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Alle Fenster des Hauses Hasenauerstraße 67 sind hell erleuchtet, alle geöffnet. Menschen schauen heraus. In den Nebenhäusern, in der ganzen Straße ist das so. Fern hört man schon die Sirenen von Überfallkommandos.

»Geht’s los?«

»Krieg?«

»Was war das? Bomben?«

»Quatsch, Bomben! Schüsse! Explosionen!«

»Sage ja, Explosionen!«

»Aber die Mauer steht doch noch!«

»Ja, bei uns! Und woanders?«

»Kommen die Russen?«

»Ach Anton, und ich habe nicht mal zwei Pfund Reis im Haus!«

Kurt Mittenzwey rast vom Dachboden herab, prallt gegen verschreckte Menschen auf den Treppen.

»Wer sind denn Sie

»Was haben Sie da oben gemacht?«

»He, stehenbleiben!« Einer hat sich auf Mittenzwey geworfen.

Der stürzt, reißt den Angreifer mit sich und schlägt ihm die Taschenlampe über den Schädel. Fanzelaus Namenliste steckt in Mittenzweys Tasche. Der Feldstecher ist oben geblieben. Gott sei Dank. So hat er die andere Hand frei. Und er braucht sie, dieser Kerl ist zähe. Sie rollen auf dem Boden hin und her. Mittenzwey schlägt wieder mit der Lampe zu.

»Aua!« brüllt der Wirtschaftsredakteur Egon Heisterberg. Seine Frau und sein Sohn stehen auch auf dem Treppenabsatz. Sie sind alle angezogen, der Monsterstreit heute abend hat noch kein Ende genommen. Blinde Wut packt Heisterberg, als er sieht, daß Margot zufrieden lächelt, als er hört, daß Ulli losmeckert. Statt ihm zu helfen! Jetzt schleichen endlich zwei Männer heran. Mittenzwey erblickt sie auch. Er muß in den Keller! Heisterberg kriegt einen Tritt, daß er sich aufheulend überschlägt, Mittenzwey taumelt hoch, da springen ihn die beiden anderen an.

»Laßt mich los, ihr Idioten! Wir haben einen Tunnel gegraben, da sind zwei Stunden lang Flüchtlinge rübergekommen …« Er ist schon wieder gestürzt.

Die beiden, die eben noch auf ihn eingeschlagen haben, erstarren.

»Guckt’s euch doch an, wenn ihr’s nicht glaubt!« schreit Mittenzwey. Das Hemd hängt ihm aus der Hose, seine Jacke ist zerrissen. Die anderen, auch Heisterberg, sehen ähnlich aus. Mit den beiden Männern rennt Mittenzwey die Treppe hinunter. Ulli folgt.

»Du bleibst hier!« schreit seine Mutter.

Da kann sie lange schreien.

Egon Heisterberg läuft in die Wohnung, zum Telefon, wählt in fliegender Hast die Nummer der Redaktion.

»Wolfgang? Heisterberg! Schick sofort Leute her! Gab eben ’ne wüste Schießerei hier! ’n Tunnel haben sie gegraben … ja doch, von unserem Haus aus! … Weiß ich nicht. Welche Fotografen sind noch da? … Rappert und Schiff? Großartig! Sollen losbrausen! … Ja, gib ihnen Reporter mit …«

Er legt den Hörer hin und sagt laut zu sich selbst: »Wenn wir die Story als erste haben – mit Fotos von Rappert und Schiff –, dann muß der Chef fünfhundert Emm ausspucken für mich!« Und sofort kleinmütig: »Fünfhundert? Mehr als zweihundert nie im Leben. Verdammt, tut mir mein Knie weh!«

Draußen auf dem Flur steht Margot Heisterberg. Allein. Alle sind dem fremden jungen Mann nachgelaufen, diesem Tunnelbauer, der Egon in so dankenswerter Weise verkloppt hat. Der Mann war sicher auf dem Boden, um alles drüben zu beobachten, denkt Margot. Sind doch Luken dort …

Plötzlich wird ihr Blick starr.

Auf dem Flur liegt Egons Brieftasche. Geldstücke liegen da. Sein Feuerzeug. Muß alles bei der Prügelei herausgefallen sein. Margot hebt die Sachen auf.

Was ist denn das?

Eine kleine grüne Lederhülle ist das.

Margot denkt zuerst an einen Taschenkalender.

Dann bemerkt sie, daß die Hülle sich aufschlagen läßt.

Die eine Hälfte dient als Schutz für die andere. In einem Rahmen, unter Cellophan, steckt ein Farbfoto. Als sie das Foto erblickt, schnappt Margot nach Luft. Sie sieht ein Bild der Rothaarigen!

Mit zitternden Fingern zieht sie es aus dem Rahmen. Sie lacht, diese Hure, jung, schön, verführerisch lacht sie. Grüne Augen, weiße Haut, großer Mund, schöne Zähne. Margot bebt. Sie dreht das kleine Foto um. Da steht: B 431/63.

Margot muß sich an die Wand lehnen.

Egons Stimme! Schnell steckt sie den Lederumschlag und das Foto unter ihr Kleid, in den Büstenhalter. Brieftasche, Geld und Feuerzeug läßt sie wieder fallen.

Und hier erscheint Egon schon, dieser Verbrecher, dieser Schuft!

»Was machst denn du?«

»Ich schreie nach Ulli. Der Junge …«

»Muß meine Brieftasche … Da ist sie ja!« Und Egon bückt sich. »Feuerzeug auch … und Geld!«

Margot beobachtet Egon scharf. Der läßt den Blick über den Boden wandern, befühlt seine Taschen, schaut wieder.

»Fehlt was?« fragt Margot harmlos.

»Nein, ich glaube nicht. Liegt ja auch nichts mehr da. Hättest das Zeug auch aufheben können!« sagt Egon Heisterberg und läuft die Treppe hinunter.

»Wo gehst du hin?«

»Kommen gleich welche aus der Redaktion!«

Weg ist er.

Langsam holt Margot wieder das Bild hervor.

Haß glüht in ihren Augen. Da sind keine Tränen!

Du Schwein. Du Lump. Hat sie dir heute geschenkt, wie? Noch keine Zeit gehabt, in deinen Schreibtisch zu sperren. Hättest du doch getan, was? Tust du doch jeden Abend. Was ich nicht sehen soll, kommt in die linke Schreibtischlade. Die hat ein Yale-Schloß. Den Schlüssel trägst du an deiner Armbanduhr, und die nimmst du nie ab, auch nicht im Bett …

Nun hat allerdings Frau Margot Heisterberg an einer Lade ihrer Schminkkommode mit dem dreiteiligen Spiegel auch ein Yale-Schloß anbringen lassen, verwahrt dort Dinge, die Egon nichts angehen, und versteckt den Schlüssel tagsüber in ihrer Kleidung, nachts unter der Matratze ihres Bettes. Sie hat sogar zuerst so ein Schloß anbringen lassen. Aber bloß, weil Egon nicht wissen muß, daß sie ein Sparkassenbuch besitzt und wieviel darauf ist. Zu dem Buch in der Schminkkommoden-Lade haben sich im Laufe der Zeit noch eine Menge anderer Dinge gesellt: Briefe von irgendwelchen Weibern, Kinokarten, Rechnungen für Blumen, über Barbesuche zu zweit, über Essen zu zweit …

Was dir jetzt durch den Kopf geht, möchte ich wissen, denkt Margot und fühlt sich auf einmal wunderbar. Daß du das Bild der Nutte verloren hast, mußt du sofort gemerkt haben. Darum hast du ja so verzweifelt gesucht. Dann bist du runtergelaufen.

›Kommen gleich welche aus der Redaktion‹ – pah! Angst hast du! Überzeugt bist du, daß ich das Bild habe! Ich habe es ja auch. Und jetzt zitterst du: Was wird die Alte sagen?

Gar nichts, mein Lieber, gar nichts wird die Alte sagen. Kein einziges Wort. Sie ist ja nicht dumm, die Alte. Sie hat sofort neben der Kennzahl auch den Geschäftsstempel auf der Rückseite des Bildes gelesen.

FOTO-ROLAND

BERLIN-CHARLOTTENBURG

GROLMANSTRASSE 21

Da wird sie mal hingehen, die Alte.

Nach Charlottenburg.

In die Grolmanstraße 21.

Zu Foto-Roland.