Der rosige Heinz Schuckert mit den Patschhänden, dem Eierkopf und dem spärlichen Rest seines Haupthaars leidet außerordentlich unter der Augusthitze. Mit Hilfe von Sonnenblenden und Vorhängen hat er sein Büro fast völlig verdunkelt. Schuckert sitzt im Hemd da und betrachtet seine Besucher brütend.
Nun also diese beiden! Er hätte sie sich natürlich geholt, einen nach dem anderen, und sie ordentlich ausgequetscht – aber bevor er dazu kam, waren sie schon hier, und anstatt daß er Fragen stellt, stellen nun diese Ganoven sie.
Feiner Montag!
Seit gestern wird Schuckert ununterbrochen von seinen Vorgesetzten im Westen angeraunzt, zur Schnecke gemacht, wie das im Jargon solcher Dienststellen zu heißen pflegt. Telefonate mit Köln. Fernschreiben aus Köln. Nachdem die Flucht des Ehepaars Lutter bekannt wurde, war vollends die Hölle los. Wer trägt hier die Schuld? Er natürlich. Er ganz allein. Wird auch noch Folgen für ihn haben, gibt man ihm alle paar Stunden freundlich zu verstehen. Es sei denn, er zeige durch erhöhte Anstrengungen, daß er der rechte Mann am rechten Ort sei. Erhöhte Anstrengungen! Den Ton kennt er noch aus dem Osten …
Verfassungsschutzmann Heinz Schuckert ist gerade in der Laune, sich nun auch noch von zwei Knastbrüdern Vorwürfe machen zu lassen! Da es in solchen Lagen Unfug wäre, nach oben zu treten, tritt man nach unten. Das ist nur menschlich.
Heinz Schuckert, gestern noch so einfühlsam um das Innenleben dieses Franz Lutter bemüht, läßt heute jede Psychologie beiseite. Reine Zeitverschwendung. Diesen Burschen da werde ich mal zeigen, was eine Harke ist. (Ganz natürliche menschliche Reaktion.)
»Also, meine Herren, ich habe jetzt Ihre Unverschämtheiten satt!«
»Langsam, langsam, ja!« spricht Bruno.
»Ihre Unverschämtheiten, habe ich gesagt, und dabei bleibe ich. Habe sie mir lange genug angehört. Und bin höflich geblieben und geduldig. Damit ist Schluß. Jetzt hören Sie zu.«
Bruno murmelt etwas.
»Wie bitte?« fährt Schuckert ihn an.
»Ick habe bloß jesacht: Wir sind janz Ohr«, antwortet Bruno mit einem treuherzigen Augenaufschlag. Er hat natürlich etwas ganz anderes gemurmelt. Dieser dämliche Scheißer da glaubt, er kann sich aufspielen. Soll sein Wunder erleben, wenn er zu üppig wird. Außer dem ›Spiegel‹ gibt es noch andere Blätter, die sich für das, was bei uns passiert, interessieren. Ausländische zum Beispiel! Spiel nur nicht den zu Kessen, Schuckert!
Heinz Schuckert sagt: »Daß dieser Fall alles andere als abgeschlossen ist, dürfte Ihnen wohl klar sein, nicht wahr?«
»Wieso? Wir brauchen bloß noch abrechnen. Denn issa abjeschlossen.«
»So habe ich es nicht gemeint. Ich hab gemeint …«
Im nächsten Moment sagt Knarje, dieses hirnverbrannte Arschloch, ehe Bruno ihn hindern kann: »Ach so, Se meinen den Lutta, wa?«
Dem Bruno wird ganz schlecht vor Wut.
Knarje, ich könnte dich umbringen!
»Ja«, sagt Schuckert und blickt Knarje, der inzwischen bemerkt, was er da angerichtet hat, durchdringend an. »Den meine ich. Was wissen Sie von dem? Los, los, los! Sehen Sie mich an, nicht Ihren Kumpel! Raus mit der Sprache! Was wissen Sie über Lutter?«
»Janischt …« Knarje mümmelt wieder einmal wie ein Karnickelbock. »Ick kenne den Mann überhaupt nich. Det is ’n Bekannta von Herrn Knolle.«
Na, wenigstens komme ich nun zu Wort, denkt Bruno und spricht schnell: »Kriegskamerad. Det wissense doch bestimmt, nich? Na sehnse. Ick habe vor Knarje mal sein Namen erwähnt. Nu, in seine Enttäuschung, denkt er, et könnte wat mit Lutta sind. Det denkste doch, Knarje, nich?«
»Ja. Jenau det …«
»Vielleicht überlassen Sie es mir, Fragen zu stellen, Herr Knolle, ja?«
»Entschuldijense man.« Bruno macht ein so unschuldiges, Knarje ein so blödes Gesicht, daß Schuckert weiß: Aus Knargenstein bekommt er nichts mehr heraus. Nun muß er mit Knolle sprechen.
»Also, was wissen Sie über Lutter?«
»’ne Menge«, antwortet Bruno. »Aba nich, wat Sie erwartn. Sie sind uff’n falschen Dampfa, Herr Schuckat.«
»Wieso bin ich auf dem falschen Dampfer?«
»Weilse nu offenbar gloom, der Lutta wäre unsertwejen jetürmt oder aus irgendeen politischen Jrund.«
Schuckert verschlägt es vorübergehend die Sprache.
»Det is ’ne Berufskrankheit bei Ihn’, vaständlich, detse imma hinter allet jleich wat Politisches wittan.«
Schuckert, der nie als erster von Lutter gesprochen hätte, weil er stets nach dem System vorzugehen pflegt, alle Verdächtigen so lange wie möglich voneinander fern und auseinander zu halten, sieht dieses System plötzlich außer Betrieb gesetzt.
»Sie wissen also, daß Lutter getürmt ist – wie Sie es nennen, Herr Knolle?«
»Klar.«
»Aha, das ist klar. Und warum ist er getürmt?«
»Suff«, erwidert Bruno eindringlich. (Idiot von Knarje!)
»Was?«
»Schnaps in’t Jehirn. Die Frau ooch. Ham durchjedreht. Alle beede. Ick habe jestan noch lange mit beede telefoniert. Ick weeß, von wat ick spreche.«
»Moment mal. Sie haben gestern noch mit Lutter telefoniert?«
»Na ja doch.«
»Wann?«
»Am frühen Nachmittach. Ick war draußen in sein Haus, meine Klamotten holn. Da hatta anjerufn.« (Wenn Knarje nur das Maul gehalten hätte. Jetzt hakt der Schuckert hier natürlich ein!)
»Von wo?«
»Aus Zürich. Von Flughafen.« Bruno wird auf alle Fälle frech. »Schützense unsre Vafassung imma so prima? Hamse wirklich noch nich jewußt, det der Franz in de Schweiz is?«
Mist! denkt Schuckert. Man kann sich auf keinen Menschen verlassen in diesem Saustall! Ich habe Anweisung gegeben, sofort Lutters Telefon anzuzapfen. Um 17 Uhr hatten die Brüder es glücklich geschafft. Weil Sonntag war. Endlos lange niemand aufzutreiben. Seit Jahren erkläre ich, daß man den Laden hier nur rund um die Uhr führen kann. Nein, hübsch in Schichten wird weitergearbeitet. Braucht man jemanden, ist er nicht da. Am frühen Nachmittag war Lutter also bereits in Zürich. Wie ist er aus Berlin herausgekommen mit seiner Frau? Falsche Pässe natürlich. Habe ich nicht Hentzsche und Weiß Befehl gegeben, Lutter auf Schritt und Tritt zu folgen? Was haben die getan? Stümper, verdammte. Aber ich, ich darf mich anbrüllen lassen für alle. Immer ich! Zwanzig Stunden fahnde ich bereits nach Lutter, versuche herauszufinden, wo er untergetaucht ist. Wer informiert mich endlich? Ein Ganove! Es ist zum …
»Natürlich weiß ich, daß Lutter in der Schweiz ist«, sagt Schuckert. Bruno blinzelt ironisch.
»Feixen Sie nicht!«
»Wer feixt denn?«
»Sie!«
»Erlaubense mal …«
Schuckert schlägt auf die Schreibtischplatte.
»Ruhe!« So gescheit, wie er glaubt, ist dieser Knolle auch nicht. Suff, hat er gesagt. Die Wahrheit kennt er also nicht. Oder doch?
»Wennse noch eenmal so laut werden, Herr Schuckat, denn jeh ick und beschwer ma bei Ihre Vorjesetzten!« droht Bruno.
Schuckerts Patschhände zittern.
Das muß man sich sagen lassen. Was soll man tun? Der Dreckskerl ist dazu imstande – besonders, wenn das mit dem Suff ein Bluff war. Also auch noch höflich sein zu dem Louis.
»Ich bedauere meine Heftigkeit.«
»Det will ick hoffen!«
Heinz Schuckert holt Luft.
»Meine Herren«, beginnt er (Meine Herren!), »es hat keinen Sinn, daß wir uns hier weiter unfreundliche Dinge sagen oder gegenseitig beleidigen. Damit wird Ihnen nicht geholfen … und mir nicht. Ich erkläre noch einmal: Für mich ist der Fall alles andere als abgeschlossen. Das soll nicht heißen, daß ich Sie verdächtige, irgend etwas zu verbergen. Aber ich kann die Sache aus anderen Gründen nicht zu den Akten legen. Und solange ich das nicht kann, kann ich mit Ihnen nicht über Ihre diversen Wünsche sprechen.« (So, das habe ich hingekriegt. Die glotzen mich an wie Kühe, wenn’s donnert – vor allem dieser dämliche Knargenstein!)
»Unterstützen Sie mich, wo Sie können. Geben Sie mir jede Auskunft, die ich fordere. Ich bin für jeden Hinweis dankbar. Für die kleinste Spur. Denken Sie scharf nach. Erinnern Sie sich an alles, was geschehen ist … von Anfang an. Dinge, die Ihnen völlig unwichtig erscheinen, können für mich von größter Bedeutung sein. Sie helfen mir in Ihrem eigenen Interesse. Denn sobald diese Sache wirklich erledigt ist, kommen wir auf Ihre Angelegenheiten zu sprechen. Sehen Sie, Herr Knolle, mit dem Bericht über Ihren Kriegskameraden Lutter haben Sie mir bereits einen ganz großen Dienst erwiesen. Wir wußten natürlich, wo er steckt und daß er trinkt. Wir werden schnell festgestellt haben, wie es um die Trunksucht dieses Mannes, seine Zurechnungsfähigkeit und so weiter steht. Und wenn alles so ist, wie Sie annehmen … wovon ich nun fast überzeugt bin … dann darf ich diesen ganzen Teil wirklich als abgeschlossen betrachten. Das gilt für alles andere auch. Fräulein Szapek zum Beispiel …«
»Einen Augenblick«, sagt Bruno. Diesmal spricht er hochdeutsch, weil ihn ein makabres Gefühl beschlichen hat. »Das soll also heißen, daß wir sozusagen ab sofort Ihre Angestellten sind und bleiben, bis Sie völlig klargekommen sind. Dann erst wird über Geld, Kneipe und so weiter geredet. Verstehe ich Sie so richtig?«
»Völlig richtig«, antwortet Schuckert, verblüfft über diese Hochdeutsch-Anfrage.
»Aha«, sagt Bruno. Er fixiert Schuckert. Der erwidert den starren Blick ruhig. Das hat er gelernt, das kann er in alle Ewigkeit aushalten. »Und diese Methode«, fährt Bruno fort, »ist zwischen Ihnen und den Amerikanern abgesprochen worden?«
»Ja, Herr Knolle.«
»Sie haben mit Mista Snodn telefoniert?«
»Woher kennen …«
»Herr Knargenstein und ich hatten das Vergnügen, den Herrn in der Nacht kennenzulernen, wo wir die Entführung von Herrn Fanzelau vereitelten.«
›Vereitelten‹ – selbst ein so feines Wort kommt dem Bruno glatt über die Zunge!
»Ja, so habe ich es mit Mr. Snowden abgesprochen«, antwortet Schuckert, der unsicher wird, weil ihm ein Ganove wie dieser Knolle noch nicht begegnet ist. Der andere, dieser Knargenstein, ist so das übliche Gesocks. Aber der Knolle – da heißt es achtgeben!
»Mr. Snowden«, erklärt Schuckert, »hat mir mitgeteilt, daß man Ihnen eine Kneipe versprochen hat und Ihnen noch einmal fünftausend Mark, Herr Knargenstein.«
»Ja, und die will ick nu endlich …«
»Still, Knarje«, sagt Bruno scharf. »Laß den Herrn reden.«
Schuckert spricht weiter: »Kneipe, Streichung der Vorstrafen, Konzession. Darlehen, die fünftausend Mark … das alles sind wie gesagt Dinge, über die wir uns unverzüglich unterhalten und einigen werden, sobald der Fall bereinigt ist. Der hat jetzt Vorrang. Das begreifen Sie als gute Deutsche doch, nicht wahr? Oder sind Sie keine guten Deutschen? Oder sind Sie nur auf Ihren Profit bedacht? Haben Sie nicht aus Idealismus gehandelt, sondern nur aus Gewinnsucht?«
Ein paar in die Fresse gehören dir für diese Fragen, denkt Bruno, aber er antwortet höflich: »Ich denke, wir sind gute Deutsche.«
»Das heißt: Sie wollen mir helfen.«
»Ja.«
»Sie sehen ein, daß Ihre persönlichen Belange zurückstehen müssen, bis …«
»Ja.«
»Neien!« heult Knarje wieder einmal auf. »Det sehe ick nich ein! Det is ’ne Sauerei! Det is Betruch, jawoll, Betruch is det! Rinjeleecht hamse uns!«
»Knarje!!!« schreit Bruno so laut, daß nicht nur der, sondern auch Schuckert zusammenfährt. »Halt endlich die Klappe!«
»Aba siehste denn nich …«
»Sei ruhich! Ick weeß, wat wa jetzt machen müssen, wenn wa iebahaupt noch zu unsa Recht kommen wolln. Keen Wort der Widerrede!«
»Schön, daß Sie so vernünftig sind«, sagt Schuckert. Jetzt hat er das makabre Gefühl, Brunos Ausdrucksweise zeigt, daß dieser es verloren hat. Oder daß er sich über gewisse Unabdingbarkeiten klargeworden und willens ist, sie hinzunehmen.
Geradezu lammfromm spricht Bruno: »In eene Lage wie die, in die wir uns befinden, muß man vanünftich sein, nich? Se ham unsre Untastützung, Herr Schuckat. Janz und voll.«
»Ausgezeichnet. Ich kenne Ihre Adressen. Sie verlassen Berlin nicht. Sie sind jederzeit für mich erreichbar.«
»Jut.«
»Herr Knargenstein geht seiner gewohnten Beschäftigung nach.«
»Wennse ma vahohnepiepeln wolln …«
»Knarje!« ruft Bruno.
Knarje schweigt sofort.
»Sie, Herr Knolle, werden nun wohl … neben der Arbeit für mich … den Weg gehen müssen, den alle Flüchtlinge gehen. Wir haben hier einen Rechtsstaat.«
»Hat mir ooch schon Herr Kriminalrat Prangel jesacht.«
»Was?« Schuckert kneift die Augen zusammen.
»Det wa hier ’n Rechtsstaat ham.«
»Was hat er noch gesagt?«
»Noch? Nischt! Wat wollten denn Sie noch sagen?«
»Ich wollte sagen: Sie müssen nun hinaus nach Marienfelde.«
»Da wohnen ooch?«
»Nein. Sie haben ja eine Bleibe bei Fräulein Pietsch. Aber in Marienfelde müssen Sie alle Formalitäten erledigen. Sie brauchen die Anerkennung als politischer Flüchtling, die …«
»Ick will die Kneipe in de Bundesrepublik, Herr Schuckat.«
»Gewiß, gewiß. Aber bevor Sie nicht alle Bescheinigungen und Bewilligungen haben, werden Sie nicht aus Berlin herausgeflogen. Das brauch ich Ihnen doch nicht zu erzählen.«
»Nee, det brauchense mir nich azähln. Det weeß ick schon allet.«
»Sehen Sie.«
»Ja, det sehe ick.« Fein habt ihr euch das ausgedacht, liebe Freunde. Aber ihr werdet noch staunen! Der Kriminalrat Prangel hält zu uns, der läßt uns nicht im Stich – so, wie ihr euch das vorstellt, wird es nicht gehen, Freunde, heißgeliebte.
Schuckert atmet auf.
»Ein intelligenter Mensch sind Sie, Herr Knolle.«
»Ick bemühe mir, eena zu sein.«
Wieder überkommt Schuckert dieses makabre Gefühl.
Ach was, zunächst einmal hat er die beiden friedlich gestimmt. Wenigstens diesen Knolle. Das ist die dominierende Persönlichkeit. Der wird auch Knargenstein auf Trab bringen.
»Na, dann würde ich gerne einmal von Ihnen hören, was sich alles abgespielt hat, seit Sie aus Brandenburg entlassen worden sind, Herr Knolle«, sagt Schuckert. »Wenn Sie inzwischen nebenan warten wollen, Herr Knargenstein …«