Epilog

Die Erlöser

1

Am Vormittag des 13. Oktober 1964 sieht Bruno Knolle plötzlich die beiden Schränke. Glatte Riesen. Jung, Muskelpakete, Totschlägertypen. Viel ist geschehen zwischen jenem 25. August, an dem Knarje türmte, und heute – wir werden darüber berichten.

Bruno Knolle hat sich in den vergangenen Wochen sehr verändert. Er wirkt übernervös, der Gesichtsausdruck ist düster, er vernachlässigt seine Kleidung. Nach Knarjes Verschwinden haben ihn noch andere Schicksalsschläge getroffen. Ganz andere.

Die Schränke …

Was das für welche sind, weiß der Bruno, sobald er sie erblickt. Er hat gerade einen Brief an seinen Kriegskameraden Franz Lutter, der sich in die Schweiz abgesetzt hat, in einen Kasten an der Mauer eines Hauses in der Duisburger Straße geworfen. Als er aufsieht, erblickt er die Kerle. Etwa zehn Meter entfernt stehen sie und schauen ihn an, als sei er gar nicht da. Diese Art von Anschauen kennt Bruno auch. Panik packt ihn. Zum erstenmal, seit er aus dem Knast heraus ist, schüttelt ihn die Angst.

Langsam, betont langsam geht Bruno zur Konstanzer Straße hinunter. Sein heller Trenchcoat ist zerdrückt, das Hemd nicht sehr sauber, die Krawatte schlecht gebunden. Die Schuhe sind ungeputzt. Zum Friseur müßte Bruno auch dringend, sein weißblondes Haar wächst ihm schon in den Kragen. Und baden sollte er wieder einmal …

Konstanzer Straße links hinauf. In ein Haustor.

Bruno blickt zurück.

Die Schränke stehen an der Kreuzung und sehen sich um. Verflucht! Bruno hat sich zu weit aus dem Eingang gebeugt. Einer der Kerle sieht es. Sagt etwas zu seinem Kumpel. Beide kommen wieder auf Bruno zu, der eilends das Haustor verläßt und dem Kurfürstendamm entgegenstrebt.

Jetzt ist er ganz sicher.

Die sind hinter ihm her. Natürlich werden und können sie ihn nicht am hellichten Tag mitten in der Stadt zusammenschlagen oder ihm eine von diesen Spritzen hineinjubeln und ihn entführen, das ist klar. Sicher ist das auch nicht ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe wird es sein, Bruno in heillose Furcht zu versetzen – und in eine bestimmte Gegend zu treiben. Und dann …

Kurfürstendamm. Starker Verkehr, 10 Uhr vormittags.

Bruno schlängelt sich durch Reihen von Autos hinüber zur Leibnizstraße. Sieht sich wieder um. Die Schränke folgen.

Es ist stürmisch an diesem Tag und schon sehr herbstlich. Papierfetzen flattern durch die Luft. Einer fängt sich an Brunos Hosenbein. Wild tritt und strampelt er, um die alte Zeitungsseite loszuwerden. Endlich fliegt sie weiter. Die Schränke sind stehengeblieben, als er stehengeblieben ist. Jetzt setzen sie sich prompt in Bewegung.

Polizei!

Er muß sofort zur Polizei. Wo ist hier ein Revier, verdammt?

Nun geht Bruno schneller, immer schneller. Biegt um Ecken. Läuft. Hält. Sieht zurück. Die Schränke folgen.

Mommsenstraße. Dahlmannstraße. Sybelstraße. Heilbronner Straße. Rein in die Katharinenstraße.

Da, endlich! Ein Doppelposten auf Streife.

Bruno stürzt den Schupos entgegen, er ist völlig außer Atem.

»Bitte, helfense mir! Die wolln ma vaschleppn!«

Die Polizisten sehen den Mann mit dem großen Körper und dem kleinen Kopf, den abstehenden Ohren und den zierlichen Händen prüfend an. Hm. Ziemlich abgerissen. Betrunken? Ein Stromer! Ein Original? Ein harmloser Irrer? Wirklich ein Verfolgter?

Die Polizisten sind viel gewöhnt.

Gemütlich beginnt der erste: »Nun mal langsam, lieber Herr. Ruhig! Wir sind ja bei Ihnen. Kann gar nichts passieren.«

»Ja … ja …«

»Also, wer will Sie verschleppen?«

Bruno sprudelt von neuem los: »Da hinta mir. Zwee so Riesenkerle. Die müssense vahaftn!«

Der zweite Polizist lacht freundlich: »Gleich verhaften? So schnell schießen die Preußen nun auch wieder nicht. Wie kommen Sie denn überhaupt auf die Idee, daß man Sie entführen will?«

Bruno, wie stets, wenn er überfordert ist, redet wirr drauflos: »Ich hab doch den SSD det Ding jedreht … drei sind hochjejangen, weil ick … Da is der Verfassungsschutz drin und die Amis und die Tommis … Det war doch ’ne janz dolle Sache damals! Ick muß den Kriminalrat Prangel sprechen! Det is mein Freund …«

Derlei Äußerungen bekräftigen die beiden Polizisten in einer Ansicht, der sie von Anfang an zugeneigt haben: Nicht ganz normal, der Herr.

»Kriminalrat Prangel ist Ihr Freund?«

»Ja doch!«

»Wie heißen Sie denn?«

»Bruno Knolle.«

Wenn er das gleich gesagt hätte, anstatt herumzufaseln, wäre vielleicht noch etwas zu machen gewesen. So sind kostbare Sekunden verlorengegangen.

Bruno Knolle! Den Namen kennen die Polizisten.

»Sie sind der …«

»Ja, der! Hier is ’n Ausweis! Und nu wolln die mir natürlich …«

Die Polizisten reden gleichzeitig.

»Wo sind die Kerle?«

»Zeigen Sie uns die Männer!«

Bruno dreht sich um.

Keine Spur von den beiden Schränken.

»Die müssen um de Ecke zurückjegangn sein.«

»Welche Ecke?«

»Heilbronner Straße.«

Drei Männer rennen die Katharinenstraße hinunter bis zur Heilbronner Straße.

»Da!« schreit Bruno.

In weiter Entfernung laufen die beiden Schränke auf einen Privatwagen zu, springen hinein, der Wagen rast los.

»Det warnse!« Brunos Lider flattern, seine Hände zittern.

»Scheiße!« Der erste Polizist schlägt mit der Faust in die Luft.

Auch sein Kollege ist jetzt erregt: »Nichts mehr zu machen. Hast du wenigstens die Nummer erkennen können?«

»Nee. Sie?«

»Ooch nich …«

»Wir müssen aufs Revier. Meldung machen.«

»Darf ick … darf ick gleich mitkomm?«

»Was wollen Sie? Den Kriminalrat anrufen?«

»Den Kriminalrat anrufen«, wiederholt Bruno. »Nu jeht et um mein Lebn … um mein Lebn jeht et nu!«

»Sie müssen sich wirklich beruhigen, Herr Knolle. Wirklich! Sehen Sie! Fast wären Sie hingeschlagen vor Aufregung.« Der eine Polizist nimmt Bruno hilfreich am Arm.

Jeden Grund zur Aufregung hat Bruno Knolle in dieser zweiten Oktoberhälfte – nach allem, was ihm widerfuhr, nach allem, was geschah. Das waren vielleicht Wochen! Nicht nur für Bruno Knolle. Für die ganze Welt. Eine Zeit der Hochspannung – wohin man blickte.

Türkische Flugzeuge hatten Zypern bombardiert. In Sagorsk, sechzig Kilometer von Moskau entfernt, war in einer Kirche ein Giftgasanschlag auf den deutschen Botschaftsangehörigen Schwirkmann verübt worden. In Südvietnam wurde es ärger und immer ärger. Militärrevolten. Schwere Zwischenfälle, welche die Welt täglich an den Rand eines großen Krieges brachten. Ein Lichtpunkt, aber auch mit Aufregung verbunden: Das neue Passierschein-Abkommen war unterzeichnet worden. Westberliner sollten wieder einmal die Erlaubnis erhalten, Verwandte in Ostberlin zu besuchen. In Kairo tagte eine Konferenz der blockfreien Staaten. Die Vereinigte Arabische Republik zeigte sich täglich aggressiver. China zündete die erste A-Bombe. Mehr und mehr spitzte die Lage im Kongo sich zu. Hunderte, Weiße und Schwarze, wurden da täglich ermordet. Und nun, vor zwei Tagen, am 15. Oktober 1964, war der Staatschef der Sowjetunion, der allmächtige Nikita Chruschtschow, all seiner Ämter enthoben worden.

Das alles bereitete den Großen dieser Erde im Augenblick schwerste Sorgen.

Was heißt denn das eigentlich immer: Sorgen der Großen? Das sind doch in Wirklichkeit stets die Sorgen der Kleinen! Der kleinen Leute, zu denen auch Bruno Knolle gehört, dem es nun auch noch an den Kragen geht. Als ob gerade der nicht wahrhaftig schon genug durchgemacht hätte seit jenem 25. August 1964, an welchem Knarje türmte!