Die Praxis des Dr. Philipp Landon am Olivaer Platz ist in der großen Wohnung eines alten Hauses untergebracht, das von den Bomben verschont blieb. Es gibt da ein allgemeines Wartezimmer, aber viele Patienten (Schauspieler, Industrielle, Leute, die man kennt, oder solche, die Angst haben, erkannt zu werden), warten, nicht eben zum Entzücken von Landons Mutter, in verschiedenen Privatzimmern.
Die sehr kleine, sehr zarte und dabei sehr energische Schwester Hilde bringt diese Herrschaften, wenn die Reihe an ihnen ist, dann in die Praxis. Unter Umgehung des allgemeinen Wartezimmers, so, daß niemand sie sieht. Es gibt zum Glück kleine Gänge und Nebenräume in der Wohnung. Wie sie zum Sprechzimmer geführt werden, so verlassen diese Patienten es auch wieder, von Schwester Hilde geleitet.
Die bebrillte Hilde, die einer ernsten Musterschülerin gleicht, leistet trotz ihrer fragilen Erscheinung mehr als die kräftigste, resoluteste Oberschwester in einem Krankenhaus. Ohne sie wäre Dr. Landon glatt verloren. Hilde ›schmeißt den ganzen Laden‹, wie jemand einmal sagte. Sie schreibt die Krankengeschichten, kümmert sich um alle Telefonate, Verpflichtungen, Verabredungen und Termine Landons, ihr Büro ist sozusagen sein Stabsquartier. Es liegt direkt neben dem Sprechzimmer des Psychiaters.
Die kleine Schwester Hilde kennt keinen Menschen, auf der Welt, den sie so verehrt wie den Dr. Philipp Landon. Lange Zeit war sie selbst seine Patientin – schon als er noch an der Universitätsklinik arbeitete. Den anderen Ärzten erschien Hilde ein unheilbarer Fall. Ein hoffnungsloser Fall. Dr. Landon teilte diese Ansicht nicht. Das war kein hoffnungsloser Fall! Er würde Jahre benötigen, um es zu beweisen. Er benötigte Jahre. Er bewies es. Er heilte die kleine Frau. Heute ist sie völlig gesund. Und Dr. Landon ist für sie der größte Arzt der Welt.
Sie arbeitet, nein, sie schuftet geradezu blindwütig für ihn. Spätabends muß er sie immer wieder zwingen, endlich heimzugehen. Spätabends und nachts bestellt der Arzt nur Patienten, deren Schicksal ihm besonders am Herzen liegt, die er lange und gut kennt.
Zu der Zeit, da man Bruno und seiner Nelly bei Kempinski gerade die Horsd’œuvres serviert, sitzt eine fünfundzwanzigjährige, sehr hübsche und sehr elegant gekleidete Dame in Dr. Landons Sprechzimmer. Sie heißt Katinka Seyring, hat rehbraunes Haar und rehbraune Augen. Sie trägt ein Modellkleid aus weißer Shantungseide, hergestellt im Salon Detlev Albers, dazu Schuhe aus weißem Eidechsenleder, ein Täschchen aus demselben Material und weiße, durchbrochene Handschuhe. Sie ist kaum geschminkt. Ihre Mutter ist vor zehn Jahren an Krebs gestorben, der Vater ist ein hoher Beamter des Berliner Senats.
Dr. Landon behandelt Katinka Seyring seit eineinhalb Jahren. Sie ist sofort zu ihm gekommen, nachdem man sie aus der Klinik entlassen hatte. In die Klinik war Katinka, ein völliges Wrack, als Suchtkranke eingeliefert worden. Suchtkrank nach einem bestimmten Tranquilizer-Präparat. Katinka Seyring war Opfer der Meprobamat-Sucht geworden, nachdem sie jahrelang bis zu zwanzig Tabletten des Mittels täglich geschluckt hatte.
Im Anschluß an die Entwöhnung litt sie sehr unter Schlaflosigkeit, Unruhe und heftigen Angstgefühlen.
Dr. Philipp Landon hat sie inzwischen wieder weitgehend in Ordnung gebracht, sie ist eine folgsame Patientin. Natürlich hat sie sich in Dr. Landon verliebt. Sehr ungern denkt der Arzt an einen Abend zurück, an dem dieses Mädchen aus bestem Hause den Versuch unternahm, ihre Liebe mit nicht mehr zu überbietender Deutlichkeit dem offenbar blinden Psychiater zu eröffnen. Zum Glück war sogleich die gute Schwester Hilde (Göttin aus der Maschine – oder Göttin der Eifersucht?) zur Stelle gewesen. Seither hat sich derartiges nicht wiederholt. Katinka Seyrings Liebe ist in Verehrung umgeschlagen. Hofft Landon.
Verflixt noch einmal, was heißt ›hofft er‹?
Da ist nun eine bildhübsche junge Frau, da sind so viele bildhübsche junge Frauen unter seinen Patientinnen, die sich alle in Landon verliebt haben. In diesen Mann, der nie Zeit hat. Der aber ein Mann ist, nicht nur ein Arzt! Wie oft könnte er … wie oft wollte er … aber er darf doch nicht! Feine Situation. Landon macht sich stets über sich selbst lustig, wenn er diese Aspekte seiner Arbeit bedenkt. So lustig ist das aber gar nicht, verflixt noch einmal!
Katinka Seyring zum Beispiel – ein Jammer.
Ein Jammer!
»Sie haben mir so geholfen. Wenn ich doch auch ein einziges Mal etwas für Sie tun könnte, Herr Doktor!«
Das sagt sie immer wieder.
Landon hat sich heute eine halbe Stunde mit Katinka unterhalten, die Sitzung ist beendet.
»Sie machen hervorragende Fortschritte. Eigentlich sind Sie längst gesund. Ich komme mir wie ein Dieb vor, wenn ich Ihnen noch Geld abnehme.«
»Ich werde immer weiter zu Ihnen kommen, Herr Doktor! Und reden Sie nicht von Geld! Geld? Damit kann man doch einen Menschen wie Sie nicht bezahlen. Einen Gefallen, eine Hilfe, eine echte Hilfe möchte ich Ihnen erweisen!«
»Das können Sie«, sagt Landon.
»Das kann ich?« ruft sie begeistert.
»Ja.«
»Wann?«
»Gleich jetzt. Sofort.«
»Oh …!«
Landon weiß, daß er immer noch vorsichtig sein muß in der Wahl jedes seiner Worte bei Katinka Seyring. Er weiß aber auch, daß er um des Schicksals eines anderen Patienten willen über gewisse Dinge Klarheit erhalten muß, und das schleunigst!
»Passen Sie auf, mein liebes Kind«, sagt Dr. Landon, »Sie verkehren doch in der ersten Gesellschaft. Ihr Vater reist oft in die Bundesrepublik. Sie begleiten ihn stets. Auch im Westen kennen Sie sehr viele Menschen, nicht wahr?«
»Sehr viele, ja …«
Nach der Begegnung mit Herrn Olaf Martini im West-Sanatorium und nach Otto Fanzelaus eigenartigem Verhalten bei dieser Begegnung hat Dr. Landon sich entschlossen, aktiv einzugreifen. Bis ins kleinste ist vorbereitet, was sich ereignen soll.
Nun also sagt Landon zu Katinka Seyring: »Nach Ihnen kommt ein Herr. Ich erkläre Ihnen sofort, daß es sich um keinen Patienten, sondern um den Bekannten eines Patienten handelt. Dieser Bekannte interessiert mich. Ich möchte, daß Sie ihn sich ansehen und mir danach sagen, ob Sie ihn kennen und was Sie über ihn wissen.«
»Aber natürlich! Aber selbstverständlich! Aber mit tausend Freuden! Nur, wie soll das vor sich gehen?«
»Kommen Sie, mein liebes Kind«, sagt Dr. Landon. Er führt Katinka in das angrenzende Büro. Die Tür läßt er einen Spalt breit offen. Der winzigen Schwester, die hier über Karteikarten sitzt, gibt er nur einen Blick. Sie erhebt sich sofort und verläßt das Büro durch eine zweite Tür.
»Schwester Hilde holt jetzt diesen Herrn«, erklärt Landon. »Am besten stellen Sie sich hierher, da kann er Sie nicht sehen. Bleiben Sie ganz still. Nach ein paar Sekunden, in denen Sie ihn betrachten, komme ich zu Ihnen. Gut?«
Sie nickt begeistert und tritt etwas näher. Sofort weicht der Arzt zurück. (Ein Jammer. Ein Jammer!)
»Also bis gleich«, sagt er brummig und geht in sein Sprechzimmer. Katinka sieht ihm durch den Türspalt nach.
Eine andere Tür des Sprechzimmers (es hat drei) öffnet sich. Schwester Hilde läßt einen Herrn eintreten und verschwindet wieder. Der Herr trägt einen leichten Freskoanzug.
»Guten Abend, Doktor«, sagt Olaf Martini.
Landon schüttelt ihm wortlos die Hand und weist auf einen Stuhl, der so steht, daß Katinka ihn gut sehen kann. Martini nimmt Platz. »Einen Augenblick, bitte«, sagt Landon, geht zu einem Becken und wäscht sich umständlich die Hände. Martini wartet …
Schwester Hilde kommt auf die Bürotür zu, öffnet sie etwas weiter, ohne daß Katinka dadurch für den Besucher sichtbar würde, tritt ein und schließt die Tür. Danach blickt sie auf ihre Armbanduhr. Nach kurzer Zeit geht sie in das Sprechzimmer zurück.
»Ja, also …«, hat Landon hier eben begonnen und unterbricht sich nun selbst. »Was ist jetzt schon wieder?«
»Pardon!« sagt Schwester Hilde zu Martini. Derartige kleine Arrangements hat sie mit ihrem Chef bereits hundertmal getroffen, sie wirkt völlig überzeugend. »Der Arzt vom Rettungsdienst, Herr Doktor …«
»Ach, du lieber Himmel!« Landon greift sich an die Stirn.
»Vergessen? Das habe ich mir gedacht! Der Zettel mit der Telefonnummer liegt noch immer auf meinem Schreibtisch. Sie sollten doch sofort zurückrufen. Es ist wirklich keine Zeit …«
Landon steht auf.
»Nein, da ist wirklich keine Zeit zu verlieren.« Er erklärt Martini: »Es handelt sich um einen Patienten von mir. Gestern abend habe ich die Polizei verständigt. Der Patient war in seinem depressiven Tief selbstgefährlich und hätte heute stationär aufgenommen werden sollen. Zu spät! Nun haben wir die Bescherung. Arzt vom Rettungsdienst! Einen Moment nur, ja?«
»Aber natürlich …«
Hinter Schwester Hilde geht Landon in das Büro. Schließt die dichtgepolsterte Tür. Durch die zweite Tür verläßt Schwester Hilde das Büro bereits wieder.
»Kennen Sie den Herrn?« fragt Landon.
Katinka Seyring nickt.
»Ja! Ich habe ihn oft gesehen, wenn ich mit Papa in der Bundesrepublik war. Er heißt … er heißt …«
»Wie heißt er?«
»Es liegt mir auf der Zunge … warten Sie … wie ein Getränk … Martini! Martini heißt er!«
»Aha?«
»Und mit dem Vornamen … er hat so einen nordischen Vornamen … Olaf, ja, Olaf!«
»Mhm. Wissen Sie vielleicht auch, welchen Beruf er hat?«
»Er ist Politiker.«
»Politiker?«
»Ist er das nicht?«
»Keine Ahnung. Sie meinen, er sei einer.«
»Ich hielt ihn für einen.«
»Warum?«
»Weil ich ihn immer nur in Bonn getroffen habe.«
»In Bonn?«
»Auf Empfängen der Regierung. Ich glaube, Herr Martini hat mit hohen Dienststellen zu tun. Jedenfalls kam er stets mit Politikern …«
»Ohne weibliche Begleitung?«
»Nie mit einer Frau. Immer nur mit Männern. Mit Männern, die ich durch Papa kenne.« Katinka Seyring blickt Landon aufgeregt an. »Das überrascht Sie, ich sehe es! Kann ich Ihnen noch weiter helfen?«
Dr. Philipp Landon tut, als überlegte er, dann nickt er.
»Ja, Sie können mir noch weiter helfen …«
»Wunderbar!«
»Aber nur unter der Voraussetzung, daß Sie außer Ihrem Vater niemandem etwas von der Geschichte erzählen.«
»Das schwöre ich!«
»Ihr Vater ist Ihr bester Freund, der darf davon wissen. Und auch er kann mir helfen. Er soll doch versuchen, herauszubekommen, zu welchen Dienststellen Herr Martini Verbindungen hat. Vorsichtig muß er das tun. Um keinen Preis darf Mißtrauen oder Verdacht entstehen. Ich möchte gegebenenfalls auch gern wissen, was Herr Martini in welcher Dienststelle tut. Das ist alles sehr ungewöhnlich, nicht wahr, mein liebes Kind?« Seit er sie behandelt, nennt Landon Katinka Seyring ›Mein liebes Kind‹. »Aber wir kennen uns so lange, Sie sind hoffentlich davon überzeugt, daß ich nur meinem Patienten helfen will und keine dunklen Ziele verfolge.«
»Herr Doktor!«
»Na ja! Wenn Sie also etwas erfahren … wir sehen uns ja regelmäßig.«
»Sie können nicht ahnen, wie glücklich es mich macht, Ihnen endlich einmal helfen zu können! So sehr habe ich mich …«
Die kleine Schwester Hilde besitzt ein ausgezeichnetes Gehör. Deshalb tritt sie genau in diesem Moment durch die zweite Tür des Büros wieder ein.
»Also, dann herzlichen Dank, und bis Donnerstag, Fräulein Seyring.« sagt Landon und schüttelt seiner Patientin kräftig die Hand. »Schwester Hilde begleitet Sie hinaus.«