Ein Wunder, wahrhaftig ein Wunder, daß Bruno all das überhaupt so lange ausgehalten hat, Knarjes Flucht verschlechterte seine Lage natürlich mächtig …
»Da hat Herr Knargenstein Ihnen und sich selbst ja einen herrlichen Dienst erwiesen«, sagte Heinz Schuckert beim nächsten Zusammentreffen. »Unschuldig sind Sie beide, wie? Völlig unschuldig! Deshalb verschwindet Ihr Freund auch. Weil er mit unserem Fall überhaupt nichts zu tun hat.«
»Herr Schuckat, Knarje hat den Kopp valorn, det is allet. Hatte Angst, der Osten würde ihm vaschleppn, det Rindvieh.« Bruno ist wütend auf Knarje, richtig wütend. Verdammter Esel! Entkommen tust du denen doch nie – aber uns beide reitest du mehr und mehr in den Dreck!
»Natürlich entkommt Herr Knargenstein uns nicht«, sagt Schuckert prompt. »Es wird bereits nach ihm gefahndet, ein Haftbefehl liegt auch schon vor.«
»Haftbefehl?«
»Na, was denn? So gescheit wie Sie bin ich noch lange! Ich kann dem Herrn nichts nachweisen – noch nicht –, aber die Sittenpolizei hat das ganze Material über seine Rolle bei der Herstellung der pornographischen Filme. Das heißt: Sie hatte es. Ich habe sofort veranlaßt, daß es zur Staatsanwaltschaft kam. Da ging es dann ruck-zuck mit Haftbefehl und Fahndung.« (Idiot, Idiot, idiotischer Idiot Knarje!) »Herr Knargenstein kann nicht mehr aus der Bundesrepublik heraus. Der geht ins Netz. Und kehrt schön zurück nach Berlin. Sofort in Haft. Da kann ich mich dann in Ruhe mit ihm weiterunterhalten. Knast kriegt er nun natürlich auf jeden Fall.«
»Jeden Fall …«
»Wegen der Filme.«
»Aba, Sie ham uns doch vasprochn …«
»Herr Knargenstein hat auch einiges versprochen. Zum Beispiel, nicht auszurücken.«
Erwürgen könnte ich dich, Knarje, du Arschloch!
»Na, mir soll es recht sein. Bis wir Ihren besten Freund wieder haben, müssen Sie jetzt leider für sein Verhalten büßen.«
»Icke?«
»Denken Sie, ich schicke Sie in Urlaub so lange? Ich konzentriere mich jetzt ganz auf Sie! Das wird heiter werden, Herr Knolle, sehr heiter.«
Bruno knirscht mit den Zähnen. Eine Wut hat er auf Knarje, eine Wut! Was ihm nun blüht, kann er sich denken. Und was er sich denkt, geschieht auch. Eine Stunde später stellt Schuckert Bruno Knolle bereits dem Wilhelm Bräsig, dem Ernst Kornmann und dem Fritz Rettich gegenüber. Zum erstenmal. In den folgenden Tagen und Wochen tut er es immer wieder. Stets läßt Schuckert Bruno in Gegenwart eines der SSD-Agenten seine Geschichte erzählen, detailliert, mit allen Drohungen, denen er ausgesetzt gewesen ist, mit allen Versprechungen, die man ihm gemacht hat. Und stets fragt er die Verhafteten, ob Brunos Erzählung richtig sei.
Die drei bestätigen das immer. Was sich mit der Zeit daraus entwickelt, ist eine steigende Angst Brunos vor diesen Gegenüberstellungen, die ihn, soweit sie Bräsig betreffen, mit Scham, Pein und schlechtem Gewissen erfüllen. Er wird nervöser und nervöser und verliert mehr und mehr seinen Gleichmut. Schuckert hofft, daß Bruno zusammenbricht und jene ›Wahrheit‹ bekennt, der Schuckert nachjagt, jene ›Wahrheit‹, die es einfach nicht gibt.
Die drei Ost-Agenten sehen schlecht aus, deprimiert, in ihr Schicksal ergeben. Ernst Kornmann hat man seinen schönen Anzug fortgenommen und ihn durch einen abgetragenen ersetzt. Das allein genügte, um den ›Hauptreferenten‹ fast gänzlich seiner Personalität zu berauben. Fritz Rettich wird immer blaß, wenn Schuckert Bruno auffordert, genau über die technischen Installationen zu berichten, die der Funkbastler so genial ersonnen hat. Rettich sieht dann aus wie ein gefeierter Zauberer, der vor einem atemlosen Publikum komplizierteste Tricks vorführt – und plötzlich einen Mann auf der Bühne hat, der höhnisch erläutert, wie alles gemacht wird. Am ärgsten setzen Bruno die Begegnungen mit dem vierundsechzigjährigen Wilhelm Bräsig zu. Das hatte Schuckert bald bemerkt und dafür gesorgt, daß diese Begegnungen so häufig wie möglich stattfanden.
Groß, ungebeugt, jovial und burschikos – so lebte Bräsig in Brunos Erinnerung. Nun, in der Haft, ist der Kommissar zusammengesunken, er wirkt kleiner, die grauen Haare sehen verfilzt aus, die grauen Augen erloschen. Der Mann gleicht einem Ballon, aus dem langsam, aber stetig Luft entweicht. Jedesmal, wenn Bruno den Bräsig wiedersieht, ist dieser ein wenig schrumpeliger, ein wenig trister, ein wenig erbarmungswürdiger geworden. Er hat viel Kummer, der Wilhelm Bräsig, er schläft nicht, ißt kaum, verliert rapide an Gewicht. Er weiß, was ihm bevorsteht.
»Es ist alles ganz genau so, wie Herr Knolle berichtet«, erklärt er immer wieder dem Untersuchungsrichter und Heinz Schuckert. Und Bruno erklärt er: »Ich bin Ihnen nicht böse. Ich habe Sie zu dieser Aktion gezwungen. Sie haben sich herausgedreht. Man darf niemanden zwingen. Wenn man es tut, verdient man Strafe. Nun, ich bekomme sie.«
Diese Sätze, dutzendmal wiederholt, machen Bruno halb verrückt. Bräsig, der Realist, weiß: Mit ihm ist es aus. Wenn er bei diesen Zusammenkünften auch noch Brunos Anwalt spielt, als sei jener angeklagt und nicht er, ist dem Bruno einfach zum Heulen.
»Wissen Sie«, sagt der Kommissar an einem der ersten Septembertage, »ich habe ein gemeines und schmutziges Leben geführt. Mit einer Selbstentschuldigung natürlich. Meine arme Frau. Aber das eben war mein größtes Verbrechen … diese Selbstentschuldigung. Viele von uns haben so ein Pseudo-Alibi. Darum sieht es in der ganzen Welt so aus.« Bräsig lächelt Bruno zu. »Hier gibt es eine kleine Bibliothek. In Brandenburg gab es eine große, ich weiß. Damals haben Sie dort gelesen, jetzt lese ich hier. Es sind lauter garantiert ungefährliche Bücher. Zeitungen erhalte ich natürlich nie. Und natürlich auch keine Briefe, von meiner Frau zum Beispiel. Was die wohl macht …« Bräsig unterbricht sich selbst. »Da! Ich fange schon wieder an. Marie wird zurechtkommen. Sie ist immer zurechtgekommen … Ja, also die Bücher hier! Eines habe ich gefunden, da steht etwas drin, das habe ich auswendig gelernt. Ist von einem ganz berühmten Dichter. Walther von der Vogelweide.«
»Nie gehört«, sagt Bruno. »West-Schreiberling, wa? ›Von‹ ooch noch! Sowat hatten wa in Brandenburch ’türlich nich.«
»Der Mann hat um zwölfhundert herum gelebt. In Würzburg.«
»Zwölfhundat? ’ne komische Bibliothek muß det hier sind! Warum lesense ausjerechnet so ’n ollen Poeten, Herr Bräsig?« fragt Bruno, der den Kommissar einst so gehaßt hat und nun gar nicht mehr haßt.
»Weil das, was er schreibt, oft so aktuell ist, als sei es heute geschrieben. Es handelt sich also um ein Gedicht, und es heißt so: ›Nun wachet! Uns geht auf der Tag, an dem wohl Angst ergreifen mag jeglichen Christen, Juden oder Heiden. Wir haben der Zeichen viel gesehen, dran wir sein Kommen wohl erspähen, wie uns die Schrift mit Wahrheit läßt bescheiden. Die Sonne hat ihren Schein verkehret, Untreue ihren Samen ausgeleeret allenthalben auf den Wegen: Der Vater bei dem Kind Untreue findet, der Bruder seinen Bruder belüget, geistlich Leben in Kutten trüget, das uns führen sollte zu Himmelssegen: Gewalt geht auf, Recht vor Gerichte schwindet. Wohlauf! Hier ist zu viel gelegen.‹ Ja, so heißt das Gedicht.«
»Und det is aktuell?«
»Ich könnte mir nichts Aktuelleres denken.«
»Det vasteh ick nich.«
Der Franz Lutter und seine Frau hätten Wilhelm Bräsig verstanden. Großartig hätten sie ihn verstanden, sie, die der Proklamation eines längst verstorbenen chinesischen Kaisers nachjagten. Und auch Heinz Schuckert versteht Bräsig. Es ist nicht angenehm, dieses Verstehen, es macht den Verfassungsschützer verlegen und traurig.
Bruno murrt: »Ick bin eben zu doof. Ick finde da nischt Aktuellet!«
»Auch Sie werden es noch finden«, antwortet Bräsig darauf. »Und was Herrn Schuckert betrifft, so ist er sehr nachdenklich geworden, während ich zitierte … oder irre ich mich?«
Heinz Schuckert schweigt.