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Halb zehn ist es, als er erwacht – mit schmerzenden Gliedern, Kopfweh, fröstelnd. Erst nach einer Weile erinnert er sich an das, was geschehen ist.

Leise schleicht er fort. Den Koffer trägt er in den ›Schwarzen Schimmel‹. Der Wirt wird ihn einstweilen aufbewahren. In der Kneipe wäscht und rasiert Bruno sich auch und zieht ein frisches Hemd an.

Alles kommt ihm ein wenig unwirklich vor an diesem Vormittag. Er fühlt sich immer noch benommen. Und keinen einzigen Gedanken kann er zu Ende denken, bevor er nicht zwei Schnäpse getrunken hat. Dann geht es besser.

Zuerst ruft er Campbell an und erstattet Bericht.

Der Amerikaner zeigt sich bestürzt.

»Lassen Sie mir Zeit. Nur etwas Zeit. Mir fällt etwas anderes ein. Alles hat auch seine guten Seiten. Denken Sie daran, welchen … hrm! … von welchem seelischen Ballast Sie nun erlöst sind.«

Wer da alles erlöst und erlöst wird …!

»Ja, Herr Kempell.«

»Rufen Sie mich heute abend an, um acht?«

»Ja, Herr Kempell. Und ich danke auch schön für alles, was Sie für mich tun.«

»Hören Sie auf!« ruft der junge Amerikaner, sehr verlegen.

»Warum? Sie tun doch so viel für mich«, antwortet Bruno. »Also bis abends. Wiederhören, Herr Kempell.«

»Auf Wiederhören«, sagt der Amerikaner und hängt ein. Dann sitzt er still vor dem Telefon, raucht seine Pfeife und denkt angestrengt nach, wie er Bruno nun noch helfen kann …

Dieser, von zwei Schnäpsen beflügelt, fährt mit dem Bus zum Sozialamt. Monatsende. Bruno will seine hundertzwanzig Mark für Oktober abholen. Er muß ziemlich lange warten, vor den Schaltern herrscht einiges Gedränge, eingekeilt steht Bruno da. Sogar den Weg zum Ausgang zurück muß er sich freikämpfen.

Dann fährt Bruno zum Arbeitsamt.

Das bißchen Alkohol im Blut, das neue Geld im Portemonnaie wirken Wunder. Bruno fühlt sich – seit Wochen – paradoxerweise ausgerechnet heute wieder von neuer Hoffnung erfüllt. Die Untersuchung gegen ihn wird eingestellt werden. Seine Belohnung wird er bekommen. Aus Berlin wird er abhauen. Nach München. Und da seine Kneipe aufmachen. Jawohl, das wird er!

Es ist nicht nur das bißchen Alkohol, es ist nicht nur das neue Geld, das diese Euphorie verursacht. Es ist die Situation, in der Bruno sich nun befindet und die ihn überfordert. Sooft er überfordert ist, klinkt sein Verstand aus, versagt seine Logik.

Also zum Arbeitsamt! Wenn jetzt alles klappt, muß er bereits das Seine getan, den ganzen Behördenkram hinter sich haben, nicht wahr?

Herr Skorupky, Sachbearbeiter für Fälle, bei denen der Familienname des Arbeitsuchenden mit G, H, I, J oder K beginnt, hat sich erholt und tut wieder Dienst, erfährt Bruno.

Gutes Zeichen!

Herr Skorupky ist ein kleiner, blasser Mann. Mit den Nieren hat er es schon seit zehn Jahren. Da gibt es einen Stein. Herr Skorupky ist neunundfünfzig. Den Stein kann man nicht mehr herausoperieren. So erträgt der kleine Mann ergeben die immer wiederkehrenden Koliken, die ihn immer wieder für einige Zeit ans Bett fesseln.

Warm halten muß sich Herr Skorupky, jede Zugluft vermeiden, sehr viel Bärentraubenblättertee trinken, auch im Amt. Nie dürfen die Fenster seines Büros offenstehen. (Zugluft!) Die lange Erkrankung und ihre Behandlung mit den ungeheueren Flüssigkeitsmengen, die der Durchspülung dienen, haben Herrn Skorupkys Blase in Mitleidenschaft gezogen. Nicht arg. Er muß nur häufig ganz schnell mal raus, und das kann er nicht immer im Dienst. Wenn er nicht ganz schnell raus kann, wird Herr Skorupky ein bißchen undicht. Es riecht darum seit Jahren nach Ammoniak in seinem Büro. Alles riecht nach Ammoniak, die Möbel, die Akten, Herr Skorupky.

In eine Wolldecke ist Herr Skorupky heute eingehüllt. Auf dem Schreibtisch steht ein Tablett, darauf erblickt Bruno eine geblümte Stoffhaube über einer Teekanne und eine volle Tasse. Trotz seiner Krankheit ist Herr Skorupky nie bitter und böse, sondern stets geduldig und sanft.

»Ja, Sie waren da, während ich krank war, hörte ich,« sagt er. »Es tut mir leid.«

»Sie brauchen sich doch nicht dafür zu entschuldigen, daß Sie krank waren!«

Der Beamte sieht Bruno verzagt an. Er macht immer einen freundlich-verzagten Eindruck. Aber heute wirkt er besonders verzagt und besonders freundlich. Das ist nun kein gutes Zeichen, denkt Bruno.

»Ich wollte sagen: Es tut mir leid, daß ich Ihnen noch immer nicht weiterhelfen kann«, erklärt Herr Skorupky und trinkt Bärentraubenblättertee. »Ich habe mich so bemüht! Aber die wichtigsten Papiere liegen noch immer fest beim … bei einer anderen Dienststelle.«

»Beim Verfassungsschutz«, sagt Bruno ruhig und hochdeutsch, »ich weiß.«

»Nun, wenn Sie es wissen … ja, da liegen sie.«

»Bei Herrn Schuckert.«

»Bei Herrn Schuckert. Er braucht Sie noch, er braucht die Papiere noch, er kann noch keine Unbedenklichkeitserklärung abgeben, weil Ihr Fall noch nicht abgeschlossen ist. Sagt er immer. Ich weiß ja nicht, was das heißt.«

»Ich schon!«

In diesen Zuständen der Überforderung ist Bruno völlig unberechenbar. Vorüber das große Selbstgefühl, die große Freude, die große Erleichterung. Müde, todmüde ist Bruno nun, ohne Hoffnung, ohne Selbstvertrauen, furchtbar bedrückt. Derartig schnell geht das bei ihm!

In großen Zügen erklärt er dem teeschlürfenden, blassen Herrn Skorupky mit dumpfer Stimme, warum es nicht weitergeht in seinem Fall. Weil alles so kompliziert liegt – abgesehen von dem Fall selbst. Da sind doch noch die Versprechen, da müssen doch noch Vorstrafen gestrichen werden, da gibt es doch noch dieses Belastungsmaterial.

Es ist absolut unverantwortlich, was Bruno da ausschwätzt. Aber so benimmt er sich eben zu gewissen Zeiten. Ein finsterer Winkel zum Verkriechen für ihn und seinesgleichen müßte geschaffen und seine Benützung gestattet werden. Das wird natürlich nie geschehen. Da versteckten sich ja dann täglich Millionen. Wo käme man denn da hin?

Als Bruno endlich fertig ist, zeigt Herr Skorupky sich verzweifelt. »Ach, lieber Herr Knolle, jetzt begreife ich erst richtig! Deshalb also. Ach, ist das alles traurig …«

»Ja, schön ist es nicht.«

»Selbst wenn ich Ihnen endlich eine Arbeit zuweisen darf, dann gewiß nur als Kellner oder Hilfsarbeiter oder so.« Der nierenleidende Herr Skorupky erregt sich, er hat einen ausgeprägten Sinn sowohl für Gerechtigkeit wie für Realitäten. »Das ist ja vielleicht ein Ding!«

Bruno kommt etwas zu sich. Erschrocken: »Das habe ich Ihnen alles im Vertrauen erzählt, Herr Skorupky. In meiner Verzweiflung. Weil ich nicht weiter weiß: Wenn jemand erfährt, daß ich …«

»Herr Knolle, wofür halten Sie mich? Was wir hier unter vier Augen besprechen, erfährt niemals ein anderer Mensch von mir.«

»Danke …«

Der Beamte ist sehr empört: »Die großen Herren! So treiben sie es. Goldene Berge versprechen sie! Ihnen Streichung der Vorstrafen, Kneipe, die Anerkennung als politischer Flüchtling, den Transport in den Westen …«

Herr Skorupky zieht entrüstet die Wolldecke enger.

»Ja, und was bekomme ich? Niseht! Nicht mal Arbeit! Nicht mal einen neuen Ausweis. Ich laufe noch immer mit dem alten aus dem Osten rum!«

Der Beamte seufzt tief. Es duftet auf einmal etwas kräftiger in seinem Büro.

»Ich würde Ihnen so gerne helfen. Aber Sie müßten ganz andere Helfer haben!«

»Der Kriminalrat Prangel …«

»Der hält das Belastungsmaterial zurück. Gut und schön. Wenn er es den Justizbehörden übergeben muß … und das wird er einmal tun müssen … werden die Sie natürlich nie an den Osten ausliefern. Das nicht. Aber sehen Sie: die Leute, die Ihnen die Streichung der Vorstrafen versprochen haben …«

»Warum reden Sie nicht weiter?«

»Herr Knolle, ich bin nur ein Beamter. Ich darf nicht so reden. Wenn das je herauskommt …«

»Glauben Sie, ich werde je ein Wort über diese Unterhaltung erzählen?« Bruno ist sehr ernst geworden. »Nie, Herr Skorupky, nie! Sprechen Sie weiter, bitte! Ich bin so ratlos … und es braucht doch jeder Mensch einen anderen, wenigstens einen, dem er alles erzählen kann, dem er vertrauen darf, der ihn berät! Das muß es doch geben, nicht? Haben Sie noch nie so gedacht?«

»Oft«, antwortet Herr Skorupky leise. Und leise fährt er fort: »Ich vertraue also auf Ihre Verschwiegenheit. Die Leute, sagte ich, die Ihnen die Streichung der Vorstrafen versprochen haben, können eine solche Streichung selber nie vornehmen! Das können nur die Justizbehörden. Und die haben Ihnen gar nichts versprochen. Die lassen sich auch von jenen Leuten nichts vorschreiben …«

Der Ammoniakgeruch verstärkt sich weiter.

»Aber ich habe doch immerhin einen Menschenraub verhindert!« sagt Bruno erregt.

»Das war anständig von Ihnen, Herr Knolle. Es hat nur überhaupt nichts mit den Vorstrafen zu tun. Wir leben in einem Rechtsstaat« (Bruno grunzt etwas), »und in einem Rechtsstaat kann man Vorstrafen nicht einfach mit einem Federstrich tilgen, nur damit eine Schankkonzession erteilt werden darf.«

Bruno, dem nun wieder dauernd die Augen zufallen, knurrt: »Dann sollen sie die Vorstrafen eben nicht tilgen und mir die Konzession so geben!«

»Aber das ist doch unmöglich. Das wäre doch gegen alle Gesetze. Vorbestrafte …«

Da winkt Bruno ab.

»Herr Knolle, Sie sagten, ich sollte weiterreden. Über Gesetze darf man sich nicht einfach hinwegsetzen.«

»Dann hätte man mir auch nicht einfach solche Versprechungen machen dürfen.«

»Nein«, sagt Herr Skorupky, sehr leise. »Das hätte man nicht tun dürfen. Das war … gewissenlos«, sagt er, noch leiser, fast flüsternd.

»Sie sehen meine Lage sehr düster.«

»Danken Sie Gott, wenn man Sie endlich als politischer Flüchtling anerkannt hat! Dann dürfen Sie …«

»Aber ich will doch die Kneipe

»Jeder von uns, Herr Knolle«, sagt Skorupky, »will etwas Großes, Wunderbares im Leben. Jeder jagt einem Traum nach. Glauben Sie, ich habe das nicht getan?«

»Getan?«

»Ich tue es nicht mehr. Man wird bescheiden, Herr Knolle, ganz bescheiden wird man, wenn man ein kleiner Mann ist wie Sie und ich. Beten Sie, daß es wenigstens mit Ihrer Anerkennung nicht mehr allzu lange dauert.«

»Allzu lange?«

»Ach, Herr Knolle! Draußen in Marienfelde und in den Siedlungen dort, da wohnen Familien, die haben keine Vorstrafen und warten seit zwei, drei Jahren darauf, daß sie als politische Flüchtlinge anerkannt werden.«