Gleich in der Bundesallee hat sie die Flasche geöffnet und den ersten Schluck genommen. Daß der Chauffeur sie im Rückspiegel beobachtet, merkt sie nicht.
Kreuzung Berliner Straße. Zweiter Schluck. Jetzt kannst du was erleben, du Luder.
Ranke-Platz. Großer Schluck. Nun wird wieder alles sehr rot, was Margot sieht: Menschen, Autos, Häuser.
Joachimsthaler Straße. Der nächste Schluck.
Beim Einbiegen in den Kurfürstendamm hält sie die Flasche gerade am Mund. Der Wagen ruckt. Die Flasche schlägt gegen Margots Zähne. Au! Na warte, du Hure, na warte!
Kurfürstendamm hoch.
Röter und röter sieht alles aus. Sehstörung durch Aufregung. Betrunken bin ich überhaupt nicht. Komisch, daß so viel Alkohol so wenig Wirkung zeigt. Da: Bleibtreustraße!
Ein letzter Schluck. Jetzt will ich mich zusammennehmen. Ich bin eine Dame. Vorhin hat dieser dämliche Chauffeur sich einmal umgedreht. Der soll nur ja keinen falschen Eindruck bekommen!
Die Taxe hält.
Bleibtreustraße 11.
Wieder beginnt das Blut in Margots Schläfen zu hämmern.
»Was bin ich schuldig?« Sie spricht geradezu überklar, findet sie.
Der Chauffeur findet das nicht. Junge, Junge, ist die blau! Schon doll, was in Berlin gesoffen wird, denkt der alte Mann. Auch von Frauen. Gerade von Frauen! Man sehe sich nur die da an. Ein schlechter Kerl könnte der jetzt glatt einen Fünfziger abnehmen!
Der Chauffeur ist kein schlechter Kerl. Er nennt den wahren Fahrtpreis. Margot bezahlt. Er ist ihr beim Aussteigen behilflich. Er reicht ihr den kleinen Schirm. Die Flasche lehnt sie ab.
»Wollen Sie sie haben? Schluck nach Feierabend? Noch halbvoll!«
»Also schönen Dank ooch, jnädije Frau.« Der Chauffeur steigt wieder ein und fährt sofort weg. Weg hier, bevor die Dame hinschlägt in ihrem Zustand …
In ihrem Zustand hat Margot es nicht ganz leicht, sich zurechtzufinden. Lange sucht sie auf einer Tafel beim Eingang. Namen verschwimmen vor ihren Augen. Sie kneift sie zusammen. So sieht sie klar. Da ist es.
MITTENZWEY. Dritter Stock.
Margot benützt den Lift.
Dann steht sie vor der Tür, die ein Messingschild trägt:
MITTENZWEY
Rot, rot, rot ist nun wieder alles!
Margot klingelt.
Hure. Du verfluchte Hure. Nun wirst du …
Die Tür geht auf.
Vor Margot steht, in Rock und Bluse, Barbara Mittenzwey. Rothaarig, grünäugig, jung, schön.
Und furchtbar erschrocken! Denn sie erblickt eine Furie, mit wirrem Haar, grauem Gesicht und irren Augen, der Speichel aus dem Mund rinnt, die keuchend atmet. Betäubender Alkoholgeruch schlägt Barbara entgegen.
Barbara ist allein zu Hause, ihr Mann hat eine Besprechung mit seiner ›Crew‹. In Angst vor dieser schrecklichen Person will Barbara schnell wieder die Tür schließen.
Das besiegelt ihr Schicksal.
Mit einem tierischen Schrei springt Margot Heisterberg vor, den schweren, zusammengelegten Schirm schwingt sie in der Hand, reißt die Hand hoch – und läßt den Schirm danach auf Barbaras Schädel niedersausen.
Die junge Frau schreit gleichfalls auf, fällt nach hinten und bewegt sich nicht mehr. Blut strömt über ihr Gesicht.
Margot stolpert und stürzt über die Liegende. Sie schlägt weiter zu, immer auf den Kopf, in das Gesicht hinein, rasend, von Sinnen, und rot, rot, rot ist alles, rot, rot, rot – so viel Blut …
Nachbarn haben die beiden Schreie gehört. Sie kommen herbeigerannt. Sie reißen Margot Heisterberg hoch, halten sie fest. Reglos steht die alternde, knochige Frau da. Reglos liegt die junge, vor zwei Minuten noch so schöne Frau Barbara Mittenzwey auf dem Boden. Ihr Gesicht ist ein Stück rohes Fleisch, gar kein Gesicht mehr.