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Margot kommt schon um halb vier an diesem kühlen, regnerischen 20. August. Sorgfältig gekleidet und frisiert, außerordentlich nervös. Da sitzt sie im Wartezimmer, den zusammenlegbaren Schirm auf den Knien.

Irgendwo klappern Schreibmaschinen, ab und zu hört man über den Dächern das Dröhnen einer Verkehrsmaschine, die sich unmittelbar vor der Landung, unmittelbar nach dem Start befindet.

15 Uhr 31. 15 Uhr 32.

Die Zeit vergeht und vergeht nicht.

Margot atmet hastig, spielt mit dem schweren, kleinen Schirm, klappert mit der Spitze eines Schuhes.

Jeden Moment muß nun Egon auftauchen. Margot hat Angst vor diesem Auftauchen, sosehr sie es wünscht. Egon war ganz eigenartig in den letzten drei Tagen. Er bekam das Schreiben des Anwalts, Margot selbst hatte dem Postboten das Kuvert mit dem Kanzleistempel abgenommen und Egon abends den Brief gegeben. Er las ihn auch – am nächsten Morgen fand sie den geöffneten Umschlag im Papierkorb. Das Schreiben nicht. Das mußte Egon eingesteckt haben. Er sprach in diesen drei Tagen kein einziges Wort über die Sache. Er war genau wie immer. Mürrisch, wortkarg, müde. Nach Hause kommen. Essen. Fernsehen. Ins Bett. Schlafen.

Anzeichen von Unruhe?

Nicht die Spur! Der Kerl hat Nerven. Nerven hat der Kerl!

15 Uhr 46.

Kein Egon.

Vielleicht ist er aufgehalten worden. Vielleicht hatte er einen Unfall mit dem Volkswagen. Sähe ihm ähnlich, jetzt noch schnell einen Unfall zu bauen!

16 Uhr.

Die Kanzleitür öffnet sich, Dr. Goldner verabschiedet einen Mandanten und kommt danach sofort auf Margot zu. Daß sie allein ist, scheint ihn nicht im geringsten zu überraschen.

»Guten Tag, gnädige Frau. Darf ich bitten?«

»Aber mein Mann ist noch nicht da …«

»Nein.«

»Wollen wir nicht auf ihn warten?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil er nicht kommen wird«, antwortet Dr. Jakob Goldner und schiebt Margot mit sanfter Gewalt in seine Kanzlei, wo er sie auf einen Stuhl drückt.

»Er wird nicht kommen?« stammelt Margot.

Mit einem Gesicht, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen, geht der Anwalt um den Schreibtisch herum und setzt sich gleichfalls.

»Ihr Gatte«, sagt er, »hat sich einen eigenen Anwalt genommen. Den Kollegen Hellwig aus der Uhlandstraße. Wie mir Kollege Hellwig am Telefon mitteilte, hat Ihr Mann nicht die Absicht, sich scheiden zu lassen.«

Margot fährt empor, der Schirm poltert zu Boden.

»Bitte!« sagt Goldner.

»Verzeihen Sie …« Margot setzt sich wieder, hebt den Schirm auf. »Ihr Gatte, sagt Kollege Hellwig, steht auf dem Standpunkt, er habe Ihnen überhaupt nichts angetan, sondern in liebevoller und aufmerksamer Weise alle seine ehelichen Pflichten erfüllt, für die Erziehung des Sohnes und ein komfortables Zuhause gesorgt, et cetera, et cetera.«

»Das ist … das ist …« In Margots Schläfen beginnt das Blut zu hämmern. »Eheliche Pflichten! Liebevoll und aufmerksam! Komfortables Heim! Wer hat dafür gesorgt? Arbeitslos war er jahrelang! Heute noch bin ich Sprechstundenhilfe, weil sein Gehalt so klein ist!« (Am Montag verdiente er noch ›einigermaßen‹, denkt Goldner. Die Mandantin, wie man sie sich erträumt.) »Ullis Erziehung! Da kann ich nur lachen! Wenn ich, ich! ich! Ullichen nicht erzogen hätte …«

»Gnädige Frau, bitte! Das ist alles ohne Bedeutung. Sie müssen … darf ich aussprechen, ja? Vielen Dank! … Sie müssen nun die Realität sehen, nichts anderes. Ihr Mann bestreitet jede eheliche oder sonstige Verfehlung. Warum er das tut …«

»Weil er aus dem warmen Nest nicht raus will! Weil er keine Alimente zahlen will! Weil er glaubt, mit mir kann er alles machen!«

»Warum er das tut«, beginnt Goldner zum zweitenmal, »spielt im Moment keine Rolle. Nicht für uns. Sie wollen die Scheidung. Dann ist es an uns, Beweise für so schwere Verfehlungen vorzulegen, daß eine Scheidung ausgesprochen wird. Was Sie mir gebracht haben, sind keine solchen Beweise. Damit müssen Sie sich heute endgültig abfinden.«

»Und alles weiterlaufen lassen? Das muß ich auch, ja?«

»Davon habe ich kein Wort gesagt. Wenn Sie es fertigbrächten, Ihre Erregung ein wenig zu zügeln, so daß ich normal mit Ihnen sprechen kann, wäre es möglich, weitere Schritte zu besprechen. In Ihrem gegenwärtigen Zustand ist das nicht möglich.«

»In meinem …« Margot strafft sich. »Ich bin ganz beherrscht. Bitte, Herr Doktor. Sie können mit mir alles besprechen. Nun?«

Goldner sieht sie zweifelnd an.

»Tja«, sagt er, »wenn es also eine Scheidung sein muß …«

»Es muß eine Scheidung sein!«

»… dann würde ich zunächst eine Privatdetektei empfehlen, mit der ich schon oft erfolgreich zusammengearbeitet habe.«

»Privatdetektei? Das kostet doch ein Vermögen!«

»Billig sind die Leute nicht. Aber ein Vermögen kostet es auch nicht. Nur Zeit. Zeit wird es wohl kosten. Und es ist meine Pflicht, Ihnen noch etwas zu sagen: Wenn die Nachforschungen des Büros kein belastendes Material zutage fördern und Ihr Mann erfährt, daß Sie ihn beobachten lassen, hat er einen Scheidungsgrund.«

»Dann hat …« Margot verschlägt es die Sprache.

»Völlig zerrüttetes Vertrauensverhältnis.« Goldner hebt eine Hand und läßt sie wieder fallen. »Falls Sie also nicht ganz überzeugt von der ehelichen Untreue Ihres Mannes sind, kann die Überwachung ein Schuß werden, der nach hinten losgeht.«

»Detektivbüro kommt nicht in Frage!« ruft Margot erschrocken.

»Dann muß es Ihnen gelingen, den einwandfreien Nachweis für Ehebruch allein zu erbringen. Ich will Ihnen dabei gerne nach Kräften behilflich …« Zu seiner Überraschung sieht der Anwalt, daß Margot sich blitzschnell erhoben hat.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«

Goldner steht auf.

»Ja, aber … was wollen Sie denn jetzt tun?«

»Ich weiß noch nicht. Ich muß es mir überlegen. Ich rufe Sie an.«

»Wie Sie wünschen, gnädige Frau …«

»Die … die Gegenstände lasse ich bei Ihnen.«

»Sehr gut. Ich finde es auch sehr gut, daß Sie sich nun erst noch einmal alles genau überlegen wollen. Tun Sie das in aller Ruhe. Machen Sie vielleicht eine kleine Reise oder …«

Die Kanzleitür fällt zu.

Dr. Jakob Goldner starrt sie verblüfft an.

Margot ist ohne ein weiteres Wort davongestürzt.

Hm.

Eine Hysterikerin, natürlich … aber müßte man nun nicht eigentlich …

Aus dem Sprechgerät ertönt eine Mädchenstimme.

»Herr Triller ist gekommen, Herr Doktor. Er bittet um Verständnis für den Überfall. Seine Frau hat, während er fort war, das Mädchen aus der Wohnung geholt. Er befürchtet, daß sie mit dem Kind in den Westen fliegt, wenn man nicht sofort etwas unternimmt und …«

»Schicken Sie Herrn Triller herein«, sagt Dr. Jakob Goldner.

Auch ein Beruf, den man sich da ausgesucht hat!