An diesem Abend regnet es stark, aber es ist kein Gewitterregen. Egon Heisterberg und Kurt Mittenzwey sitzen in der Wohnung in der Bleibtreustraße. Sie schweigen, seit sie eingetroffen sind, seit einer halben Stunde schweigen sie.
Sie sind vom nächsten Polizeirevier gekommen. Beamte dieses Reviers waren auf den entsetzten Anruf eines Mieters am Nachmittag hierher gerast, um Margot Heisterberg zu verhaften, ihr Handschellen anzulegen und sie mitzunehmen – sieben Minuten nachdem sie Barbara Mittenzwey erschlagen hatte. Die Handschellen wären überflüssig gewesen. Völlig ruhig hat Margot sich abführen lassen. Seither wird sie unablässig von den Kriminalbeamten des Reviers vernommen. Sie hat wenig zu sagen. Eifersucht war es, erklärt sie, eine Affekthandlung unter dem Einfluß von Alkohol. Den hohen Promillegehalt in ihrem Blut hat ein Polizeiarzt sogleich festgestellt. Daß man die betrunkene Frau, die lallend und wie im Schlaf spricht, trotzdem immer weiter befragt, geschieht auf Veranlassung Heinz Schuckerts vom Amt für Verfassungsschutz in Berlin, der den Verhören persönlich beiwohnt. Immerhin haben die Heisterbergs in dem Haus Hasenauerstraße 67 gelebt, von dessen Keller aus jener Tunnel nach Ostberlin getrieben wurde – jener Tunnel, durch den Bruno Knolle gekommen ist.
Als Schuckert von der Ermordung Barbara Mittenzweys erfuhr, war er überzeugt, hier neue Zusammenhänge aufdecken zu können. Er ist noch immer davon überzeugt. Die Kriminalbeamten, die Margot verhören, sind das nicht. Für sie ist dies kein sensationeller Fall. Passiert häufig. Langweilig. Der Polizeiarzt hat zum Glück gefordert, daß die Befragung bald abgebrochen wird – angesichts des erschöpften Zustands der Verhafteten. Diese soll die Nacht in der Haftzelle des Reviers verbringen und morgen ins Untersuchungsgefängnis überführt werden.
Reine Routine bedeuteten für die Polizei auch die kurzen Verhöre Mittenzweys und Heisterbergs.
Die beiden Männer, die einander ein einziges Mal – in der Fluchtnacht – begegnet waren, erkannten sich auf dem Revier zunächst überhaupt nicht wieder. Sie wurden nacheinander befragt. Dabei stellte sich heraus, daß Heisterberg auch Barbara Mittenzwey nur ein einziges Mal, nämlich während des Tunnelbaus, zufällig begegnet war. Daß er kein Verhältnis zu ihr unterhielt, erschien dem vernehmenden Inspektor bald klar, Heisterberg brauchte es nicht mehr zu beteuern. Kriminalbeamte hatten in Eile Informationen über die Ehe der Mittenzweys eingeholt. Sie galt in der ganzen Nachbarschaft als außerordentlich glücklich.
Auch wie Barbaras Fotografie in Margots Hände geraten war, stand nach zwei Stunden fest. Mittenzwey wußte endlich, wo und bei welcher Gelegenheit er das Bild verloren hatte. Die Angestellte des Fotogeschäfts Roland wurde geholt; sie berichtete von ihrem Zusammentreffen mit Margot Heisterberg. Die Verhaftete bestätigte ihre Aussage. Es gab keine Widersprüche, keine Rätsel. Margot bat, Mittenzwey kurz sprechen zu dürfen. Der stille Mann mit den braunen Augen und dem braunen Haar lehnte ab, sie zu sehen. Er bat höflich, ihn zu entlassen. Er sagte, er wolle nach Hause gehen. Auf der Straße holte Heisterberg ihn ein.
»Würden Sie … ich könnte gut verstehen, wenn Sie nein sagen … würden Sie gestatten, daß ich Sie begleite?«
»Meinetwegen«, erwiderte Mittenzwey.
In der Wohnung waren die Kriminalbeamten und Fotografen und Spezialisten vom Erkennungsdienst längst verschwunden, Barbaras Leiche hatte man fortgebracht, das viele Blut weggewaschen. Der Boden war noch feucht …
Nun sitzen sie im Wohnzimmer, Mittenzwey und Heisterberg, der Regen trommelt gegen die Fensterscheiben, und die beiden Männer schweigen, schweigen seit einer halben Stunde.
Als endlich ein stockendes Gespräch in Gang kommt, ist es zuerst nur ein Monolog Heisterbergs.
»Grauenvoll«, murmelt er. »Entsetzlich … diese Sinnlosigkeit … Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll, Herr Mittenzwey … Ich bin mitgekommen, weil ich das Gefühl hatte, Ihnen etwas sagen zu müssen … aber nun weiß ich nicht, was … Es muß furchtbar sein … ganz furchtbar für Sie …«
Der Regen rauscht.
»Meine Ehe war eine Hölle … Sie können sich das nicht vorstellen! Krank, seelisch krank war Margot … pathologisch eifersüchtig, verstehen Sie? Auf mich, der ich bei Gott der treueste und solideste Mann der Welt bin! Aber eben diese Hysterie … nun wollte sie plötzlich auch noch die Scheidung … Das habe ich abgelehnt … ich … ich hatte vor, heute abend einmal ernst mit ihr zu sprechen. Unser Sohn … was, denken Sie, wie der gelitten hat unter diesen ständigen Ausbrüchen seiner Mutter?« (Arme Margot. Aber so etwas von Schwein, was ich habe! Wenn Margot weiter herumgeschnüffelt hätte, wäre doch alles mögliche herausgekommen. Bestimmt die Sache mit Lizzy Müller. Da habe ich jetzt Ruhe. Ich habe jetzt eigentlich überhaupt überall und ständig Ruhe. Natürlich tut mir dieser Mittenzwey leid. Man ist ja kein Unmensch.) »Es muß ein medizinischer Sachverständiger herangezogen werden … meine Frau ist nicht zurechnungsfähig … Aber ich, ich wußte das! Ich wußte das schon lange! Und so bin ich schuld an dem, was geschehen ist!«
»Niemand ist schuld.«
»Aber jemand muß doch schuld sein!«
»Nein«, sagt Mittenzwey, unendlich müde. »Nicht immer.«
Das wäre zu einfach. Das wäre zu schön. Zu schön für mich, wenn ich wüßte: Der oder die ist schuld daran, daß Barbara nicht mehr lebt. Wirklich schuldig! Aber so einen Menschen gibt es nicht … »Ich werde das alles nie vergessen können …«
»Aber ja …«
Der Regen trommelt gegen die Scheiben.
»Sie doch bestimmt nie!«
»Lange Zeit wohl nicht. Meine Frau erwartete ein Kind …«
»Oh …«
»… aber einmal werde auch ich es vergessen. Irgendwann einmal … Ich hoffe, daß ich es einmal vergessen werde.« Zusammengesunken sitzt Mittenzwey da.
»Kann ich Ihnen nicht helfen? Etwas für Sie tun …«
Mittenzwey schüttelt den Kopf.
»Vielleicht doch?«
»Bestimmt nicht. Ich kann auch Ihnen nicht helfen, Herr Heisterberg.«
»Wenn Sie mich brauchen, wenn Ihnen etwas einfällt … rufen Sie mich dann sofort?«
Mittenzwey nickt.
»Versprechen Sie es mir!«
»Ich verspreche es«, sagt Mittenzwey, ohne sich aufzurichten. Er hat das Gefühl, daß er nie mehr die Kraft aufbringen wird, den Kopf zu heben.
Der Regen trommelt, trommelt, trommelt.
»Ich muß es dem Jungen sagen«, murmelt Heisterberg.
Keine Antwort.
»Es tut mir leid … furchtbar leid für Sie …«
Keine Antwort.
Heisterberg steht auf.
»Ich gehe also dann jetzt … Auf Wiedersehen, Herr Mittenzwey.«
»Leben Sie wohl.«
Heisterberg verläßt die Wohnung.
Mittenzwey sitzt reglos. Er starrt auf den Boden.
Die Eltern, denkt er. Ich muß Barbaras Eltern verständigen. Eltern verständigen. Eltern verstän …
Natürlich – so haben wir zu Beginn dieses Berichtes geschrieben – zerstört das Leben uns alle, früher, später, ob wir uns nun bewahren wollen oder nicht. Es gab eine Zeit, da wollte Kurt Mittenzwey sich ängstlich bewahren vor allem. Danach kam eine Zeit, da wollte er das nicht mehr. Nun ist es soweit. Das Leben hat mit seiner Frau und mit ihm getan, was es mit allen Menschen tut, später, früher. Daß er noch atmet und seine Frau nicht mehr, spielt keine Rolle. Es ist soweit.