Den Privatbankier Otto Fanzelau hat der Kriminalrat Prangel noch nachts ins West-Sanatorium an der Joachimsthaler Straße bringen lassen. Zu seinem Schutz und zur Beobachtung. Der alte Herr kann sich ja etwas weggeholt haben bei diesem Abenteuer.
Für Fanzelaus Schutz sorgen vier Kriminalbeamte. Die halten Wache auf dem Gang vor dem Zimmer, in dem Fanzelau liegt. Sie wechseln sich in einem Sechs-Stunden-Turnus ab.
Zu Fanzelaus Beobachtung hat Prangel den Psychiater Dr. Philipp Landon herbeigebeten. Dieser verständigte den bekannten Internisten, der den alten Herrn seinerzeit so gründlich untersucht hatte. Professor Merath heißt dieser Internist.
Die beiden Ärzte beschäftigten sich stundenlang mit Fanzelau. Er ist längst wieder bei Sinnen, bester Dinge. Er hat mächtigen Appetit, reißt Witze und bittet um ein Radio, damit er hören kann, was der Funk berichtet. Landon ist noch bei ihm.
Einer der Kriminalbeamten kommt ins Zimmer, nachdem er geklopft und Fanzelau ›Herein‹ gerufen hat.
»Verzeihen Sie die Störung. Ein Herr wartet draußen, der Herrn Fanzelau besuchen möchte. Ich habe im Präsidium angefragt und um Weisung gebeten. Grundsätzlich darf doch niemand zu Herrn Fanzelau, nicht wahr. Das Präsidium hat nichts gegen den Besuch dieses Herrn. Er kommt aus Frankfurt …«
Landon bemerkt mit Unbehagen, daß Fanzelau aufgeregt wird.
»… und wir haben beim Frankfurter Präsidium bereits Erkundigungen über ihn eingezogen. Absolut einwandfreier Mann, Herr Doktor. Alter Freund von Herrn Fanzelau. Wenn Sie natürlich einen Besuch verbieten …«
»Ist es Herr Martini?« erkundigt sich Fanzelau, nun sehr aufgeregt. »Ja. Also, Herr Doktor?«
Dr. Philipp Landon denkt: Olaf Martini aus Frankfurt. Absolut einwandfrei, wie die Polizei mitteilt. Alter Freund Fanzelaus. Wieso alter Freund? Fanzelau hat mir während der Behandlung immer wieder erklärt, daß er nicht einen einzigen Freund habe, geschweige denn einen alten; daß er beziehungslos und kontaktunfähig sei; und nun auf einmal hat er einen alten Freund? Hier stimmt doch etwas nicht.
»Doktor! Lassen Sie Martini zu mir! Wenn er doch eigens und sofort nach Berlin gekommen ist …«
Stärker und stärker wird dieses seltsame Gefühl des Unbehagens bei Dr. Landon.
Fanzelau jetzt vorzuhalten, er habe doch behauptet, keinen einzigen wahren Freund zu besitzen, wäre völlig sinnlos, denkt Landon. Wenn ich herausbekommen will, was da vorgegangen ist und vorgeht, muß ich mitspielen.
»Bitten Sie Herrn Martini herein«, sagt er harmlos und beobachtet danach irritiert den erleichterten Gesichtsausdruck Fanzelaus, als ein mittelgroßer, schlanker Mann mit strahlenden hellgrünen Augen und kurzgeschnittenem, dabei gewelltem Haar von brünetter Farbe eintritt, die Arme ausgebreitet, schöne Zähne in einem breiten Lächeln entblößend.
»Mein lieber, guter, alter Otto …!«
»Mein lieber, guter Olaf! Darf ich bekannt machen? Herr Olaf Martini, Herr Doktor Landon, mein Arzt.«
Der Psychiater und der Chemiker stehen einander gegenüber. Sie reichen sich die Hände. Beide lächeln.
»Mein Gott, endlich lerne ich Sie kennen, Herr Doktor! Gehört habe ich schon so viel von Ihnen!«
»Ja? Von wem?«
»Großer Gott, ich bitte Sie, Ihr Name ist ein Begriff bei uns im Westen!«
»Nanana …«
»So wahr mir Gott helfe! Daß Sie der Arzt meines alten Freundes Fanzelau sind, wußte ich natürlich auch.« Ganz kurz sieht der Chemiker dabei den Bankier an. Der schließt ebenso kurz die Augen, wie zum Zeichen, daß er begriffen hat: Auf ihn ist Verlaß.
»Ich war Herrn Fanzelaus Arzt. Vor Jahren. Jetzt ist er längst wieder völlig gesund. Ich bin nur hergerufen worden, um zu sehen, ob die nächtliche Affäre irgendwelche Folgen bei Herrn Fanzelau hatte. Man hat mich gewählt, weil ich eben ein Bekannter von Herrn Fanzelau bin.«
»Ein Bekannter?« Fanzelau beißt sich auf die Lippen. Er ist verwirrt. Gerade das wollte Landon mit seinen Worten erreichen. »Sie sind viel mehr, das wissen Sie doch, Doktor! Sie sind …«
Na, was? denkt Landon. Was wirst du jetzt sagen?
Fanzelau sagt gar nichts. Martini kommt ihm, händereibend, zuvor: »Ein großer Mensch sind Sie, Doktor. Wie vielen Kranken haben Sie schon geholfen! Auch meinem alten Freund …«
»Der Patient ist es, der sich helfen muß, Herr Martini. Ich kann dem Patienten nur helfen, sich zu helfen. Herr Fanzelau hat sich geholfen. Darum ist er gesund geworden.«
»Sie haben mir den Weg gewiesen!« Fanzelau blickt Landon an. Sein Gesicht sieht jetzt ratlos, zerrissen aus. Ein Mann, der nicht weiter weiß. Ein Mann, der etwas sagen möchte – und nichts sagen darf. »Das war ausschlaggebend!« erklärt er ernst dem Chemiker. Der nickt und führt eine Hand streichelnd über sein interessant graumeliertes Haar.
»Sie kennen sich schon sehr lange?« Landon hat sich liebenswürdig an Martini gewendet.
»Eine kleine Ewigkeit! … Deshalb kam ich ja auch sofort her, als ich im Radio hörte, was du erlebt und was du getan hast!« Martini sieht immer wieder Fanzelau an. Landon scheint für ihn kaum zu existieren. Aber Fanzelau scheint er hypnotisieren zu wollen mit seinen Blicken, in seinen Bann zu zwingen. Warum? Wozu? »Herr im Himmel, ich dachte wirklich, ich wüßte alles über dich. Und jetzt erfahre ich, daß du seit Jahren Tunnel finanzierst … So etwas! … Natürlich durfte das niemand wissen!«
Wie eine Warnung klingt dieser letzte Satz. Wie eine Drohung. Warnung wovor? Drohung wovor?
Landon provoziert: »Herr Fanzelau hat mir auch nie etwas davon erzählt, als ich ihn noch behandelt habe. Obwohl ich unter Schweigepflichte stehe. Kein einziges Wort hat er erzählt …«
Aufmerksam betrachtet der Arzt die beiden Männer, während er spricht. Martini scheint aufzuatmen, Fanzelau verheddert sich immer mehr: »Ich habe damals doch gesagt, ich könne Ihnen nichts erzählen … Erinnern Sie sich, Doktor?«
»Ich erinnere mich.«
»Nun wissen Sie, warum ich es nicht durfte! Zu viele andere Menschen wären unter Umständen gefährdet gewesen …«
»Durch mich?«
»Nicht durch Sie, lieber Doktor!« Fanzelau verfällt, man kann es sehen. Martini blüht von Sekunde zu Sekunde mehr auf, das kann man auch sehen. »Aber wenn es der Teufel gewollt hätte, wäre irgend etwas über meine Tätigkeit bekannt geworden …«
Es tut mir leid, denkt Landon, aber jetzt kann ich nicht mehr lockerlassen: »Was immer Sie mir erzählt hätten, Herr Fanzelau, bei mir hätte der teuflischste Teufel keine Chance gehabt. Nicht in meiner Praxis.«
»Und trotzdem …«
»Und trotzdem haben Sie niemandem mehr getraut, keinem Menschen.«
»Das stimmt nicht! Ihnen habe ich immer getraut! Werde ich immer trauen.«
»Aber eben nicht alles erzählen.« Landon will Fanzelau nicht quälen. Landon hat ein Gefühl, daß sein ehemaliger Patient in Gefahr schwebt, in großer Gefahr. Dieses Gefühl allein läßt ihn so handeln, so reden.
Und es scheint richtig zu sein, dieses Gefühl.
Denn Martini sagt: »Mein Gott im Himmel, eine solche Sache würde ich auch niemandem erzählt haben … nicht einmal dem Arzt meines Vertrauens. Ich verstehe meinen alten Freund Fanzelau. Gott behüte, es wäre ihm etwas zugestoßen!«,
»Es ist ihm nichts zugestoßen«, sagt Landon. Und denkt: Olaf Martini sagt sehr häufig: ›Herr Gott‹, ›Gott im Himmel‹ und ›Mein lieber alter Freund‹.
Fanzelau fleht nun fast: »Das wissen Sie doch, Doktor, daß Ihre Patienten Ihnen immer in irgendeinem Punkt nicht die Wahrheit sagen! Nun, bei mir war eben das der Punkt! Also bin ich überhaupt nicht anders als all Ihre anderen Patienten.«
Dr. Philipp Landon fühlt unbestimmbare Furcht um Fanzelau in sich aufsteigen. Er sagt, absichtlich zögernd: »Vielleicht doch …«
»Was soll das heißen?«
»Das möchte ich nicht sagen. Ein Arzt spricht auch nicht über alles.«
»Sie wollen es nicht sagen?«
»Nein. Ich bitte Sie, wir sind ja nicht einmal allein!«
»Herr Martini ist …«
»… Ihr guter alter Freund, ja, das weiß ich nun schon. Meiner nicht. Wir haben uns eben kennengelernt.« Dr. Landon will den Bankier und diesen so selbstbewußten Martini in Rage bringen. Bei Martini gelingt das nicht, der nickt, zustimmend und ruhig. Bei Fanzelau gelingt es. Der wird nun böse: »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Doktor? Haben Sie die Absicht, meinen Freund zu beleidigen?«
Was ist hier los? denkt Landon. Was ist hier los?
»Ihren Freund beleidigen? Eigenartige Vorstellung, Herr Fanzelau. Ich war Ihr Arzt, und nur als solcher spreche ich … darf ich sprechen.«
»Aber, aber«, sagt Martini, der die Szene zu genießen scheint, »was soll denn das? Wir alle wollen doch nur Herrn Fanzelaus Bestes! Nun lassen Sie uns darüber reden, wie Sie Ihren ehemaligen Patienten finden, Doktor.«
Plötzlich bemerkt Landon, daß Fanzelau ihn bittend ansieht. Immer unsympathischer wird dem Arzt dieser Martini.
»Wie ich ihn finde? Ausgezeichnet finde ich ihn«, antwortet Landon, während er denkt: Warum, Herr Olaf Martini, hat Otto Fanzelau Angst vor Ihnen?