Die Dicke trifft eben ein!« tönt es aus dem ›Walkie-Talkie‹.
Mittenzwey, oben auf dem Dachboden, atmet auf. »Einer hat sie durchgekriegt. Mit einem Trick. Bruno Knolle heißt er, sagt er.«
Ungewöhnlich, daß das einer sagt, solange er drüben ist! Die meisten sagen es sogar höchst ungern und Mittenzwey möglichst ins Ohr, wenn sie im Westen sind und er mit seiner Liste herumgeht. Die Namen, die ihm dann genannt werden, sind sehr oft Tarnnamen. Darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, ob die gleichen echten oder falschen Namen auf der Liste stehen. Solange nicht alle Namen auf der Liste abgestrichen werden können, ist die offizielle Aktion nicht beendet. Ungemeldete Flüchtlinge müssen kommen! Sonst ist etwas passiert.
›Fanzelau-Leute‹, die sich mit ihren Listennamen nicht melden, wenn der Tunnel drüben entdeckt wird und die Operation automatisch zu Ende ist, hat Mittenzwey dem Tunnel-Financier sofort telefonisch zu melden. Das mußte er schon ein paarmal, und immer hat Fanzelau dann die gleichen Worte gesagt: »Schlimm, schlimm!«
Bruno Knolle …
Einer, der gleich drüben und vor einem Haufen Menschen seinen Namen nennt!
Hm. Mal sehen.
Die Liste liegt auf Mittenzweys Knien. Er knipst eine Taschenlampe an. Bruno Knolle. Da ist er schon. Kein Fanzelau-Mann. Kommt auf Wunsch des Studenten Horst Lutter …
»Knolle sagt, er bleibt noch drüben und hilft«, meldet Walter.
Was soll man da antworten?
»Fein«, antwortet Mittenzwey und knipst die Taschenlampe aus.
»Der sechsunddreißigste«, meldet Walter aus dem Keller. Er spricht jetzt schneller, denn es geht nun alles schnell. »Der vierzigste … der fünfundvierzigste … der dreiundfünfzigste … der achtundsechzigste …«
Der Wäschereikeller wird immer voller, die Flüchtlinge schleichen lautlos die Treppe hinauf in die Hinterräume des Ladens. Kein Licht. Kein Geräusch. Warten. Jetzt darf niemand auf die Straße.
Das ist klar.
Unten, an der Schachtsohle, dirigiert ein junger Elektriker den Verkehr. Flüchtling um Flüchtling tritt auf ein schmales Brett, an dem ein Stahlseil befestigt ist, und hält sich daran fest. Eine Winde zieht Brett, Seil und Menschen in den Keller empor. Und der nächste. Der nächste. Der nächste …
Manche Flüchtlinge weinen vor Aufregung, Schwäche oder Freude, ein paar Leuten wird schlecht. Sie bekommen Kognak.
Die Dicke hat jetzt ein Nilpferdkinn, das immer noch weiter anschwillt und sich bereits verfärbt, und sie fragt dauernd nach dem lieben Herrn, der sie k.o. geschlagen hat.
»Ich will ihm schenken, was er sich wünscht! Ich habe Verwandte im Westen. Die haben Geld. Er kann alles kriegen. So ein guter Mensch!«
Ein kleiner Junge sagt: »Aber in der Höhle waren ja gar keine wilden Tiere, Mutti!«
Und immer neue Menschen werden mit der Winde heraufgezogen, immer neue …
Auf dem Dachboden hat Mittenzwey wieder den Feldstecher vor den Augen, das Sprechgerät am Ohr. Er meldet weitere Flüchtlinge, welche die Mottlstraße herunterkommen. Ein Ehepaar. Eine Frau mit Kind. Zwei Männer. Ein Mann.
Das Geschäft blüht!
Wenn Mittenzwey über die Mauer blickt, muß er ständig die großen Tafeln sehen, die davor stehen, besser gesagt, stehen geblieben sind. Sie verlassen den französischen Sektor liest man auf der einen, Vous sortez du secteur francais auf der anderen. Daß hier ein Sektor zu Ende ist, daß es hier nicht weitergeht, das würde man ja wohl auch ohne die Tafeln bemerken. Aber die Franzosen haben sie mit voller Absicht stehen lassen. Sie wollen damit zum Ausdruck bringen, daß sie die Mauer nicht anerkennen. Dasselbe haben die Engländer und die Amerikaner in ihren Sektoren getan. Nein, die Alliierten werden die Mauer nicht anerkennen. Niemals!
Damit verschwindet das Ding natürlich keineswegs, aber alles kann man schließlich nicht haben! Vielleicht, denkt Mittenzwey, hätte man die Tafeln jedoch auf viel höhere Pfosten und andersherum stellen sollen. So wie sie da stehen, vermag sie nämlich kein Mensch im Osten zu sehen, womit diese Dokumentation unerbittlicher westlicher Entschlossenheit viel von ihrer Wirkung verliert.
Mittenzwey holt jäh Luft.
Eben lag die Mottlstraße noch verlassen. Jetzt rasen plötzlich zwei Motorräder heran, noch zwei … acht … zehn … sechzehn … und auf dem Wachtturm flammen, blendend hell, Scheinwerfer auf!
»Vopos!« schreit Mittenzwey in das Sprechfunkgerät. »Alarm … sofort weg vom Hof!«
Unten im Keller reißt Student Walter Lehner den Telefonhörer ans Ohr und gibt die Warnung zum anderen Tunnelende weiter. Der Junge dort brüllt in den Hof: »Vopos!«
Panik bricht aus.
Etwa zwanzig Menschen wollen noch in den Einstieg – nun alle auf einmal. Sie schreien und fluchen, sie treten und schlagen. Die beiden Fluchthelfer prügeln mit den Kolben ihrer Pistolen auf sie ein.
»Seid doch vernünftig!«
»Frauen und Kinder zuerst!«
»Wollt ihr zurück! Idioten! So kommt überhaupt keiner durch!«
»Lassen Sie die Frau vor!«
»Sie feiger Hund, warten Sie doch ’n Moment!«
»Dir werde ich geben, du Aas! Treten, was?«
Der sanfte, stille Bruno Knolle schreit (jetzt kann man ruhig schreien) den Wachen zu: »Laßt den Dietrich im Schloß!«
Draußen braust ein Motorenschwarm heran, dann hört man, wie die Räder aufs Pflaster fliegen, dann trampeln Stiefel.
»Weg vom Tor!« schreit Bruno.
Die Wachen kommen zum Einsteigloch gerannt. Hier haben inzwischen die Vernünftigen gesiegt. Acht kräftige Männer sorgen für Ordnung, sie verteilen Ohrfeigen, Hiebe und Schwinger an jeden, der sich vordrängt.
Da wird an das Tor geschlagen – nicht mit Fäusten. Das müssen Kolben von Maschinenpistolen sein.
»Aufmachen!«
Der Bruno Knolle bekommt einen Lachanfall. »Sofort!« schreit er. »Bloß ’n kleen Moment, wir sind noch nich janz anjezogen!«
In die letzten Worte hinein dröhnt schon der erste MP-Feuerstoß.
»Kriegen det Schloß nicht uff wegen den Dietrich«, sagt Bruno, während er einer alten Frau hilft, die entsetzlich zittert. »Jetzt werden sie ’t rausschießen.«
Stimmt.
Ein zweiter Feuerstoß. Ein dritter. Holz splittert. Plötzlich schwirren Kugeln durch die Luft. Querschläger treffen auf Steine, schlagen Funken, knallen in verrückten Umschlagwinkeln gegen die Hofwände, pfeifen den letzten Menschen beim Einstieg um die Ohren.
»Hinlegen!« brüllt Bruno.
Die Vopos schießen mit drei, vier, fünf Maschinenpistolen.
Noch drei Leute vor dem Einstieg. Noch zwei. Noch einer: Bruno Knolle. Er hat bis zuletzt gewartet. Jetzt schwingt er sich in das Loch. Mit dem Teddybären des kleinen blassen Mädchens. Der ist nämlich liegengeblieben. Als Bruno in die Tiefe gleitet, sieht er, wie das schwere Tor auffliegt und die Vopos in den Hof stürmen.
Die drüben im Keller hören das wahnsinnige Belfern der Schüsse. Sie sind verzweifelt. Sie können sich nicht vorstellen, daß da auch nur noch einer durchkommt. In sechzig Sekunden zählen sie über hundertzwanzig Schüsse.
Aber: »Sie kommen!« schreit der Elektriker an der Schachtsohle.
Gleich darauf wird eine Frau heraufgewunden. Und noch eine. Und ein Mann. Und ein Junge. Neun, zehn, dreizehn, fünfzehn Menschen tauchen nacheinander aus dem Schacht empor, taumelnd, zerschrammt, blutend, außer Atem. Die beiden Wachen. Die Helfer vom Einstieg. Der Ost-Telefonist. Und immer weiter die Schüsse. Sehr nahe jetzt. Das muß im Tunnel sein! Zum Glück verläuft der in zwei Biegungen. Aber wie weit die Vopos sich vorwagen …
Offenbar sehr weit, denn da rattert, überlaut, wieder eine MP los.
Der Elektriker hat genug. »Zieht mich rauf!« schreit er.
Sie ziehen ihn herauf. Kaum ist er oben im Keller, da klingt eine Stimme aus der Tiefe: »He! Und icke? Wollt ihr mir hier vermodern lassen?«
Nicht zu fassen: Da steht doch tatsächlich dieser Bruno Knolle, der von sämtlichen Beteiligten bereits mit dem größten Bedauern als Totalverlust abgebucht worden ist, auf dem Schachtgrund. Sein neuer Anzug und sein niedliches Hemd sind ein bißchen verdreckt. Er gestikuliert wild.
»Runter det Seil! Los, los!«
Sie lassen es hinunter.
Sie winden den Bruno hoch.
Sein grinsender Seehundsschädel erscheint, seine ganze lange, hagere Gestalt. Den Teddybären hält er unter dem Arm. Sägemehl rieselt aus dem Spielzeug. Das kleine Mädchen, dem der Bär gehört, heult los. »Nu weene man nich«, sagt Bruno Knolle tröstend. »Kriegst ooch ’n janz feinen neuen von Mutti! Siehste, der da, der hat mir det Leben jerettet. Ich habe mir verteidigt mit ihm. Wäre dir lieba jewesen, die Vopos hätten in mir ringeballert statt in ihn?«
»Klar!« sagt die Kleine treuherzig, und Bruno lacht.
Im nächsten Moment gibt es einen Krach, als stürze der ganze Keller ein. Aus dem Schacht schießt eine Druckwelle, die alle durcheinanderwirft, auf den Boden, gegen die Wände. Die Vopos haben Sprengkörper in den Tunnel geschmissen. Wäre noch einer unten gewesen, es hätte ihm die Lungen zerfetzt.
Der Boden, die Wände schwanken heftig.
Die Menschen sind so angsterfüllt, daß keiner die Kraft aufbringt, zu schreien oder zu fluchen. Es bleibt ganz still im Keller. Endlich ertönt Brunos Stimme: »Willste nu wieder ’n braunen Bären haben oda zur Abwechslung mal ’n schwarzen?«