Als der Arzt in das Sprechzimmer zurückkommt, schaut Martini ihm neugierig entgegen. Landon schaut auf Martinis Schuhe. Der Winkel, in dem sie zueinander stehen, ist noch der gleiche, den sie bildeten, bevor der Arzt das Zimmer verließ. Genau der gleiche. Landon besitzt einen geschulten Blick für derlei. Sein Besucher hat sich, während er allein war, nicht erhoben. Oder er besitzt auch einen geschulten Blick für derlei …
Weiter also. Landon macht ein bedrücktes Gesicht, seufzt, nimmt Platz.
»Etwas Schlimmes?« fragt Martini. »Ich meine … mit Ihrem Patienten.«
Diesen Patienten gibt es überhaupt nicht. Es interessiert Landon nur, wie Martini auf eine ganz bestimmte Situation reagiert. Darum mimt er nun den Erschütterten und murmelt erstickt: »Tot.«
»Na ja …« Martini lächelt, fährt sich mit der Hand über das so interessant melierte und wohlgepflegte Haar und bemerkt: »Lieber Gott! Sterben müssen wir schließlich alle einmal, Herr Doktor. Um nun auf meinen alten Freund Otto Fanzelau zu kommen …«
So schnell geht das also bei dir, denkt Landon. Er läßt nicht locker. Er lügt dumpf weiter: »Selbstmord. Erhängt. Der Mann hinterläßt eine Frau und drei Kinder …«
»Tck, tck, tck.«
»Drei Jahre bei mir in Behandlung. Alles ging wieder ganz normal. Dann kam der Rückfall.«
»Tut mir aufrichtig leid für Sie«, sagt Martini. Es klingt mitfühlend.
»Für mich?« Der Arzt hebt die Schultern. »Die Frau und die drei Kinder könnten Ihnen leid tun!«
»Die kenne ich doch nicht!« Martini winkt ab. »Fremde, uninteressante Leute. Warum sollen die mir leid tun? Sie, Sie kenne ich, Doktor, Sie tun mir leid. Drei Jahre … mein Gott! Sie dürfen sich diesen Luxus, jeden einzelnen Patienten derart übertrieben zu betreuen, einfach nicht leisten.«
Das also ist die Reaktion des Herrn. Hat Landon erwartet. Nun geht er einen Schritt weiter. Er muß genau wissen, wie sehr Martini seine Mitmenschen, wie weit er menschliches Leben mißachtet.
»Selbstmord«, sagt Landon, »ist das Problem Nummer eins für die Ärzte dieser Stadt. Wissen Sie, daß Westberlin den Selbstmord-Weltrekord hält?« Er steht schnell auf, geht zu einem Regal und entnimmt ihm zwei dicke Bücher, mit denen er zurückkommt. »Das ist das Statistische Jahrbuch für 1962, das hier für 1963.« Er blättert in dem ersten Buch. »1962. Selbstmorde in der Bundesrepublik plus Westberlin: 18,5 auf 100000 Personen.«
»Nun, das ist aber doch nicht besonders schlimm.«
»Moment! Jetzt halten Sie sich besser fest. Jahrbuch für 1963. Selbstmorde allein Berlin-West: 40 auf 100000 Personen!«
»Um Gottes willen. Diese arme Stadt. Die Mauer natürlich. Diese elende Schandmauer! Wie wird das 1964 aussehen?«
»Schlimmer, vermutlich«, sagt Dr. Landon.
»Mein Gott! Jetzt verstehe ich, warum Otto mit solchem Fanatismus die Tunnel finanzierte!«
»Ich nicht.«
»Wie?«
»Ich verstehe es nicht. Was haben die Tunnel mit den Selbstmorden zu tun? Das sind die Statistiken der Jahre 62 und 63. Da hat Herr Fanzelau doch bereits Tunnel finanziert! Ist deshalb die Selbstmordquote gefallen? Im Gegenteil, sie ist hochgeschnellt! Also hat Herr Fanzelau … so viele Menschen er gewiß retten konnte, die im Osten lebten … im Westen jedenfalls keinen einzigen zu retten vermocht, nicht wahr?«
Ein paar Sekunden lang schweigt Martini.
Dann sagt er unbewegt: »Das ist richtig. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich meinte: Jetzt verstehe ich Otto erst richtig. Er wußte natürlich, daß er den Westberlinern ihre Verzweiflung nicht zu nehmen vermochte. Aber wenn er schon hier keine Menschen retten konnte, so konnte er es doch jedenfalls drüben – das sagten Sie selber!«
Schlau, denkt Landon. Verflucht schlau. Fast hätte ich dich in der Falle gehabt. Nun bist du mir entwischt. Nun weiß ich immer noch nicht, was mit dir los ist, wirklich los ist.
Landon blickt auf. Martini hat etwas gesagt, was ihm entgangen ist. Abermals eine Niederlage!
»Verzeihen Sie, ich …«
»Ich sagte: Und keinem hat Otto etwas von seiner Tätigkeit erzählt! Schon toll, nicht?«
»Toll, ja …«
»Mir nicht, Ihnen nicht. Obwohl Sie sein Arzt waren.«
»Und Sie sein alter Freund«, kontert Landon. Es ist ein schwacher Angriff, er weiß es selber. Er beginnt daran zu zweifeln, daß es ihm gelingen wird, irgend etwas Konkretes aus Martini herauszubekommen. Vielleicht, wenn er ihn beunruhigt?
»Trotz allem wußten natürlich Leute von den Tunnelbauten«, sagt er deshalb, sein Kinn streichend.
Martini blickt erstaunt auf. »Was für Leute?«
»Nun, jene, denen er das Geld gab, um die Tunnel zu bauen! Die doch auf alle Fälle.«
»Ach so, die … ja, die natürlich …«
»Und vermutlich auch Leute aus seiner Bank. Er hat immerhin Riesenbeträge abgehoben.«
»Dafür kann er die verschiedensten Erklärungen gegeben haben.«
»Richtig.« Wieder blufft Landon: »Dann kämen die Leute, mit denen Herr Fanzelau zusammenarbeitete, die ihn auf die Idee brachten.«
Martini wird blaß.
»Leute, die ihn auf die Idee brachten? Mit denen er zusammenarbeitete? Was sollen das für Leute sein? Kennen Sie sie?«
»Hm«, macht Landon nur. Das hat also gesessen!
»Ich fragte: Kennen Sie die Leute?«
»Ich habe eine Vorstellung davon, wer sie sind«, erwidert der Arzt. Er hat nicht die geringste Vorstellung.
Martinis hellgrüne, idealistisch strahlende Augen verengen sich.
»Liebster Doktor! So viel Arbeit – und nun wollen Sie auch noch Detektiv spielen.« Die Stimme klingt plötzlich drohend: »Das sollten Sie nicht tun. Ich würde es auch nicht tun.«
»Warum nicht?«
»Um mich nicht Unannehmlichkeiten auszusetzen … Wer weiß, an wen man da geriete! Gewiß an Leute, die nicht das geringste mit der Sache zu tun haben. Die würden dann natürlich ungemütlich werden, verdammt ungemütlich!« Martinis Augen öffnen sich wieder weit, er lächelt sonnig, liebkost sein Prachthaar, hat sich gefaßt. Wieder nichts, denkt Landon. Trotzig sagt er: »Der SSD wußte auf jeden Fall Bescheid, das steht doch wohl fest!«
»Dieser verfluchte SSD!« sagt Martini. »Wenn ich mir vorstelle, was da hätte passieren können …« Er preßt die Lippen zusammen.
»Es ist ja noch einmal gutgegangen.«
»Gott sei Dank! Zu denken, daß mein guter alter Freund diesen Verbrechern in die Hände gefallen wäre … daß er nach dem Osten verschleppt worden wäre …«
(Also auch diesen Angriff hast du glatt abgeschlagen. Nein, dir bin ich nicht gewachsen, das sehe ich jetzt. Hoffentlich bekommt Katinka Seyrings Vater etwas über dich heraus.)
Martini spricht: »Als ich gestern früh die ersten Meldungen hörte, habe ich mich sofort ans Steuer gesetzt und bin losgerast.«
»Ich dachte, Sie wären geflogen.«
»Wollte ich zuerst. Gab aber erst Platz in einer Nachmittagsmaschine. Bevor die landete, war ich schon in Berlin. Ist doch keine Entfernung von Frankfurt!«
»Keine Entfernung? Was für einen Wagen fahren Sie?«
»Einen Ferrari. Ich habe aus dem Ding rausgeholt, was drin war, kann ich Ihnen sagen!« Martini bemerkt, daß Landon ihn aufmerksam betrachtet, und räuspert sich ärgerlich. »Rederei über mein Auto! Wie geht es Otto also?«
»Ausgezeichnet.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Er bleibt noch bis morgen im Sanatorium, dann darf er nach Hause.«
»Um noch einmal entführt zu werden, mein Gott?« ruft Martini.
»Er wird von nun an bewacht. Peinlich genau bewacht. Man kann Ihren Freund nicht mehr entführen.«
»Ich spreche noch mit der Polizei. Die Bewachung muß perfekt sein! In diesem Alter … neue Aufregungen … wenn Otto das geringste geschieht … Gott behüte!«
»Ich bin auch noch da. Ich kümmere mich auch um Herrn Fanzelau«, sagt Landon langsam.
Im nächsten Moment hat Martini die rechte Hand des Arztes gepackt und drückt sie heftig. »Sie werden das tun? Sie versprechen mir das?«
»Sie können meine Hand ruhig loslassen. Denken Sie, ich höre ausgerechnet jetzt auf, mich um Herrn Fanzelau zu kümmern?«
Der veränderte Tonfall von Landons Stimme macht Martini noch einmal unruhig.
»Wie meinten Sie das, ›gerade jetzt‹?«
»Das ist doch nicht schwer zu verstehen … oder? Gerade jetzt, nach dem Zwischenfall.«
»Ach so …«
»Sie können meine Hand wirklich loslassen, Herr Martini.«
»Verzeihen Sie.« Der andere rückt den Stuhl zurück.
Er ist zu weit gegangen, zu deutlich geworden, er hat sich etwas vergeben, denkt er – und Landon sieht, daß er das denkt. Aber er sieht auch, wie leicht es Martini leider fällt, sich wieder zu beherrschen.
»Und was wird Otto nun tun?«
»Das weiß ich doch nicht. Sie sind sein guter alter Freund. Fragen Sie ihn!«
Martini blickt Landon ironisch an.
»Doktor …!«
»Bitte?«
»Er hat sein Geheimnis vor mir bis zuletzt gewahrt. Glauben Sie im Ernst, er würde mich jetzt einweihen, wenn er die Absicht hätte, weitere Tunnel zu finanzieren?«
Wieder ins Leere gegangen …
»Das stimmt. Er könnte es übrigens viel unbesorgter tun als bisher.«
Dies alles führt doch zu nichts mehr, denkt der Arzt. Nun spielt Martini Theater, man sieht es, man hört es.
»Otto litt an irgendeiner seelischen Erkrankung, sonst wäre er nicht zu Ihnen gekommen. Sie haben ihn geheilt. Aber besteht nicht auch hier die Gefahr eines Rückfalls? Sie erwähnten vorhin diesen Selbstmörder. Der war, wie Sie sagten, auch bereits wiederhergestellt. Und plötzlich kam die Katastrophe!«
»Das sind Fälle, die Sie nicht miteinander vergleichen können!«
»Ich verstehe nichts davon, natürlich. Trotzdem: Besteht theoretisch die Gefahr … oder die erhöhte Gefahr eines Rückfalls, wenn Otto so weitermacht wie bisher?«
Ekelhaft hilflos kommt Landon sich vor. Mechanisch stellt er seine typische Frage: »Was meinen Sie?«
»Ich? Ich bin doch kein Arzt! Mich dürfen Sie doch nicht fragen!«
»Tja, und ich bin da auch überfordert …« Landon ärgert sich. So viele Fallen hatte er gestellt. In keiner vermochte er diesen Chemiker (Chemiker?) zu fangen.
Landon überlegt angestrengt: Liegt Martini daran, daß Fanzelau weiter Tunnel finanziert? Oder liegt ihm, im Gegenteil, daran, daß Fanzelau auf keinen Fall weiter Tunnel finanziert? So oder so: Warum liegt ihm daran? Warum?
Martini spricht bewegt: »Was immer Otto tun wird … mir liegt nur seine Sicherheit am Herzen, seine Gesundheit. Wir sind so alte Freunde. Ich bin darum sofort hergekommen. Leider muß ich wieder fort. Aber ich bin froh, sehr froh, Sie kennengelernt zu haben, Doktor! Und zu wissen, daß Sie sich um Otto kümmern werden!«
Landon nickt nur.
Umsonst. Alles war umsonst.
Katinka Seyrings Vater – das ist jetzt meine einzige Hoffnung!
Martini verabschiedet sich, überhöflich.
»… und ich darf Sie immer anrufen und nach Ottos Befinden fragen?«
»Jederzeit.«
»Danke, Doktor, vielen, vielen Dank!«
Schwester Hilde geleitet Martini hinaus.
Beklommen bleibt der Arzt zurück.
Er tritt so an das Fenster, daß Martini, der eben auf die Straße kommt, ihn nicht sehen kann. Direkt vor dem Haus parkt ein großer weißer Ferrari.
Martini steigt ein.
Schwester Hilde kehrt zurück. Landon winkt ihr, stehenzubleiben. »Nun?« fragt Hilde.
»Nun gar nichts«, sagt Landon. »Da stehe ich, ein armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.«
»Sie konnten überhaupt nichts aus ihm herausbekommen?«
»Nein.«
Von unten ertönt ein mächtiges Toben. Der Ferrari schießt davon.
»Was war das?« Schwester Hilde fährt erschrocken zusammen.
»Er hat einen Rennstart veranstaltet«, antwortet Landon, dreht sich um und betrachtet die kleine Schwester mit einem schiefen Lächeln. »Zahlreiche meiner verehrten Kollegen hätten somit wenigstens etwas herausbekommen.«
»Und was hätten zahlreiche Ihrer verehrten Kollegen somit herausbekommen?«
»Daß Herr Olaf Martini an Potenz-Störungen leidet«, antwortet Dr. Philipp Landon grinsend. Aber ihm ist ganz und gar nicht fröhlich zumute.