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Und fährt fort, Bruno zu ängstigen, wo es nur geht. Immer wieder droht er mit dem Belastungsmaterial über den Einbruch bei der BVG-Ost. Diese Akte liegt weiter bei dem guten Prangel, den Bruno häufig besucht. Schuckert weiß das.

»Laufen Sie nicht so fleißig zu Ihrem Kriminalrat. Die Akte bleibt schon noch bei ihm … bis ich mit Ihnen fertig bin. Denn so lange brauche ich Sie hier. Wenn sich herausstellt, daß Sie gegen den Westen arbeiteten, lasse ich Anklage erheben. Wenn sich das nicht herausstellt und kein Zweifel darüber besteht, daß Sie nur ein gewöhnlicher Verbrecher sind, der herübergekommen ist, um drüben für eine kriminelle Tat nicht verurteilt werden zu können, muß Prangel die Akte den Justizbehörden übergeben. Und diese müssen Sie ausliefern. So lauten die Bestimmungen. Entweder hier Knast oder drüben Knast. Oder was Ärgeres. Es sei denn …«

»Wat?«

»… Sie helfen mir endlich! Es werden natürlich Ausnahmen gemacht. Besonders, wenn sich herausstellt, daß jemand dem Osten nur unter Druck Dienste geleistet hat. Dann liefern wir ihn selbstverständlich nicht aus.«

»Ick habe doch unta Druck jestandn! Det wissense doch, Herr Schuckat! Mehr kann ick Ihn’ nich sagen!«

»Ein bißchen mehr würden Sie mir schon noch sagen können. Ich warte ja auch noch ein bißchen. Aber dann …«

Dieser Satz bleibt stets unvollendet. Es ist nicht notwendig, ihn zu vollenden. Notwendig ist, ihn immer wieder zu beginnen. Der halbe Satz wirkt mehr als der ganze. Bruno wird ängstlicher, hilfloser, schreckhafter. Alle seine Felle sieht er davonschwimmen. Nelliken geht weiter auf den Strich. In ein paar Tagen kommt Mitzi aus der Klinik. Und in ein paar Tagen oder höchstens Wochen schnappen sie den Knarje, diesen elenden Narren. Es ist zum Verzweifeln!

Wenn Schuckert den Bruno einmal zufriedenläßt, wenn Bruno die Mitzi nicht im Krankenhaus besuchen muß, um ihr vorzulügen, wie herrlich die Zukunft für sie beide aussehen wird (er lügt nicht aus Gemeinheit, er ist schwach und gutmütig, arme Menschen tun ihm leid – vielleicht wäre es gut für diese Welt, wenn es mehr Bruno Knolles gäbe!), wenn er also weder hier noch dort festgehalten wird, geht Bruno stur weiter von Amt zu Amt – wochenlang schon jetzt. Die Beamten sind nicht unfreundlich zu ihm. Hilflose kleine Leute sind sie, wie er, und sie können ihm auch nicht helfen.

Ein Beispiel: Das Arbeitsamt. Da erscheint Bruno regelmäßig. Einige Papiere hat man ihm in Marienfelde bereits gegeben – auf Schuckerts Veranlassung. (Bruno darf auch nicht denken, daß man ihn hier im Westen unbedingt vor die Hunde gehen lassen will. Zuckerbrot und Peitsche, die alte Methode.)

Nun, und so eine Unterhaltung mit einem der Beamten des Arbeitsamtes sieht dann so aus wie die am 11. September 1964 …

»Ja, Herr Knolle«, sagt der Beamte, »Sie haben aber auch ein scheußliches Pech! Herr Skorupky, der Sachbearbeiter für die Anfangsbuchstaben G bis K, Sie kennen ihn …«

»Klar kenne ick den. Wat hatte denn?«

»Seine Nierengeschichte.«

»Nu hörense mal«, ruft Bruno in gelinder Verzweiflung, »Herr Skorupky hat doch jesagt, er wird mir wat besorjen. Ooch, wenn ick noch nich alle Fleppen zusammenhabe. Und jetz issa krank. Jetz …«

»Herr Skorupky kommt aber doch zurück! Geduld, ein wenig Geduld, Herr Knolle. Er verschafft Ihnen Arbeit, da bin ich sicher. Ich bin auch sicher, daß er beim Sozialamt noch mehr Geld für diese lange Wartezeit herausschlagen wird, er ist da sehr tüchtig.«

»Ach ja«, sagt Bruno. »Jewiß, jewiß. Det is ein netta Herr, der Herr Skorupky. Ick wünsche ihm ooch jute Besserung. Und besten Dank ooch. Ick komme wieda vorbei.«

Und dann geht er, sorgenvoller denn je.

Abends, wenn er in den ›Schwarzen Schimmel‹ kommt, wo Wanda und Nelly sitzen, nimmt er sich ungeheuer zusammen und spielt den Optimisten, obwohl ihm zum Heulen ist. Alles geht mächtig voran, lügt er, eine ganz kurze Zeit noch, dann ist alles gut!

Nelly verzieht nicht einen Muskel ihres Gesichts, wenn Bruno so spricht. Sie kann sich vorstellen, wie es in ihm aussieht. Ob er, denkt Nelly, sich auch vorstellen kann, wie es in mir aussieht?

Wanda hat sich noch nicht von ihrem Schock erholt. Abend für Abend, bevor die beiden jungen Frauen losziehen, muß Bruno sich anhören, wie sie auf Knarje schimpft. Furchtbar schimpft Wanda.

Sie hat da etwas gehört von einer Kollegin, die aus Wiesbaden gekommen ist. Was die Kollegin erzählt hat, brachte die arme Wanda fast um den Verstand.

Dieser Hund, dieser verfluchte, dieser Knarje!

In Wiesbaden (berichtete die Kollegin) ist momentan der Teufel los. Die Stadt hat schon vor längerer Zeit die Dirnen an der Ausübung ihres Gewerbes in den feinen Gegenden gehindert, weil die Huren dort, angeblich, den Kurbetrieb störten. Die Innenstadt wurde zum Dirnensperrgebiet erklärt. Daraufhin zogen die Huren vor die Stadt, auf die Bundesstraße B 263, die von Wiesbaden nach Mainz führt.

Die B 263 ist eine schöne Straße, richtig idyllisch, in den Sommermonaten dank der nahen Wälder ein ideales Arbeitsgebiet. Das sprach sich schnell herum. Damen aus der ganzen Bundesrepublik kamen angereist. Sie standen entlang der Straße und warteten auf Freier. Und Freier trafen in Scharen ein. Die B 263 wurde der Bundesrepublik berühmtester Landstraßenstrich.

Von rechts und links des Rheins erschienen Herren mit ihren Autos, Gastarbeiter charterten ganze Omnibusse. Es ereigneten sich Verkehrsunfälle en masse.

Viele Damen verdienten in einer Nacht mit Leichtigkeit ihre vierhundert D-Mark. Wiesbadens Polizeipräsident erklärte: »Es ist unbeschreiblich, was sich da draußen abspielt!«

Die Polizei, Freund und Helfer, griff ein.

Spezialagenten, mit Farbfilmkameras ausgerüstet, hielten Szenen, in denen Damen warben, auf Zelluloid fest – für spätere Strafprozesse. Andere fotografierten die Nummernschilder der Autos, die Gesichter der Männer und Mädchen. Und die ganze Straße entlang ließ der Polizeipräsident Halteverbotsschilder aufstellen.

Das brachte zunächst Erfolg: In wenigen Wochen erhielten eintausendneunhundert Herren gebührenpflichtige Verwarnungen, weil sie trotz Verbots ihre Autos angehalten hatten, und achthundert Damen wurden angezeigt.

Das können die Zuhälter von Wiesbaden, die Beschützer der Damen, nun natürlich nicht zulassen.

Die Polizei fährt die Straße mit Streifenwagen ab. Dasselbe tun die Zuhälter. Sie tun noch mehr: Wenn sie einen Polizeiwagen erblicken, schießen sie grüne Leuchtraketen ab. Zur Warnung. Dann gibt es da eine Brücke. Sobald ein Polizeiauto sie passiert, schmeißen die Zuhälter Knallfrösche in oder auf das Vehikel. Ein begüterter Beschützer hat sogar auf den Kopf des Leiters dieser Polizeisondereinheit eine Prämie ausgesetzt: »Fünftausend Mark! Wenn den einer umlegt, das ist mir fünf Mille wert!«

Die Freunde und Helfer sind Menschen wie du und ich. Sie wollen nicht Nacht für Nacht ihr Leben riskieren. Zur Zeit wird der Überwachungsdienst auf der B 263 äußerst lax betrieben. Und das Geschäft blüht … Solches erzählte Wandas Kollegin.

Wanda, als sie es nun Bruno berichtet, kann kaum reden vor Empörung: »Nu weeß ick, wo der Knarje is, det Aas! Er und seine Schneppe! Die läßt der loofen uff de B 263 … so wie er mir hat loofen lassen hier in Berlin! Jetzt schafft die an! Wetten könnte ick, det mit die Leuchtraketen is ooch uff seinen Mist jewachsen, Sauhund vafluchta!«

Da reicht es Bruno. Er hat selbst einen Riesenrochus auf Knarje, diesen Idioten, aber so etwas von weiblicher Unlogik erträgt er einfach nicht: »Wanda, du bis meschugge! Hundatmal habe ick dir azählt, detse dein Knarje suchen, det jefahndet wird nach ihm. Der arme Hund, der muß sich doch jetz vastecken, so jut er kann.« (Weichherziger, großherziger Bruno, ach!) »Ausjerechnet der wird da in Wiesbaden Menkenke machen, ausjerechnet der!«

Wanda ist nicht kleinzukriegen: »Und warum nich? Jibt ville Weiba, die vasteckn so eenen wie Knarje. Seine Schneppe vasteckt den!« Brunos Stimme wird streng: »Dir is nich zu helfen. Gloob, watte willst, und werde seelich damit.« Er blickt auf die Wanduhr.

»Nu müßt ihr raus«, sagt Bruno. »Lange jenuch jequasselt.«

Die Frauen gehen. Bruno bleibt zurück. Er sieht den Luden zu, die zocken, und denen, die an den Spielautomaten stehen, und denen, die flüsternd ein Ding beraten, das sie drehen wollen.