Am Tage, an dem die vierundzwanzigjährige Barbara Mittenzwey in Westberlin begraben wird, am 25. August 1964, wird auch der einundsiebzigjährige italienische Kommunistenführer Palmiro Togliatti in Rom beerdigt.
Die Westberliner SED, die aus diesem Anlaß ein Beileidstelegramm aufgeben wollte, wurde vom Schalterbeamten eines Westberliner Postamts abgewiesen. Der Beamte weigerte sich, das Telegramm anzunehmen. Daraufhin gab es einen kleinen Skandal.
Die Landespostdirektion sah sich schnellstens zu der Erklärung genötigt, der Beamte habe den Paragraphen I der Telegraphenordnung ›zu eng‹ ausgelegt. Dieser Paragraph I erlaubt es der Post, eine Annahme von Telegrammen mit bestimmten Texten politisch oder sittlich anstößigen Inhalts zu verweigern. Die Landespostdirektion fügte hinzu, daß im gegenständlichen Fall vorschriftswidrig unterlassen worden sei, ihre Entscheidung einzuholen.
Dieser Zusatz wiederum brachte den Westberliner Senat in Rage. Einer seiner Sprecher erklärte: »Die törichte Weigerung, das Telegramm weiterzuleiten, ist also auf das Versagen oder den Übereifer einer nachgeordneten Dienststelle zurückzuführen!«
So schob hier einer immer hübsch dem anderen den Schwarzen Peter zu.
Die Togliatti-Affäre interessiert Heinz Schuckert vom Amt für Bundesverfassungsschutz nicht. Ihn interessieren nur jene Schwarzen Peter, die ihm zugeschoben werden – im Zusammenhang mit dieser Knolle-Affäre.
Das ist wohl eine der verkorkstesten Geschichten, die er je zu bearbeiten hatte. Und der Dank für sein Mühen?
Heinz Schuckert ist kein Narr und keine Beamtenmaschine. Die ständigen Verhöre mit den verhafteten SSD-Leuten Bräsig, Kornmann und Rettich gehen ihm mächtig an die Nieren. Vor fünfzehn Jahren noch war er auf ihrer Seite, mächtiger als sie, von der großen ›Idee‹ wahrscheinlich besessener als sie. Und nun …
Was das rein Beruflich-Kriminalistische angeht: Zuerst war Schuckert, wie Mr. A. C. Snowden, fest davon überzeugt gewesen, daß mit dem Erscheinen Bruno Knolles und der geplanten Entführung Fanzelaus eine große Aktion des SSD eingeleitet werden sollte. Vielleicht sollte die Ouvertüre überhaupt nur ablenken. Auf jeden Fall war mit weiteren Ereignissen zu rechnen – daran glaubte Schuckert unbedingt.
Dann ließ ihn dieser Glaube im Stich, er begann Snowden für einen Mann zu halten, der sich in eine falsche Idee verrannt hatte. Mehr und mehr neigte Schuckert der Ansicht zu, daß die Aktion Knolle als Einzelunternehmen betrachtet werden mußte. Als Einzelunternehmen mit gewissen Folgen eben – wie der Flucht Franz Lutters.
Dann, sobald er vom Tod Barbara Mittenzweys erfahren hatte, änderte Schuckert seine Ansicht wiederum. Nun war sie neuerlich die des Mr. Snowden. So viele Zufälle, so viele Ereignisse, ohne Zusammenhang, in einem kleinen, genau zu umreißenden Kreis – das gab es nicht. Hier lag ein Grundmuster, ein ›pattern‹ vor, an dem weiter und weiter gewebt wurde.
Mit neuer Energie greift Schuckert ein. Er tut sein Bestes, wahrhaftig. Vorläufig noch ohne Ergebnis. Manche Untersuchungen dauern monate-, jahrelang, ehe sie zum Erfolg führen.
Aber was tut die Zentrale?
Die Zentrale des Verfassungsschutzes rüffelt Schuckert ohne Unterlaß für seine Unfähigkeit. Noch jemand weist dauernd auf das dilettantische Vorgehen der Berliner Dienststelle hin. Das wenigstens hat der Mann mit den Patschhänden und dem katastrophalen Haarausfall rasch feststellen können.
Kriminalrat Berthold Prangel ist dieser Jemand!
Immer verzweifelter darüber, daß er die Versprechen, die er Bruno und Knarje gegeben hat, nicht einlösen kann, hetzt Prangel gegen Schuckert. Natürlich nicht direkt. Es gibt da viele Wege …
Berthold Prangel – aber er hat ja offiziell nichts mehr zu vermelden! – ist felsenfest davon überzeugt, daß Snowden und Schuckert sich auf dem Holzweg befinden. Der Fall war eine von vielen Entführungsaktionen. Die Entführung ist vereitelt worden. Damit hat es sich. Hätte es sich haben sollen. Hatte es sich nur nicht.
Durch sein Hetzen, durch seine ironischen Kommentare hofft Prangel immer noch, die Leute, die da blind wie Maulwürfe herumwühlen, von seiner Ansicht zu überzeugen. Jedes Mittel ist ihm dabei recht. Und wenn der Herr Schuckert gefeuert wird! Und wenn der Mister Snowden gefeuert wird! Ach, aber das sind doch alles Wunschträume …
Berthold Prangel schläft kaum noch. Er liest die Nächte hindurch. Zur Zeit steckt er mitten im ›Zauberberg‹. Der hilft nicht weiter. Erlösung, endlich Erlösung hat Prangel sich versprochen, als Bruno bei ihm auftauchte. Anders, ganz anders ist alles gekommen …
Die Hauptleidtragenden sind natürlich Bruno und Knarje. An denen läßt Schuckert seinen Zorn aus. Auch andere Menschen haben unter dem Verfassungsschützer zu leiden: Kurt Mittenzwey, Egon Heisterberg, Margot Heisterberg. Immer wieder werden sie verhört, einander gegenübergestellt – aber immer sind Bruno und Knarje in der Nähe, um jederzeit greifbar zu sein.
Schuckerts Verhöre verlaufen allesamt ergebnislos. Bruno und Knarje haben Kurt Mittenzwey niemals gesehen, er sie auch nicht. Sie haben Egon Heisterberg nie gesehen, er sie auch nicht. Und sie sind Margot Heisterberg niemals begegnet.
Das können die Herrschaften ihren Großmüttern erzählen! tobt Schuckert. Margot Heisterberg darf sich auf Anklage wegen Mordes, politischen Mordes, nicht wegen Totschlags gefaßt machen – und Bruno und Knarje dürfen sich ruhig schon als Mitangeklagte sehen!
Bei Margot Heisterberg wirken derlei Drohungen nicht. Sie befindet sich in einem Zustand, in dem ihr alles gleichgültig ist.
Auch Bruno reagiert nicht. Nur seine Empörung über die Behandlung, die man ihm und Knarje angedeihen läßt, steigt. Und seine Sorge, er könne noch in Berlin sein, wenn die Mitzi aus der Klinik entlassen wird. Ach, aber er ist und war doch immer ein Masselmolch! Es wird schon gut gehen, toi, toi, toi!
Als einziger ist Knarje von diesen ewigen Gegenüberstellungen, dem Geschrei, den Verdächtigungen erschüttert, heftig erschüttert. Seine Angst steigt täglich, man kann es direkt sehen.
»Mensch, nimm dir zusamm«, mahnt Bruno.
»Ick kann nich … ick kann nich mehr … Jeht doch allet schief … wenn der Schuckat uns ooch nischt nachweisen kann …«
»Det kann der nie!«
»… denn holn uns die Brieda aus ’n Ostn. Wirste sehn. Wie lange solln wa denn noch in Berlin bleim? Wir wartn ja hier direkt uff’t Abjeholtwerden!«
»Knarje«, spricht Bruno feierlich, »et jibt bloß eine einzije Sünde im Leben, und det is, den Mut verlieren.«
»Quassel doch nich so’n Stuß!«
»Det is keen Stuß! Und det is ooch nich von mir. Det hat ’n berühmta Dichta jesacht.«
»Hinter den war bestimmt nich der SSD her!«
Ernste Sorgen muß man sich machen um Knarje.
Wie kann ein Mann, ein erwachsener Mann, sich so gehenlassen?
Und dieser Schuckert, der bohrt weiter, tagein, tagaus.
Zum Verzweifeln.
Wenn Knarje nur durchhält! Er wird immer stiller und schmäler. Bruno wird immer wütender. Am 25. August, wieder einmal über Franz Lutter befragt, platzt ihm dann der Kragen …
»Sie sind also nach wie vor der Überzeugung, daß Ihr Kriegskamerad an jenem Sonntag infolge Überarbeitung und chronischen Alkoholmißbrauchs seelisch einfach zusammengeklappt und in die Schweiz geflogen ist … mit seiner Frau?«
»Ja, der Überzeugung bin ick.«
»Und wenn ich Ihnen nun sage, daß dieser Flug vorbereitet war? Daß die Lutters ihre Häuser in Berlin mit Hypotheken belastet und den größten Teil ihres Vermögens Zug um Zug und Jahr um Jahr in die Schweiz gebracht haben?«
»Herr Schuckat, det hab ick Ihn’ vielleicht nu schon zwanzichmal jesacht: Die Luttas, die warn nich bloß total vasoffn, die warn ooch anjekotzt bis hier von diese janze Politik und diese janze Weltlage. Darum hamse wohl ooch so jesoffen.«
»Haben die beiden mit Ihnen je über Politik gesprochen?«
»Bloß so … üba Relijon und wat im Westen los ist … det wissense doch ooch schon längst von mir!«
»Und Sie finden es gar nicht verdächtig, daß solche Leute unmittelbar nach einer mißglückten Entführung flüchten?« (Schuckert spricht niemals davon, daß das Ehepaar floh – unmittelbar nachdem er sich mit Lutter in einem Studio des Senders Freies Berlin unterhalten und ihm Fragebogenfälschungen vorgeworfen hatte.)
»Nee. Det finde ich übahaupt nich vadächtich. Im Jejenteil. Det hat Franz vamutlich jerade noch jefehlt.«
»Was?«
»Na, det ick, sein Kamerad, mir nu ooch noch politisch betätije!«
»Schreien Sie nicht, Herr Knolle!« schreit Schuckert.
»Vielleicht sindse selbst ooch’n bißken stilla! Anjekotzt von all det, wat in unsa jeliebtet Vataland passiert, is der Franz schon seit Jahren jewesen! Also warum soll der denn nich schon seit Jahren seine Emigrazjon vorbereitet ham?«
»Fräulein Diana Lutter ist übrigens gestern ebenfalls in die Schweiz geflogen.«
»Ach nee!« Bruno ballt bereits die Fäuste.
»Ach ja! Wir hatten keine gesetzliche Handhabe, das zu verhindern.«
»Schade. Nich, detse keene Handhabe ham. Det is ’n Glück! Schade, det ick die Kleene nich uff Wiedasehn sagen konnte.«
Schuckert fährt sich gereizt durch das spärliche Haar. Er schwitzt plötzlich heftig. Am Dienstag, dem 25. August, ist es wieder heiß in Berlin. (Auch die Trauergäste am Grabe Barbara Mittenzweys schwitzen. Ihre Mutter erleidet einen Schwächeanfall.)
»Werden Sie bloß nicht frech, Herr Knolle, ja?«
»Frech? Ick? Wieso frech? Ick hätte Dianan wirklich jerne Adschöh jesacht.«
Bruno betrachtet den Fast-Kahlkopf.
Jetzt ran, aber richtig!
»Ick will Ihn’ mal wat flüstan, Herr Schuckat: Mein Freund Knarje und ick, wir sind nu satt, vastehnse?«
»Jawohl, satt«, echot Knarje, aber sehr leise. Er sieht schrecklich bedrückt aus. Die zweiten fünftausend Mark bekommt er nie, davon ist er überzeugt, da kann der Bruno noch so loslegen. Diese Hunde von den Behörden sind immer stärker. Ach …
»Herr Knolle …«
»Glooben Sie villeicht, wa lassen uns det in alle Ewichkeit jefalln? Det Vahörn und Vahörn und Vahörn, wat zu nischt führt? Glooben Sie villeicht, wir lassen uns behandeln wie Vabrecha? Wir, wir ham den Westen einen Dienst erwiesen!«
»Ja, gegen entsprechende Entlohnung!«
»Sie nehmen mir det Wort aus’n Mund! Wo isse denn, die Belohnung? Hat Knarje seine Penunse? Habe ick meine Kneipe? Scheiß hamwa – alle beede. ’n Wunda, detse mir nich überhaupt schon an ’n Osten ausjeliefat ham wejen die BVG-Sache und den Knarje in Kahn jeschickt wejen die Fülme!«
»Was nicht ist, kann noch werden, Herr Knolle. Hüten Sie Ihre Zunge. Kriminalrat Prangel ist nicht die Justizverwaltung. Die entscheidet, was mit dem belastenden Material geschieht. Ewig wird es nicht im Polizeipräsidium bleiben!«
Ja, und da platzt Bruno dann der Kragen. Bedauerlicherweise …
»Ach, ’ne kleene Erpressung, wat? Det kenne ick bloß leida schon, Herr Schuckat. Det hamse nämlich schon in Osten mit mir jespielt! … Laß mir, Knarje, ick weeß, wat ick rede! … So ’ne Sauerei! Also wenn Knarje und ick Ihn’ nich huschhusch zu een janz prächtijen Erfolg vahelfn, denn lassense uns hochjehn, wat? Janz kleen und mickrich müssen wa sein vor Ihn’, wat? Imma weita herkomm, bis Sie ’n jroßa Mann jeworden sind – in die Augen von die Amis und die Tommies und Ihre Vorjesetzten!« Heinz Schuckert ist über den gefährlichen Ausbruch dieses bislang so sanften Ganoven derart verblüfft, daß er nicht antworten kann. Bruno tobt weiter: »Aba daraus wird nischt, des lassense sich jesacht sein! Ick und Knarje, wir retten eenen det Leben … und wat is der Dank? Det wa behandelt werden wie der letzte Dreck! Ick, zum Beispiel, ick könnt glatt vahungan, wenn et nach Ihn’ jinge!«
»Wie … wieso?«
»Hundat Mark Friedlandhilfe ha’ick jekricht. Und nu endlich hundatzwanzich Mark im Monat von’t Sozialamt.« Danach sehr laut und sehr hochdeutsch: »Leben Sie mal von hundertzwanzig Mark im Monat, Herr Schuckert!«
»Sie könnten ja vielleicht auch arbeiten.«
»Nee, det kann ick vielleicht ebent nich! Weil se mir noch keene Arbeet vamittelt ham! Und det hamse nich, weil ick noch keen Ausweis habe, als anerkannta Flüchtling!«
»Bruno …«
»Laß man, Knarje, laß man. Det muß jesacht wern! Wie lange soll det denn mit uns noch so weitajehn, Herr Schuckat? Wie lange soll ick meine Valobte noch uff de Tasche liejen? Wie lange soll ick det noch ertragen, dieset Leben, wo ick nich weeß, wat is nu eijentlich … dieset Leben zwischen Boom und Borke?«
»Sie müssen doch einsehen …«
»Ick sehe janischt mehr ein!« ruft Bruno. Und jetzt verliert er zum erstenmal ganz die Beherrschung. »Wenn nich bald wat für uns jeschieht, und zwar janz vaflucht bald, denn dreh ick ’n Ding!«
»Bruno!« flüstert Knarje, erbleichend.
»’n Ding, jawoll! Du hast nischt mit zu tun! Mache ick janz alleene. Fümf Jahre hat ’n Mann wie der Kriminalrat Prangel jebraucht, bis er mir hochnehmen konnte wejen die Zookasse! Und det war in seine Blütezeit! Nu issa ooch schon alt. Und wenn ick mir det so ansehn muß, wat sich heute allet Kriminala nennt, da kann ick janz beruhicht meine zehn Jahre lang arbeetn … wenn nich übahaupt für imma!« Bruno steht auf. »Los, Knarje, wir jehn. Morjen kommwa wieda. Wenn der Herr Schuckat sich ’n bißken abjereecht hat. Denn kann er uns noch eenmal denselben Salm fragen. Aber denn is Sense, Herr Schuckat, denn is Schluß!«
Bruno stößt den wachsbleichen Knarje zur Tür.
Der Verfassungsschützer schreit: »Morgen frage ich Sie nicht mehr denselben Salm! Morgen stelle ich Sie beide zum erstenmal den SSD-Leuten gegenüber! Im Untersuchungsgefängnis!«
Aber da ist Schuckert schon allein. Lautlos verflucht er zunächst Bruno und Knarje, dann Snowden, Prangel und seine Vorgesetzten in Köln, schließlich sich selbst. Dabei wird er immer trauriger. Und als seine Traurigkeit ihn endlich kaum noch atmen läßt, denkt Heinz Schuckert dies: Was für ein Unglück, was für ein großes Unglück, daß Kommunisten den Kommunismus verraten haben …