Achtung, bitte! Pan American World Airways geben den planmäßigen Start ihres Fluges 431 nach Köln-Wahn bekannt. Passagiere werden gebeten, sich durch Ausgang drei an Bord der Maschine zu begeben. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug!«
Aus vielen Lautsprechern hallt die Mädchenstimme durch das gewaltige Gebäude des Flughafens Tempelhof. Ein milder, sonniger Tag ist dieser 18. September 1964. Der schönste, der wunderbarste Tag ist er im Leben des kleinen Jürgen Machon. An der Seite seiner Mutter, einer adretten fünfunddreißigjährigen Frau, steht er in der Abflughalle, die Tragtasche mit der Schildkröte an die Brust gepreßt. Er strahlt die beiden Männer an, die Mutter und Sohn begleitet haben: Bruno Knolle und Jack Campbell.
Der magere Junge mit den feinen Gesichtszügen, dem schwarzen Haar und den großen schwarzen Augen ist erfüllt von lauter Seligkeit. Seine Mutter kam vor einer Woche nach Berlin. Sie redete mit den Behörden, die Grete Machon, mit vielen Behörden, sie unterschrieb viele Formulare.
Nachdem die blonde Verkäuferin in dem großen Kölner Warenhaus erfahren hatte, daß Jürgen geflüchtet war und in Marienfelde saß, hatte sie nach kurzem seelischem Ringen mit jenem Onkel Schluß gemacht, der Jürgen nicht leiden konnte. Dieses Mannes wegen war der Junge immer wieder von Köln nach Ostberlin zurückgekehrt, weil er sich sagte, daß seine geliebte Mutti jenen Onkel heiraten und nicht länger Verkäuferin sein wollte, und daß er, Jürgen, ihr beim Aufbau eines neuen Lebens nicht im Wege stehen durfte.
Nun, Grete Machon hat dem Onkel den Laufpaß gegeben.
Sie wird weiter als Verkäuferin arbeiten.
Sie ist eine Mutter. Keine besonders gute, keine besonders schlechte. Eine Mutter eben. Sie hat endlich erkannt: Auf Jürgen, nur auf Jürgen kommt es an. Und wenn sie für ihn noch jahrelang schuften muß in diesem Riesenkaufhaus mit seinen widerlichen Kunden, den überlangen Geschäftsstunden, der bescheidenen Entlohnung. Gleich, ganz gleich ist ihr das alles nun! Jürgen kann doch nicht im Lager bleiben. Und da der Vater wegen Republikflucht im Zuchthaus sitzt, hat sie einfach die Pflicht, sich um den Jungen zu kümmern. Ihr Kölner Geliebter sah das nicht ein. Sie gingen im Streit auseinander. Wenn schon! Nur Jürgen ist wichtig! Es wird schon gehen in Köln. Nächstes Jahr soll Grete Machon mehr Lohn erhalten. Gesund ist sie. Die Arbeit strengt an. Aber ihr Sohn wird nun da sein, wenn sie heimkommt am Abend, immer wird er da sein …
Grete und Jürgen Machon verabschieden sich von Bruno und Campbell. Sie bedanken sich bei den beiden Männern, besonders bei Bruno, den sie dauernd als Jürgens Retter preisen.
»Nu machense schon ’n Punkt, bitte!«
»Aber es ist doch wahr«, sagt Jürgen. »Ohne Sie, Herr Knolle, wäre nie alles so gekommen … so schön … so sehr schön …«
»Wir schreiben Ihnen, Herr Knolle«, verspricht die Mutter. »An welche Adresse?«
Bruno nennt Nellys Adresse.
»Und was werden Sie tun?«
»Ick bleibe noch ’ne Weile da. Hab noch vaschiednet zu aledijen. Denn mach ick ooch in ’n Westen.«
»Oh, das werden wir aber feiern, Herr Knolle!«
»Und wie!« Bruno fährt dem Jungen durch das Wuschelhaar. »Paß uff dir uff, Kleena.«
»Ja«, antwortet Jürgen und öffnet die Tragtasche. Er spricht zu der gelähmten Schildkröte. »Wir dürfen nun fortfliegen, Happy. Weil dieser Herr uns so geholfen hat. Bald werden wir ihn wiedersehen.« Die Schildkröte starrt unbeweglich den Boden der Tasche an.
»Sie müssen gehen«, mahnt Campbell.
»Winken Sie noch?« fragt Jürgen.
»Klar«, sagt Bruno.
Gleich darauf bekommt er einen Kuß von dem Jungen.
»Nanana«, sagt er verlegen.
»Danke, Herr Knolle! Danke!«
»Auch ich danke noch einmal von ganzem Herzen«, sagt Grete Machon. Sie schüttelt den Männern die Hände. Jürgen verbeugt sich. Dann gehen Mutter und Sohn zur Paß- und Zollkontrolle. Etwa ein Dutzend Ostflüchtlinge wird bei diesem Flug mit ihnen ausgeflogen. Hinter der Sperre dreht sich Jürgen um und ruft: »Das ist der erste Flug für Happy, Herr Knolle!«
»Und for dir?« schreit der zurück.
»Ach so! Für mich natürlich auch!« antwortet Jürgen lachend.
»Kommen Sie«, sagt Campbell zu Bruno. Er geht schnell mit ihm durch die Halle zu einem Gang mit großen Fenstern, durch die man das Flugfeld sehen kann. Viele Maschinen stehen da. Auf eine marschieren, im Trupp der anderen Passagiere, Jürgen und seine Mutter zu. Der Junge dreht sich dauernd um. Er hat die Männer entdeckt und winkt. Campbell und Bruno heben die Arme.
Jürgen winkt ununterbrochen, noch als er die Gangway hinaufsteigt, noch im Einstieg der Maschine.
Dann wird dieser Einstieg geschlossen. Die Motoren springen an, einer nach dem anderen. Das Flugzeug rollt los und erreicht den Take-off-Point einer fernen Piste. Nacheinander heulen die Motoren auf. Dann endlich rollt die Maschine los, schneller und schneller. Hebt ab. Zieht steil hoch über die Dächer der nahen Häuser. Und ist gleich darauf verschwunden.
»Tja«, sagt Campbell. »Das gibt es also auch noch auf der Welt.«
»Wat?«
»Glück«, antwortet der Amerikaner. Er sieht Bruno an. »Ist Ihnen übel?«
»Ja«, sagt Bruno, sehr bleich. Er lehnt sich gegen das Fenster. »Ick denke jerade, det heute der Achtzehnte is.«
»Und?«
»Und am Neunzehnten wird die Mitzi entlassen.«
»Hm«, macht Campbell.
»Wat soll ick nu bloß machen?«
»Kommen Sie, wir trinken etwas drüben im Restaurant. Dabei fällt mir gewiß ein, was Sie nun machen müssen.«
»Ach, Herr Kempell«, sagt Bruno gerührt, »wenn ick Sie nich hätte …«