Dieser Mann hat ein Gesicht, das enorm an einen Seehund erinnert. Weißblond liegt das naßgeklatschte Haar, genau gescheitelt, auf dem kugeligen Schädel, schlau und gutmütig zugleich wirken die hellblauen Augen. Leicht fliehende Stirn, leicht fliehendes, schwaches Kinn, schmallippiger kleiner Mund, kurze, platte Schnüffelnase: Ein Seehundsgesicht, wie aus ›Brehms Tierleben‹!
In seltsamem Kontrast dazu befindet sich der Körper: Breite Schultern, lange Glieder, starke Knochen. Der Mann ist groß, er wirkt hager, aber nicht abgemagert oder schwach. O nein, im Gegenteil! Mit dem möchtest du nicht gerade Krakeel kriegen – bei all seiner freundlichen Seehündigkeit. Wenn der zuschlägt – Junge, Junge! Dabei sind seine Hände zart, aristokratisch, mit langen, gepflegten Fingern und edlen Gelenken. Halb Seehund, halb Steppenwolf – der Gesamteindruck hat etwas Rührend-Komisches.
Dazu trägt noch die Kleidung bei. Dieser Mann, der Ende Vierzig sein dürfte, hat sich offenbar eigens für die Flucht völlig neu eingepuppt: Er trägt einen blauen Anzug mit weißen Streifen, die nicht gerade verschämt schmal sind. Konfektionsanzug natürlich. Zweireiher. Die Jacke mächtig wattiert, die Hosen haben Aufschläge. Im Osten sind sie noch nicht soweit mit der Mode. Zu diesem Anzug, den er keinesfalls länger als die ersten zwei Stunden trägt (man riecht direkt noch das HO-Kaufhaus, wenn man ihn sieht!), hat der Mann ein Hemd gewählt, das ist weißrosa gestreift und auch krachneu. Genauso neu wie die dottergelbe Krawatte und die dottergelben Halbschuhe mit den dicken Gummisohlen. Aus der Brusttasche des Anzugs lugt ein violettes Seidentüchlein. Hat eben jeder seinen eigenen Geschmack. Krawatte und Schuhe passen übrigens zum Haar. Auch zur Gesichtsfarbe. Die ist ein bißchen zitronengelb, sehr hell. Kann an der Pigmentierung liegen. Oder an Mangel an frischer Luft. So sehen Leute aus, die lange nicht im Freien waren, Krankenhauspatienten oder Gefangene zum Beispiel.
Zigarette im Mundwinkel, leicht schnüffelnd, mit vorsichtigen, behutsamen Schritten, so kommt der Mann heran. Den Gang haben Gewohnheitstrinker, die wissen, daß sie auf sich achtgeben müssen. Aber die Vorsicht dieses Mannes verdankt ihre Entstehung nicht dem Schnaps. Das ist kein Säufer, bestimmt nicht!
Jetzt hat er die Laterne erreicht, überquert die Fahrbahn, hält vor Nummer 35, klopft.
Lang, lang, lang, kurz, lang, kurz.
»Zarah Leander!«
Auf geht das Tor.
Schnüffelnd tritt der Mann in den Flur, erblickt die beiden Wachen, läßt die Zigarette aus dem Mund fallen, tritt sie aus.
»Tach«, sagt der Mann. Angenehm, freundlich und sanft klingt seine Stimme. »Bruno Knolle«, stellt er sich vor.
Der Student der Philosophie Horst Lutter sieht ihn plötzlich neugierig an. Neugierig und erleichtert. Nur einen Moment, die beiden anderen bemerken es gar nicht.
»Schon gut«, sagt der Arbeiter. »Namen wollen wir hier nicht wissen.«
»Ick dachte …« Unterwürfig wirkt dieser Bruno Knolle, demütig wie ein oft geprügelter Hund. Er lächelt die Wachen verzagt an. »Und nu?«
»Nu jarnischt«, sagt der Arbeiter und weist mit dem Kinn zum Hof, der im Mondschein liegt. Bruno Knolle erblickt die Flüchtlinge (jetzt sind es schon viel mehr als neununddreißig) um das Einsteigloch und die arme Dicke, die aussieht, als wäre sie aus dem Boden gewachsen. Ein Menschenkohl.
»Ach du liebe Jüte«, sagt Bruno Knolle. »Vastopfung, wa?«
»Aber gründlich! Und da schreiben die bei uns immer, ihr habt nischt zu fressen«, sagt der Arbeiter grimmig.
»Ick werde mir mal kümman«, murmelt Bruno. Er geht in den Hof hinein.
»Herrje«, flüstert eine Frau, »schon wieder einer!«
»Lassen Sie mir mal bitte durch«, flüstert Bruno. Die Leute treten zur Seite, ganz verschiedene: Einfache und feine, Angestellte, Arbeiter, Hausfrauen, denkt der Bruno, aber auch reiche Pinkel, Gebildete, Ärzte, Wissenschaftler, Professoren. Kann sein Politiker, kann sein Schauspieler, und hübsche Weiber, die gewiß nie im Leben gearbeitet haben. Und so eine Menge Kinder! Da kann man noch nicht sagen, wo die herkommen. Kinder sind Kinder. Alle Anwesenden haben natürlich ihr bestes Zeug an – wenn sie schon sonst alles zurücklassen müssen!
Bruno kniet neben der Dicken nieder, die ihn völlig verzweifelt anblickt.
»Furchtbar«, flüstert sie. »Daß ich den Herrschaften das antun muß … Aber ich kann doch nichts dafür!«
»Nu mal stille«, sagt Bruno. Ganz zart versucht er, die Dicke zu bewegen. »Ick passe schon uff. Tut nich weh.« Die Menschen betrachten ihn, und plötzlich scheinen sie von neuer Hoffnung erfüllt. Dieser fremde Mann hat die Hoffnung mit sich gebracht – wie ein Arzt, wenn er am Bett eines Kranken erscheint. Da fühlen sich auch die Angehörigen und der Kranke gleich ruhiger, selbst wenn es noch so schlimm steht!
Der Bruno kauert auf dem dreckigen Hofboden und überlegt einen Moment. Dann sagt er leise und freundlich: »Heben Sie doch bitte mal den Kopf, liebe Dame. Sehen Sie mich an! Noch ’n bißchen höher, wenn’s geht. Ja, det ist sehr schön.« Im nächsten Moment ballt er die rechte Hand zur Faust, holt aus und knallt der Dicken einen klassischen Kinnhaken, genau zwei Zentimeter links unter die Kieferspitze.
Ein paar Menschen kreischen unterdrückt auf. Ein Mann beginnt: »Sie! Hören Sie mal …«
»Stieke«, sagt Bruno Knolle, während die Dicke schon ohnmächtig geworden und ihr Kopf auf die linke Schulter gerollt ist. »Oder wüßten Sie ’ne andere Möglichkeit, Herr? Ick denke, wir müssen hier wegmachen, nich? Na also! Die arme Dame war ja schon völlig plemplem. Ne einzije Verkrampfung. Bei Bewußtsein hätten wir ihr nie durchjebracht. Den Haken, den hatse kaum jespürt. Jäha Ruck im Nackenwirbel. Blutleere im Jehirn. Boxers Lieblingstraum. Sehnse, wie weich der Körper jetzt is?« Er beugt sich vor, berührt mit dem Mund den Boden und spricht leise: »Ihr da unten, könnt ihr mir hören?«
»Ja«, kommt eine Stimme aus der Tiefe. »Wer bist du denn?«
»Ooch’n Flüchtling.« Keiner der anderen hat seinen Namen genannt. Der da tut es offenbar gerne. »Bruno Knolle heiß ick«, sagt er. »Was hast du mit der Dicken gemacht? Die hängt auf einmal ganz reglos. Die Beine baumeln.«
Der Bruno sieht triumphierend zu den Menschen auf, die um ihn herumstehen, als wollte er sagen: Na bitte!
Dann legt er wieder den Mund auf die Erde neben das Loch.
»Habse k.o. jeschlagen. Mußte sein. Hat eena von euch ’n Strick?«
»Einen Gürtel …«
»Ooch jut. Bind ihn ihr um det rechte Been. Üban Knöchel, sonst rutscht er. Haste? So. Und nu zieht! Zieht, so fest ihr könnt! Det rechte Been muß vor. Det mir keena an det linke jeht! Wir müssen den Knochenbau verändan. Wenn ihr feste jenuch zieht, verschiebt sich ooch det Becken. Allet verschiebt sich. Se wird länga, die arme Dame, und deshalb wirdse dünna. Hier oben, wir, wir machen ’t umjekehrt. Wir ziehn am linken Arm. Wartet noch ’n Momang. Zählt bis drei, denn fangt an!«
Der Bruno steht schnell auf und hebt den linken Arm der Bewußtlosen hoch. Zu einem Mann sagt er: »Helfense mir doch bitte!« Und dann ziehen die beiden an dem Arm, so fest sie können. Totenstill ist es im Hof.
Alle starren Bruno an, sogar der Mann, der mit ihm zieht.
Zunächst geschieht nichts. Dann hört man ein Knirschen, dann ein Kratzen. Dann hört man Knochen knacken. Richtig knacken!
»Fester!« keucht Bruno.
Ein zweiter Mann springt hinzu.
Sie ziehen noch stärker.
Das Knochenknacken wird lauter.
Und auf einmal – es ist nicht zu fassen, man kann seinen Augen nicht trauen! – gibt es einen Ruck, und die Dicke verschwindet so schnell im Loch, daß die beiden Männer, die mit Bruno gezogen haben, zu Boden stürzen, weil sie nicht rechtzeitig loslassen konnten. Der Bruno hat rechtzeitig losgelassen. Er steht und blinzelt mit seinen Seehundsaugen. Alles starrt ihn bewundernd an.
»Sie kommt zu sich«, ertönt eine Stimme aus der Erde. »Vorwärts, weiter geht’s!«
Der Bruno winkt sich ein kleines Mädchen heran, hebt es behutsam hoch und läßt es in das Loch gleiten. Eine Frau folgt. Ein Mann folgt. Der nächste Mann ist einer von den Feinen. »Nach Ihnen«, sagt er zu Bruno.
»Nee, nee, hopsen Sie man. Ick bleibe. Für ’n Fall, det noch mal wat passiert.«
Und so verschwinden die Menschen nun rasch, einer nach dem anderen, im Einstieg. Die Wachen haben ein paar neue Flüchtlinge hereingelassen.
Ein Herr mit Schmissen flüstert: »Fabelhaft, wie Sie das gemacht haben! Was sind Sie? Artist?«
»Nee«, sagt Bruno, während er immer weiter beim Einstieg hilft. »Ick jeh bloß viel int Kino. Am liebsten Krimis. Da hab ick schon ixmal jesehn, wie eena aus ’t Jefängnis flieht. Sie nie? Er sägt zwei Jittastäbe durch. Normal, beede Arme zugleich, käm er nich durch! Wat macht er also? Een Arm weit vor, Kopp in die Schulterkuhle, janz dicht an die durchjesägte Tralje vorbei …« Er unterbricht sich plötzlich, denn er hat bemerkt, daß der Herr ihn eigenartig ansieht. Als ob Bruno vielleicht nicht deshalb so gut Bescheid wüßte, weil er gern ins Kino geht. »’n bißken dalli«, sagt Bruno, und seine weiche, freundliche Stimme wird um eine Spur härter.