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Zwei, drei Jahre. Zwei, drei Jahre. Zwei, drei Jahre.

Diese Worte dröhnen in Brunos Schädel, als er Herrn Skorupky verläßt und die breite Treppe zum Ausgang hinabgeht.

Zwei, drei Jahre. Zwei, drei Jahre …

Ihm ist schwindlig, er stolpert, er sieht alles durch Schlieren und Schleier – und so stößt er zuletzt, unten in der Halle, mit einer jungen Frau zusammen, die eben eintritt.

Das bringt ihn wieder zu sich.

Er ringt nach Luft.

Vor ihm steht Mitzi Szapek.

Mitzi Szapek.

Von allen Menschen Berlins muß es die Mitzi Szapek sein.

Er starrt sie an.

Ihr Gesicht ist verquollen von vielem Weinen. So schmal, so klein sieht sie aus.

»Servus, Bruno«, sagt die Mitzi.

»Tach …«

»Hast hier was zum Erledigen ghabt? I muß auch wieder zu meinem Referenten heut.« Sehr, sehr zusammen nimmt sich die arme Mitzi. »Komisch, daß wir uns grad hier noch einmal treffen, net?«.

»Wieso noch einmal? Ick … ick wäre int Lager rausjekomm …«

»Warum?«

»Na, ick muß doch da wohn …«

»Ah, geh«, sagt die Mitzi. »Des is doch a Schmäh. Immer a Schmäh gwesen. Versprich mir, daß du nimmermehr kommst. Nach dem, was gestern war. Du derfst doch in der Stadt wohnen, bei dem Fräulein Pietsch, die was mit mir geredet hat. Alsdern nimmermehr, ja? Bestimmt nimmermehr! I könnt des nämlich net ertragen … seit i alles weiß …«

Menschen eilen vorbei. Draußen hupen Autos, klingeln Fahrräder. Rund um Bruno und Mitzi pulsiert das Leben. Das Leben, das immer weitergeht, was auch geschieht, ob du glücklich bist oder unglücklich, ob dein bester Freund gestorben ist, ob du auf einmal ganz allein bist – immer.

Da stehen zwei, die sind nun ganz allein. Wie auf einer Insel stehen sie da. Und das Leben geht weiter, als existierten sie nicht. So viel Leben. So viele Menschen. So viele Hoffnungen, so viele Sorgen …

»Mitzi«, beginnt Bruno, »ick … ick hab doch det allet jut jemeint …«

»Freilich«, sagt die Mitzi. »Bestimmt.«

»Du vahöhnst ma.«

»Verhöhnen? Nie im Leben! Des glaub i dir ganz sicher. Gelogen hast du und geschwindelt, nur damit i net traurig werd, weil du eine andere lieb hast.«

»Ja, Mitzilein, wirklich!«

»Es is aber danebengangen. Hättest mich halt nie treffen dürfen.«

»Ach, Mitzi, du tust ma so leid …«

»Warum? So is des Leben. Unsere Eltern, wenn die uns gefragt hätten, ob wir auf die Welt kommen wollen, wir hätten nein gsagt, gelt?«

»Die ham uns nich jefracht.«

»Ham ja net können!«

»Ooch wennse hätten können … die ham doch bloß an sich jedacht und ihr Plesir!«

»San mir anders? A jeder denkt immer nur an sich …«

»Det stimmt nich! Wenna liebt …«

»Dann doch erst recht! Denn da will er doch seine Liebe behalten, so wie du deine Nelly.« (Sie weiß nicht, daß Nelly mich hinausgeworfen hat, denkt Bruno. Wozu es ihr noch sagen?) »Und des is auch richtig«, meint die Mitzi, »des is der einzige Weg. Die, die des erkennen, früh genug, ham noch soviel Chancen, hat das Fräulein Pietsch mir gesagt. Recht hat sie! Aber jetzt muß i wirklich zu meinem Referenten. Servus, Bruno. War trotzdem eine schöne Zeit mit dir. Die Zeit, wo du so gelogen hast.«

»Aba ick kann dir doch nich einfach so jehn lassen …«

»Warum denn net? Bist doch froh, daß dich jetzt nimmer kümmern mußt um mich! … Na siehst. I paß schon auf, daß mir nix passiert. Paß auch auf dich auf, Bruno.«

Er nickt.

»Dir soll nie was passieren! Dir net und dem Fräulein Pietsch net … Denn so … wie ihr zwei euch lieb habts … so hab i … hab i … hab i dich immer noch lieb!« Heroisch hat die Mitzi Haltung bewahrt. Nun ist es damit vorbei. Tränenströme brechen bei den letzten Worten aus ihren Augen, laut schluchzend läuft sie die breite Treppe empor und verschwindet.

Bruno steht wie erstarrt. Ein Mann rempelt ihn an. Er bemerkt es nicht. Als wäre er betrunken, so schwankt er auf die Straße hinaus.