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Montag – es ist der 17. August 1964 –, morgens um halb neun, holt Knarje seinen Freund Bruno aus Nellys Wohnung ab. So war es besprochen. Nelly übergibt ihm das Kuvert mit den fünftausend Mark, küßt ihren Bruno und spuckt beiden Herren symbolisch dreimal über die linke Schulter.

Mögen sie Glück haben heute, am großen Tag der Belohnung!

Es ist ein wenig kühler geworden – nach einem wüsten Gewitter, das sich gegen vier Uhr früh über Berlin entlud. In den Straßen, durch die Bruno und Knarje gehen, verdampfen noch Regenlachen. Die Sonne scheint strahlend, bald wird es mit der Abkühlung vorbei sein.

Während Bruno frohgemut einherschreitet, zeigt Knarje eine ziemlich bedrückte Miene. Er hat, berichtet er, mit seiner Wanda immer noch Krach – sie will und will nicht aus Berlin weg! Das wird ein Problem werden. Denn daß sie weg müssen, alle und schnell, hat Knarje bereits auf dem Weg zu Bruno festgestellt. An den Kiosken hängen Zeitungen mit ihren Bildern und Berichten über ihre Heldentat. Da die Herren leider keine ausgesprochenen Durchschnittsgesichter haben (beide vierschrötig, Knarje mit seiner Igelfrisur, Bruno mit seinem Seehundskopf), werden sie auf ihrem Weg zur Filiale der Handelsbank in der Wilmersdorfer Straße von mehreren Passanten, die gerade ihre Zeitungen lesen, erkannt und ausgiebig angestarrt.

»Da kannste mal sehn«, sagt Bruno, »wat schwarze Balken über ’ne Fresse wert sind.«

»Mir hat sojar schon eena anjesprochn in de Augsburja. Wollte ’n Autojramm. Na, den hab ick wat azählt!«

»Knarje! Du bist doch nich tätlich jewordn?«

»I wo. Ick habe bloß jesacht, er soll mir. Det hat jenücht. Aba wenn ick det nu den janzen Tach sagen soll … ne, weeßte, nee! Die Pressefreiheit kann mir ooch! Deine Nelly hat jleich jefunkt. Wat soll ick bloß mit meine Wanda machn?«

»Die wird ooch noch funken. Ach, lassense ma doch zufrieden, lieba Herr.« Das galt einem Passanten, der auf Bruno zutrat, Zeitung in der Hand, einen Finger auf ein Bild gelegt, den Mund geöffnet. Der Passant weicht zurück. Bruno schreitet fürbaß. »So mußtet machen. Janich zum Reden komm lassen. Det is ooch bloß heute so, den ersten Tach. Bis morjen passiert schon wieda so ville in de Welt, detse uns vajessen ham. Det Volk natürlich bloß«, fügt Bruno ernst hinzu. »Die jewöhnlichen Leute. Die andan nich.«

»Ebent«, sagt Knarje.

Da die Herren entschlossen sind, Berlin schleunigst zu verlassen, wäre es unsinnig, wenn Knarje noch ein Konto eröffnete. Ein Banksafe genügt. Aber auch um ein solches zu bekommen, muß er Namen und Adresse nennen, einen Ausweis zeigen. Natürlich geht es da auch auf der Handelsbank wieder los: »Herr Knargenstein? Sie sind der Herr Knargenstein, der … und Sie sind Herr Knolle, nicht wahr?«

Hier kann man leider nicht einfach weitergehen.

Knarje brummt, er wünsche ein Safe und möglichst kein Aufsehen. Aber gewiß …

Zwei Minuten später starrt ihn die Belegschaft der ganzen Filiale an. Der Herr, an den er zuerst geraten ist, hat nicht dichtgehalten. Eine Viertelstunde später ist das Geld deponiert und alles erledigt. Die beiden Freunde sind es auch. Sie stehen mit krebsroten Köpfen auf der Straße und sehen ramponiert aus. Man hat ihnen kräftig auf die Schulter geschlagen, ihnen kräftig die Hände geschüttelt, sie mit kräftigen Stimmen beglückwünscht und sich bedankt.

»’n neuet Hemde hatte ick anjezogen«, klagt Knarje. »Nich die Spur vaschwitzt. Jetzt könnte ick et auswringen.« Er steuert auf eine Destille zu. Bruno hält ihn fest: »Da bleibste!«

»Ick brauch ’ne Stärkung.«

»Beßre Nerven brauchste! Heute wird nich jesoffn, solange wir jeschäftlich untawejens sind. Keen Troppen, vastandn? Reiß dir zusammen, Mensch! Nimm dir ’n Beispiel an mir. Reje ick mir uff? Ick werde jenauso anjestarrt. Na und? Ick lasse det allet janz lässich an mir abjleiten …«

Die Busfahrt zum Polizeipräsidium dauert lange. Bruno und Knarje haben sich Zeitungen gekauft. Sie stehen auf der Einsteigplattform, in einer Ecke. Die Zeitungen halten sie vor ihre Gesichter. Das war Brunos Einfall.

Der weißblonde Meisterschränker von einst liest einen Bericht über den großen Auschwitz-Prozeß in Frankfurt. Am 20. Dezember 1963 hat der Prozeß begonnen, erfährt Bruno. Am 20. Dezember 1963 – da saß er noch auf Nummer Sicher im Zet! Und dieser Prozeß, der dauert und dauert an. Man will nun eine Lokalbesichtigung in dem ehemaligen Konzentrationslager vornehmen. Ein Termin für die Urteilsverkündung ist unter solchen Umständen noch nicht einmal theoretisch anzunehmen.

Die Angeklagten wissen natürlich von nichts, oder sie erklären, natürlich, sie seien unschuldig, oder sie behaupten, sie könnten sich an nichts mehr erinnern. Mein Gott, nach zwanzig Jahren!

Ein Verteidiger hat sogar den Antrag auf Hinzuziehung eines Psychologen eingebracht. Der Herr Verteidiger wünscht des Wissenschaftlers Ansicht darüber zu hören, ob man sich nach einer so langen Zeit überhaupt noch konkret an einzelne Erlebnisse erinnern könne – damit möchte er, wenn es geht, völlig die Aussagen ehemaliger Häftlinge entwerten, die nun im Zeugenstand auftreten.

In einer anderen Meldung (gleich neben der über den KZ-Prozeß) wird über die neueste Attraktion eines Nachtlokals berichtet, das seit einigen Tagen die ›Richard-Wagner-Striptease-Arie‹ bringt. Unter einem großen Bild Wagners tritt ein Stripper-Girl auf, verkleidet als Elsa von Brabant. Zur Musik der Brautgemachszene aus ›Lohengrin‹ beginnt das Stripper-Girl, das ein lang wallendes Gewand mit mittelalterlicher Haube und lange blonde Zöpfe trägt, sich zu entkleiden. Ganz. Sogar die Zöpfe nimmt sie ab. Die Vorführung dauert etwa zwanzig Minuten. In dem Etablissement wird übrigens – noch ein origineller Gag! – nur Whisky serviert.

Nur …

Dem Bruno fällt plötzlich etwas ein, davon wird er so unruhig, daß selbst Knarje es bemerkt, der neben ihm steht und die Totoergebnisse rauf und runter liest, runter und rauf.

»Wat haste?«

»Späta.«

Als sie endlich auf der Straße sind, erklärt Bruno, was er hat: »’n Loch in Kopp habe ick. Der Franz hat mir doch jestan …«

»Wat for ’n Franz?«

»Na, der Lutta. Der Radiosprecha. Mensch, haste vajessen, wat ick dir azählt habe?«

»Nee, keen Wort. Wat is mit den Lutta?«

Bruno überlegt, daß er schließlich keine Veranlassung hat, Knarje genaue Mitteilungen über den tristen Gesundheitszustand eines Kriegskameraden zu machen, und erwidert allgemein: »Würde ooch wat über ihn in de Zeitung stehn heute, hatta jesacht. Kiek du mal in deine, ick kieke in meine.«

Sie haben beide während der Busfahrt die ersten Seiten ihrer Gazetten nicht betrachtet – aus begreiflichen Gründen. Nun blättern sie die Zeitungen ganz durch, lesen jede Überschrift, auch die der kleinen Meldungen.

»Bei mir is nischt«, sagt Knarje zuletzt.

»Bei mir ooch nich.«

Sie haben verschiedene Zeitungen.

Na ja, denkt Bruno, dann ist es also nun ganz sicher. Mein armer Franz hat durchgedreht. Völlig und endgültig durchgedreht …

Der Bundesverfassungsschutz pflegt seine Tätigkeit im geheimen auszuüben und ist jeder Reklame abhold. Beginnt eine Aktion gar gleich mit einer Niederlage, dann gibt das der Bundesverfassungsschutz erst recht nicht der breiten Öffentlichkeit bekannt. Hierin hat der Franz Lutter des Verfassungsschutzes Schamgefühl unterschätzt und gleichzeitig die Popularität seiner Person überschätzt.