Auf der Straße sagt der verstörte Knarje: »Nee, weeßte, nee, Bruno, da biste aba doch zu weit jejangen! Du hast wohl nich mehr alle Tassn in Schrank, wat? Azählst den Mann, dette ’n Ding drehn willst … Mensch!«
»Na ja«, antwortet sein Freund, »da hamse mir valassn, meine Nerven, ick jebe’t zu. In den Moment, Knarje, da hab ick übahaupt nich mehr jewußt, wat ick sage, so ’n Rochus hatte ick! Laß man: Die ham jewirkt, die Worte! Ooch die!«
»Denkste!« Knarje starrt auf das Pflaster.
»Aba jewiß doch! Dir klammer ick dabei doch absolut aus, Junge. Und der Trimoli heute, der war fällich! Übafällich! Det is doch die einzije Sprache, die der Schuckat vasteht. Wenn wa jetzt nich loslejen, ham wa unsre letzte Schangse vasaut und kieken in Mond.«
»Ja«, murmelt Knarje verloren, »und morjen stellta uns die SSD-Brüda jejenüba. Det ooch noch!«
Der Gedanke an diese Gegenüberstellung ist Bruno alles andere als angenehm, aber er muß Knarje aufrichten, ihm Mut machen, neue Hoffnung. Wie soll das denn sonst noch enden?
»Det ooch noch, jawoll! Und wenn schon! Haste Angst vor die dreie, die da sitzen? Isset dir villeicht peinlich? Peinlich! Müßte mir doch ville peinlicha sind, Mensch! Du, du hast den Bräsig und den Hauptreferenten eenmal in dein janzet Leben jesehn. Icke – mir hattense wochenlang in de Mache drüm. Und trotzdem isset mir vollkomm schnuppe; det ickse nu wiedasehe.«
»Et is dir nich schnuppe, Bruno.«
Nein, das ist es nicht, aber antworten kann man nur: »Wat? Det gloobste nich? Denn warte mal ab; wat ick morjen ufführe, Mensch! Außadem – vielleicht war det bloß ’n Trick von den Schuckat, und er stellt uns die nie jejenüba.« Bruno meint, daß er immer noch in Fahrt ist, doch Furcht, Sehnsucht nach einem Freund bestimmen seine nächsten Worte: »So. Und nu jehnwa bei Prangeln. Der kricht ooch Zunda!«
»Du«, sagt Knarje leise, »nimmste mir det sehr übel, wenn ick nich mitkomme?«
»Schiß?«
»Ja.«
»Junge, Junge, mach man jetzt bloß nich schlapp. Fümf Minuten vor ’n Endsiech!«
»Et jeht vorüba …«
»Also, leje dir heute mal uff de Feije. Kann ja vastehn, det dir det aschrockn hat, wie ick mit den Schuckat, den Hund, Schlitten jefahrn bin. Aber morjen biste wieda okee, wat?«
»Ja«, sagt Knarje. Er sieht Bruno todtraurig an. Dann greift er in die Tasche, holt einen Fünfzigmarkschein heraus und drückt ihn dem Freund in die Hand.
»Hast wohl ’n Knall?«
»Mehr ha’ck nich bei mir.«
»Aba ick schulde dir doch noch imma die Fümfhundat!«
»Det hat Zeit. Nu nimm schon die Fuffzich!«
»Na, denn danke ick dir ooch schön«, sagt Bruno gerührt und steckt den Schein in die Tasche. »Bist schon in Ordnung, Knarje. Und nu paß uff, wie schnell wa det Ding hinkriejn!«
»Ja«, sagt Knarje zum drittenmal. Er gibt Bruno die Hand, dann trottet er fort, mit hängenden Schultern, den Kopf eingezogen, ein Bild des Jammers. Bruno sieht ihm lange nach. Seine Wut steigt ins Maßlose. Nein, nein, was die mit uns machen!
Brunos Erbitterung legt sich erst gegen Abend. Bis dahin hat er herumgetobt, im Lager, bei Prangel, beim Sozialamt. Alle, alle wollen ihn reinlegen! Einzige Ausnahme: Prangel. Der tut wirklich, was er kann. Er kann nur fast nichts tun …
Der Mitzi bringt Bruno wieder Gladiolen mit. Am Abend ist er müde und friedfertig, und friedfertig lauscht er ihrem Geplapper.
»Bald komm i hier raus, Bruno … dann ins Lager … da sind wir schon zusammen … und dann dauert’s gewiß nimmermehr lang, und wir sind frei! Und bleiben beieinander, für immer!« Diese heiteren Zukunftsaussichten werden Bruno nach einem so anstrengenden Brüll-Tag nicht mehr klar. Er nickt abwesend. »Des is mei ganzes Glück. Ein schönes Leben werden wir haben, gelt?«
»Ja«, sagt er, weit, weit fort mit seinen Gedanken, »’n schönet Leben.«
Dann verabschiedet er sich und fährt in den ›Schwarzen Schimmel‹, um dort, wie immer, Nelly und Wanda vorzufinden, und heute auch noch Knarje.
Keiner von den dreien ist da, als Bruno erscheint.
Mit einem bösen Vorgefühl fragt Bruno den Wirt nach seinen Freunden.
»Frollein Pietsch war da. Am Nachmittag. Se solln gleich nach Hause kommen.«
»Nach Hause? Warum denn?«
»Hatse nich jesacht.«
»Hatse nich … aha …«, murmelt Bruno und geht in die Meinekestraße.
Hier erwartet ihn ein neuer Nackenschlag, ein arger.
Nelly öffnet die Wohnungstür, nachdem er geklingelt hat. Bevor er sprechen kann, hält sie ihm den Mund zu und flüstert aufgeregt: »Wanda sitzt im Salon!«
Bruno hebt die weißblonden Brauen.
»Knarje ist weg«, flüstert Nelly. »Er hat mich gegen drei Uhr angerufen. Von der Bank. Muß sein Geld abgehoben haben. Wir sollen ihm nicht böse sein … besonders du nicht … Er sagte, er würde Wanda vom Flughafen aus anrufen …«
Bruno schiebt Nellys Hand von seinem Mund.
»Flughafen?« Ihm wird eiskalt. »Knarje is jetürmt?«
»Ja. Längst im Westen … wer weiß, wo.«
»Du liebe Jüte …«
»Er sagte, er hielte das nicht durch. Er sei mit den Nerven am Ende. Du würdest ihn verstehen. Er hätte furchtbare Angst. Er glaube nicht daran, daß er auch nur noch einen Groschen bekäme. Und diese Gegenüberstellungen halte er ganz gewiß nicht aus. Was für Gegenüberstellungen?«
Bruno flüstert: »Na, die bei ’n Vafassungsschutz und bei de Polente und so … Diesa Idiot! Jetzt, wo wir ’t fast jeschafft ham, kippt mir der Armleuchta um.«
»Er wird schreiben, hat er gesagt. Und wir sollen uns um Wanda kümmern …«
Bruno grinst schmerzlich. Um Wanda kümmern. Leicht hat er sich das gemacht, der Knarje!
»Sie ist natürlich völlig verzweifelt. Er hat sie wirklich noch angerufen. Ganz kurz. Sagte, daß er für eine Zeit aus Berlin fort müsse und sich melden wolle. Das arme Ding kam zu mir gelaufen. Nun weint sie sich die Augen aus dem Kopf. Und dabei weiß sie noch nicht einmal etwas von den Fünftausend!«
Bruno seufzt abgrundtief. »Na, denn wollnwa mal«, sagt er.
Im Wohnzimmer hockt die arme Wanda in einem tiefen Sessel und weint und weint und weint. Ihr blondes Haar fällt ihr ins Gesicht. Tränen tropfen auf das Kleid, sie ist so verzweifelt, daß sie überhaupt erst nach zwei Minuten Brunos Anwesenheit bemerkt und erfaßt, was er zu ihr spricht.
»Vastehn?« schluchzt sie. »Wat jibt’s denn da zu vastehn? Sitzenjelassen hatta mir, der Hund. Nach all det, wat ick mitjemacht habe mit ihm! Jerade, wo ick dachte, nu endlich is Schluß mit ’n Strich, und wir jehn alle nach München …«
»Das werden wir ja auch tun«, sagt Nelly.
»Nischt wern wa tun! Jarnischt! Ick war bei de Stanior in de ›Pension Florida‹ … hab ick dir noch nich azählt, Nelly, in meine Uffrejung …«
»Und?«
»Und die Stanior hat jesacht, Knarje hätte ausjeräumt, Kamera, Scheinwerfa … schon vor zwölwe … Det hatta natürlich vascheuat, det janze Zeuch, ehe detta abjehaun is …«
»Nee, nee, Wanda, also det kannste nich einfach so behaupten …«
»Wat kann ick nich behaupten?« Wanda fährt auf. »Allet kann ick behaupten! Ick weeß Bescheid! Ick kenne det Lebn! ’ne andre hatta …«
»Knarje? Nie!«
»Du bist keene Frau, du hast keen Jefühl for so wat. Er hat ’ne andre, sage ick dir! Und mit die issa nu in ’n Westen jemacht … und hat mir sitzenlassen, det Schwein’«
»Aba hör doch mal, Wanda …«
Aber Wanda hört nicht, sie schreit, während Tränen über ihre Wangen kullern: »Det jemeine Schwein, jawoll! Und ick, ick bin ’ne doofe Kuh, ’ne doofe Kuh bin ick! Sonst hätt ick doch schon längst wat merkn müssen!«
»Wat merken?« Bruno blinzelt und schnieft. Dieser Knarje … dieser Knarje … verflucht und zugenäht!
»Erst hieß et: Heiraten? Wennwa ’ne Wohnung ham! Denn hattenwa eene. Heiraten? Erst, wennwa jenug Piepen ham von die Fülmerei! Imma wieda ’ne neue Ausrede. Und ick bin druff rinjefalln! Imma wieda bin ick druff rinjefalln! Weil ick ihn jeliebt habe, den Hund!« Neuerlicher Tränenstrom.
»Komm, trink noch einen Schluck«, sagt Nelly.
»Ick will nischt mehr trinken! Ick will sterbn!«
»Jajaja«, sagt Bruno.
»Det is mein Ernst! Wat hat mein Leben denn noch for ’n Sinn?«
»Weißt du, Wanda …«
»Nee, Nelly, nee, laß ma zufrieden, bitte! For dir sieht det allet andas aus, janz andas. Du hast deinen Bruno! Der liebt dir uffrichtich! Der verläßt dir nie! Ha’ck dir imma jesacht! Weeßte noch?«
»Ja«, antwortet Nelly, nachdem sie Bruno ganz kurz angesehen hat, mit leiser Stimme, »das weiß ich noch genau.«
»Mit deinen Bruno, da haste det jroße Los jezogn! Der jeht mit dir durch dick und dünn! Du, du wirst bald nicht mehr trabn müssen … aber icke? Bis an mein selijet Ende!«
Bruno legt plötzlich eine Hand auf Nellys Schulter.
»Ihr seid glücklich, ihr zwee … und jerade darum könnta mir nich vastehn …«
»Eine Frau versteht eine andere Frau immer, Wanda.«
»Nich imma … Der Hund! Der Schweinehund, der elende! Verrecken solla mit seine Pische!«
»Aber er hat doch jarkeene …«, beginnt Bruno, doch Nelly winkt ihn zur Ruhe. Das ist sinnlos. Man muß die arme Wanda ausweinen lassen. Und während diese das tut und weiter und weiter und weiter ihren Knarje verflucht und ihr eigenes Schicksal dazu, denkt Bruno: Ich muß es schaffen. Ja, ich muß! Jetzt erst recht! Was auch geschieht! Ich muß mein Wort halten und Nelly wirklich glücklich machen! Und wenn dabei die halbe Welt unglücklich wird! Ich muß das tun, ich muß das tun. Arme, arme Wanda. Nie, nie, nie soll meine Nelly so weinen müssen. Himmel und Hölle setze ich nun in Bewegung, Hölle und Himmel. Jawohl …
Zu dieser Zeit sitzt Katinka Seyring in Dr. Landons Sprechzimmer. Heute trägt sie ein dunkelblaues Leinenkostüm. Sie spricht erregt: »… ganz plötzlich, Doktor, von einem Tag zum anderen, wurde Papa befördert!«
»Ich gratuliere«, sagt Landon.
»Ja, wir freuen uns auch beide sehr. Obwohl Papa selbst nicht weiß, wie das alles kam. Vor ihm wären noch zwei andere dran gewesen. Die hat man einfach übersprungen. Anregung von irgendwo ganz hoch oben. Er sitzt nun nicht mehr in seinem alten Büro, er hat ein neues Ressort …« Katinka Seyring sagt, welches. Danach zuckt sie die Achseln: »Mit den vielen Reisen in den Westen ist es nun allerdings vorbei.«
»Man kann eben nie alles haben«, sagt Landon mit unbewegtem Gesicht. »Also kein Bonn mehr?«
»Sehr selten. In der Hauptsache Berlin. Natürlich können wir fahren, wohin wir wollen, wenn Papa Urlaub hat, aber sonst …«
»Ich verstehe. Und diese Beförderung und Versetzung kam ganz plötzlich?«
»Aus heiterm Himmel! Wann war ich zuletzt bei Ihnen? Vor drei Tagen, nicht?«
Landon nickt.
»Und diesen Herrn Martini, den haben Sie mir Montag vor einer Woche gezeigt …«
Landon nickt.
»Nun, und in den Tagen dazwischen wurde Papa beför …« Katinka Seyring unterbricht sich selbst. Sie starrt den Arzt an. »Oh!«
»Hm?«
»Glauben Sie … meinen Sie … halten Sie es für möglich …«
»Was, mein liebes Kind?«
»Daß diese Beförderung mit Herrn Martini zusammenhängt?«
»Ich verstehe nicht«, antwortet der Arzt, der sehr gut versteht und an nichts anderes denkt.
»Halten Sie es für möglich, daß man Papa kaum noch nach Bonn kommen läßt, weil dort irgend jemand von ihm nicht mehr gesehen werden will?«
»Nicht mehr gesehen … Sie meinen Herrn Martini?«
»Ja, den! Wenn er … oder jemand, für den er arbeitet, hinter der ganzen Beförderung steckte? Wenn verhindert werden sollte, daß Papa sich über Herrn Martini erkundigt? Wenn …«
»Mein liebes Kind, Sie dürfen nicht so viele Kriminalromane lesen!«
»Immerhin wissen sehr viele Leute, daß ich bei Ihnen in Behandlung bin. Also könnte es auch Herr Martini wissen!«
»Mein liebes Kind …«
»Sie haben recht … das wäre ja wirklich der reinste Krimi … Fest steht jedenfalls: Papa wird sich nicht mehr um Herrn Martini kümmern können. Und daß diese Entwicklung eigenartig ist, müssen Sie doch zugeben!«
»Eigenartig?« wiederholt Landon. »Nicht einmal das. Zufall! Blinder Zufall! Vergessen Sie Herrn Martini, mein liebes Kind. Bitten Sie auch Ihren Papa, er möge ihn vergessen. Die Sache hat sich übrigens mittlerweile erledigt.«
»Erledigt?«
»Ja. Auch ein Zufall … nicht wahr?«
»Stimmt das wirklich, Doktor?«
»Glauben Sie mir etwa nicht?« Landon droht mit einem Finger.
Katinkas Gesicht wird blutrot. »Natürlich glaube ich Ihnen …«
Landon lächelt.
»Das möchte ich mir auch ausgebeten haben«, meint er und denkt: Also Katinka Seyrings Vater ist ausgeschaltet worden. Schnell ging das. Sehr schnell. Herr Martini muß sehr wertvoll sein … für wen immer.
Welche Menschen sind heute sehr wertvoll?
Forscher, Militärs, Politiker, Ideologen, Abenteurer – alle, die brauchbar sind im gegenwärtigen Kalten Krieg der beiden Hälften unserer Welt.
Jeder Kalte Krieg wurde zuletzt ein heißer, forderte maßlose Opfer, verursachte maßloses Unglück, maßloses Leid. Am Ende aller Kriege stand, solange diese Welt sich dreht, neben den Siegen immer Elend, soviel Elend.
Und Elend, jeder Soziologe weiß das, ist es, was die Verzweifelten dann stets zu furchtbaren Untaten trieb. Elend ist die Wurzel aller bösen Mächte.
Man bestrafte und bestraft stets Menschen, nicht das Elend, obwohl das Ganze doch ein Teufelskreis ist. Aber das Elend kann man eben nicht bestrafen.
Ach, denkt Landon, wenn man das Elend doch einmal bestrafen könnte – und nicht die Menschen; die großen Ideen, großen Ismen, großen Erfindungen – und nicht ihre Urheber.
Die großen Erfindungen, Ismen und Ideen entstehen in den Gehirnen der ›Brauchbaren‹: der Spezialisten. Sie müßte man ungefährlich werden lassen. Aber auch das kann man nicht. Denn der Wert dessen, was die ›Brauchbaren‹ ersinnen, erfinden, entwickeln, wagen, propagieren, der Wert für Glück und Fortschritt der Menschheit erweist sich doch – wenn überhaupt – immer erst lange nach dem großen Elend.
Die ›Brauchbaren‹ …
Sie haben keinerlei menschliche Qualitäten. So sind sie eine ständige Gefahr für die Menschheit.
Menschlichkeit? Persönlichkeit? Niemand unter den Mächtigen unserer Welt kümmert sich heute bei diesen Leuten noch darum. Allein um ihre Brauchbarkeit kümmert man sich. Und diese ›Auslese der Brauchbaren‹ muß letzten Endes zu einem Desaster führen …
Mit solchen Gedanken ist Dr. Philipp Landon dem Geheimnis um die Person Olaf Martinis nahe, ganz nahe gekommen. Und kann dennoch nichts tun.
Nichts.