlag beim Tunneleinstieg. Natürlich, noch ein Gerät mehr wäre eine Riesenhilfe gewesen.
Nichts zu machen. Alles bekam man, nur kein drittes ›Walkie-Talkie‹ mehr!
Die Gruppe besaß einmal fünf Stück, doch sie sind ruiniert. Die neuen haben je DM 1500.– gekostet. Sie erscheinen in der Gesamtabrechnung, die Kurt Mittenzwey dem kleinen Herrn Fanzelau, zusammen mit unzähligen Einzelbelegen, überreicht hat:
Ankauf eines VW-Busses zur Personen- und Materialbeförderung | DM | 3000.— |
Transportkosten für Speditions- od. Mietwagen | DM | 1763.50 |
Wäschereimiete | DM | 2000.— |
Strom | DM | 1458.67 |
Teilverpflegung (Zigaretten usw.) für jeweils 11 Mann während der Schicht | DM | 5821.15 |
Elektroartikel (Motoren, Kabel, Sicherungen, Heizsonne, 2 Walkie-Talkies, etc.) | DM | 9859.85 |
Seile (Perlon und Stahl) | DM | 2121.25 |
Belüftungsanlage | DM | 2343.80 |
Werkzeuge | DM | 2571.20 |
Holz | DM | 1115.75 |
Winden | DM | 4516.50 |
Reisekosten u. Zuschüsse zum Lebensunterhalt | DM | 8125.30 |
Neubau Wäscherei, gesamt | DM | 44696.97 |
Dazu kommen noch Mittenzweys 1000 Mark Monatsgarantie. Es ist ein verdammt teurer Tunnel geworden.
Der Boß denkt: In so einer Nacht, da können aber vielleicht hundert Leute herüberkommen. Hundertfünfzig, zweihundert – wer weiß, wie viele! Und wer weiß, was für welche! Seine Leute müssen Fanzelau das Geld wert sein – ihm oder wem immer. Was für Leute das wohl sind? Keine Zeit, darüber nachzudenken. Da ist was los, da drüben!
Was?
Zuerst ging alles wie geschmiert. Die Menschen kamen, wurden eingelassen, verschwanden aus Mittenzweys Blickfeld. In den Hof konnte er nicht sehen, aber über Sprechfunk erhielt er Bescheid aus dem Keller.
»Der erste ist da … der zweite … der neunte … der dreizehnte … der vierzehnte … der achtzehnte … der vierundzwanzigste … der einunddreißigste …«
Nachdem der einunddreißigste im Westen eingetroffen war, mußte im Osten irgend etwas passiert sein …
Es kommen immer neue Kunden die Mottlstraße auf die bestimmte Art herab, Mittenzwey meldet sie an, sie werden eingelassen und verschwinden, aber der Mann im Keller meldet plötzlich keine Herübergelotsten mehr.
Mittenzwey nimmt sich zusammen. Er weiß: Was immer geschehen ist, nur die im Keller, die im Stollen und die drüben im Hof können es in Ordnung bringen, er darf sie nicht stören, den Boß spielen, herumkommandieren. Wenn es nicht mehr in Ordnung zu bringen ist, wird er es früh genug erfahren.
In dem toten Haus gibt es keine Vopos! Sie haben doch alle Wohnungen durchsucht! Und die Leute, die bisher gekommen sind, haben sich völlig koscher benommen. Natürlich kann man nie wissen! Wenn da doch ein SSD-Mann drunter gewesen ist?
Nein, das gibt es nicht! Einer allein wäre nie gekommen!
Aber was ist es dann?
Ruhe, Mittenzwey, Ruhe! Da sind wieder welche …
»Frau mit Mann … ein Junge, allein …«
»Okay. Ich sag’s weiter. …« Die Stimme des Mannes im Keller klingt bedrückt. Der weiß etwas. Und will offenbar Mittenzwey nicht nervös machen. Aber so geht das auch nicht.
»Walter …«
»Ja?«
»Was ist eigentlich los bei euch?«
»Nichts … warum?«
»Mensch, ununterbrochen kommen Neue in den Hof rein, aber seit einer Viertelstunde kommt keiner mehr rüber! Natürlich weißt du, warum! Sag es mir!«
»Herrgott, reg dich nicht auf!«
»Ich reg mich überhaupt nicht auf! Aber ich muß wissen, was los ist! Also!«
Ein Seufzen.
Dann: »Betriebsunfall.«
»Was?«
»Eine Frau. Zu dick. Schafft nicht den Einstieg. Hat schon alles versucht.«
Mittenzwey fühlt, wie ihm Schweiß über den Rücken läuft.
»Steckt fest?«
»Leider. Kann nicht runter und nicht rauf. Völlig verklemmt. Die Idioten haben auch noch an ihr gezogen und herumgerissen.«
»Himmelarschund … ein Mann! Ein Mann kommt, Walter!«